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Darf man die Durch­ar­bei­tung und sys­te­ma­ti­sche Erfas­sung eines Mate­ri­als, das von der Gesetz­ge­bung bald so bald anders geformt wird, als Wis­sen­schaft bezeich­nen?
Kann man von Wis­sen­schaft spre­chen, wo kein fest­ste­hen­des For­schungs­ge­biet vor­han­den zu sein scheint, der Gegen­stand der For­schung viel­mehr nach mensch­li­cher Will­kür sich tau­send­fach modelt, in jedem ein­zel­nen Staa­te ein and­rer ist und inner­halb des ein­zel­nen Staats kei­ne Stän­dig­keit besitzt?
[… Inso­fern wur­de] der Rechts­wis­sen­schaft der Cha­rak­ter als eigent­li­che Wis­sen­schaft abge­spro­chen. Mit der Päd­ago­gik, der Tech­no­lo­gie, der Medi­zin u.s.w. ist sie in den Kreis der s.g. prak­ti­schen Wis­sen­schaf­ten oder Kunst­di­sci­pli­nen ver­wie­sen, deren Wesen dar­in beruht, daß sie die Anwen­dung der theo­re­ti­schen Erkennt­nis­se für die prak­ti­sche Gestal­tung der Lebens­ver­hält­nis­se leh­ren, wäh­rend die wah­ren, die theo­re­ti­schen Wis­sen­schaf­ten ledig­lich Erkennt­nis der Welt in ihrem logi­schen und kau­sa­len Zusam­men­han­ge zum Gegen­stand haben. […]
In Par­al­le­le also zu den Natur­ge­set­zen dür­fen wir [die Staats­ge­set­ze] nicht stel­len. Vom Stand­punkt der Gesamt­wis­sen­schaft aus haben sie nicht den Cha­rak­ter von Geset­zen, son­dern den von Erschei­nun­gen an bestimm­ten For­schungs­ob­jek­ten, ent­spre­chend etwa den Lebens­ge­wohn­hei­ten der Thie­re.
Um des­wil­len aber ist die Rechts­ord­nung nichts des­to weni­ger Gegen­stand wah­rer wis­sen­schaft­li­cher For­schung.
Denn Ziel der Wis­sen­schaft ist nicht nur, die Geset­ze der Welt­ord­nung zu ent­de­cken, son­dern auch die Erschei­nun­gen in ihrem Ver­hält­nis zu ein­an­der und ihrem Zusam­men­hang zu ergrün­den. […]
Zu die­sen Erschei­nun­gen gehört die Rechts­ord­nung, so gut wie die Spra­che: gleich der letz­te­ren ist sie in ihren Haupt­zü­gen wenigs­tens nicht rein will­kür­li­che Sat­zung, son­dern das not­hwen­di­ge Pro­dukt geschicht­li­cher Ent­wick­lung. […]
Da nun die Leh­re von der Geis­test­hä­tig­keit des Men­schen einen Theil der Leh­re vom Geis­te des Men­schen, die­se wie­der einen Theil der Leh­re vom Men­schen, die Leh­re vom Men­schen einen Theil der Wis­sen­schaft von der Natur aus­macht, wir fer­ner von der Exis­tenz geis­ti­ger Wesen außer­halb der Kör­per nichts wis­sen: so ergibt sich, daß unser gan­zes Wis­sen Wis­sen von der Natur ist. In die­sem Sin­ne ist alle Wis­sen­schaft Natur­wis­sen­schaft; die Geis­tes­wis­sen­schaft nicht der Natur­wis­sen­schaft koor­di­nirt, son­dern sub­or­di­nirt, selbst ein Teil der Natur­wis­sen­schaft […] wobei ich übri­gens nicht […] behaup­ten will, daß die Kennt­nis jeder all­ge­mei­ne­ren Wis­sen­schaft zur rich­ti­gen Erkennt­nis der spe­zi­el­le­ren nötig wäre, man also z.B. die Phy­sio­lo­gie nicht ordent­lich erfas­sen könn­te, ohne tüch­tig in Astro­no­mie beschla­gen zu sein. […]
Wie stellt sich nun dazu unser aka­de­mi­scher Unter­richt, unse­re Wis­sen­schafts­leh­re an der Uni­ver­si­tät? […]
Wenn die Auf­ga­be der Uni­ver­si­tät dar­in besteht, die für die Pra­xis nöthi­ge wis­sen­schaft­li­che Vor­be­rei­tung zu geben, genügt es dann nicht völ­lig, wenn der juris­ti­sche Stu­dent die Hand­ha­bung der Geset­ze lernt, die er künf­tig anzu­wen­den hat? Wenn er beschla­gen ist im Civil- und Han­dels­recht, im Straf­recht und Pro­zeß­recht?
