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Dane­ben gibt es aber auch eine Schwä­che, die weit ver­brei­tet ist und eine bestimm­te Art von Büro­kra­tie im tadelns­wer­ten Sin­ne gera­de­zu kenn­zeich­net: Man­cher Beam­te hat eine gro­ße Scheu vor Indi­vi­du­al­ent­schei­dun­gen, die ihn die vol­le Last der Ver­ant­wor­tung spü­ren las­sen, ihm wohl auch zusätz­li­che Arbeit machen und ihn ins­be­son­de­re nöti­gen, eine spe­zi­el­le Begrün­dung zu geben, also bei­spiels­wei­se zu sagen, war­um er den Bau eines Hau­ses mit Flach­dach in einer bestimm­ten Lage ablehnt, obwohl er den Bau eines glei­chen Hau­ses in einem benach­bar­ten Quar­tier geneh­migt hat. Sicher ist es ein­fa­cher, Richt­li­ni­en zu erlas­sen und dann nur noch alle vor­kom­men­den Ein­zel­fäl­le dar­un­ter zu „sub­su­mie­ren“. Die Ent­schei­dun­gen, die so zustan­de­kom­men, sind aber in ihrer Gesamt­heit sehr wahr­schein­lich schlech­ter als ein ent­spre­chen­des Bün­del von Indi­vi­du-alent­schei­dun­gen.
Ich weiß, daß ich damit eines der Kern­pro­ble­me des heu­ti­gen Ver­wal­tungs­han­delns berüh­re. Ich will und kann in die­sen Betrach­tun­gen kei­nen Bei­trag zur Lösung des uralten Kon­flikts zwi­schen den Prin­zi­pi­en der Rechts­si­cher­heit und der Gerech­tig­keit im Ein­zel­fall leis­ten. Fäl­le, die in den wesent­li­chen, d. h. in den für die anzu­wen­den­de Rege­lung rele­van­ten Merk­ma­len gleich sind, müs­sen gleich und dür­fen nicht nach Will­kür ent­schie­den wer­den. Wel­che Merk­ma­le rele­vant sind, läßt sich nicht immer ein­deu­tig aus dem Gesetz able­sen. Eine Indi­vi­du­al­ent­schei­dung darf aber nicht vor­ei­lig mit der Begrün­dung abge­lehnt wer­den, daß bestimm­te for­ma­le Kri­te­ri­en gege­ben sind und die maß­ge­ben­den Rechts­nor­men auf die Grün­de, die der Antrag­stel­ler ins Tref­fen führt, nicht aus­drück­lich abstel­len. Oder, um es anders, viel­leicht ein wenig grob aus­zu­drü­cken: Eine sach­ge­rech­te Lösung darf nicht aus Bequem­lich­keit, aus Scheu vor der Ver­ant­wor­tung, aus Furcht vor dem für die Behör­de ungüns­ti­gen Aus­gang einer gericht­li­chen Nach­prü­fung abge­lehnt wer­den, wenn der zur Ent­schei­dung beru­fe­ne Beam­te die­se Lösung „eigent­lich“ für rich­tig hält und nicht fest­steht, daß sich der Gesetz­ge­ber für eine bestimm­te ande­re Lösung ent­schie­den und dabei in Kauf genom­men hat, daß ein Teil der betrof­fe­nen Fäl­le so nicht am bes­ten gelöst wer­den kann. Ein Beam­ter, auch ein Minis­te­ri­um, soll­te sein Ermes­sen nicht wei­ter bin­den, als es das Gesetz vor­sieht, sofern nicht gewich­ti­ge Grün­de dies gebie­ten. Den Mut zur Dif­fe­ren­zie­rung, zur Unter­schei­dung hal­te ich für ein vor­treff­li­ches Mit­tel zur Bekämp­fung der Büro­kra­tie.
Hel­mut Eng­ler (1926–2015) war Pro­fes­sor für Bür­ger­li­ches Recht an der Frei­bur­ger Rechts­wis­sen­schaft­li­chen Fakul­tät und wur­de 1987 der ers­te Wis­sen­schafts­mi­nis­ter in Baden-Würt­tem­berg.
Hel­mut Eng­ler
Die Scheu vor Individualentscheidungen1
1 Hel­mut Eng­ler, Ver­trau­en und Ver­ant­wor­tung, hrsg vom Minis­te­ri­en für Wis­sen­schaft und Kunst Baden-Würt­tem­berg, 1980,
S. 15 f
Ord­nung der Wis­sen­schaft 2021, ISSN 2197–9197
6 8 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 4 ( 2 0 2 1 ) , 2 6 0 — 2 7 0