Wozu neben der Ein­füh­rung in das gel­ten­de Recht noch die Rechts­ge­schich­te? neben dem Pri­vat- und Pro­zeß­recht noch das öffent­li­che und gar das Kir­chen­recht? wozu neben dem neu­en bür­ger­li­chen Gesetz­buch in Zukunft noch römi­sches Recht? wozu all­ge­mei­ne­re Vor­le­sun­gen, wie Recht­sen­cy­klo­pä­die, Volks­wirt­schafts­leh­re und Sozi­al­po­li­tik?
Sind sie nicht mehr oder weni­ger unnüt­zer Bal­last für den künf­ti­gen Rich­ter und Anwalt?
Mit Nich­ten!
Wir wün­schen und ver­lan­gen von unsern Prak­ti­kern, daß sie nicht nur Buch­sta­ben­in­ter­pre­ten des Geset­zes, nicht Skla­ven des Wort­lau­tes sind, sie sol­len das Recht nicht nur aus­le­gen kön­nen, son­dern es beherr­schen. […]
Dazu gehört Kennt­nis des prak­ti­schen Lebens, Ein­sicht in die wirth­schaft­li­chen und sozia­len Ver­hält­nis­se, die unse­re Herrn Com­mi­li­to­nen vor Allem durch schar­fes Beob­ach­ten des Lebens und der Anschau­un­gen ihrer Mit­men­schen, durch ein offe­nes Auge für die That­sa­chen des täg­li­chen Lebens, durch eine auf sol­ches Ziel gerich­te­te Lek­tü­re auch der Zei­tun­gen, durch Unter­re­dun­gen mit Leu­ten der ver­schie­dens­ten Berufs- und GeHein­rich
Otto Leh­mann
Die Sys­te­ma­tik der Wis­sen­schaf­ten
und die Stel­lung der Jurisprudenz1
1 Hein­rich Otto Leh­mann, Rede gehal­ten bei der Ueber­nah­me des Rek­to­ra­tes der Uni­ver­si­tät zu Mar­burg am 17. Okto­ber 1897. Abruf­bar unter http://www.historische-kommission-muenchen-editionen.de/rektoratsreden/pdf/Marburg_1897_Lehmann.pdf. Hier zitiert S. 6 f., 8, 15 f., 25, 26 f., 29, 31. Aus­ge­gra­ben, tran­skri­biert und redi­giert von Han­jo Hamann, Bonn/Berlin.
Ord­nung der Wis­sen­schaft 2021, ISSN 2197–9197
sell­schafts­klas­sen, end­lich auch durch die Vor­le­sun­gen
wirth­schaft­li­chen und sozia­len Inhalts gewin­nen kön­nen.
[…]
Es ist nur ein Seg­ment gewis­ser­ma­ßen aus dem Krei­se
des Rechts, das wir in uns­rer Leh­re dar­le­gen kön­nen;
aber wie der Bota­ni­ker, wenn er eine Pflan­zen­fa­mi­lie,
wie der Che­mi­ker, wenn er eine Kör­per­grup­pe erforscht,
Resul­ta­te zu erzie­len ver­mag, die auf All­ge­mein­gül­tig­keit
Anspruch erhe­ben dür­fen, so ist […] die wis­sen­schaft­li­che
Erkennt­nis des Rechts einer Nati­on im Stan­de,
einen Ein­blick in die Rechts­ord­nung über­haupt und
die Bedin­gun­gen ihrer Fort­bil­dung zu gewäh­ren.
So ist es wah­re Wis­sen­schaft, was wir auf Uni­ver­si­tä­ten
als Juris­pru­denz leh­ren.
Hein­rich Otto Leh­mann (1852–1904) stu­dier­te nach
einer abge­bro­che­nen Apo­the­ker­leh­re Rechts­wis­sen­schaf­ten
in Greifs­wald, Hei­del­berg und Ber­lin. In sei­ner
Geburts­stadt Kiel wur­de er 1877 pro­mo­viert und 1882
mit einer rechts­his­to­ri­schen Arbeit habi­li­tiert. Als
ordent­li­cher Pro­fes­sor zuerst nach Gie­ßen (1888), dann
nach Mar­burg (1889) beru­fen, wur­de er 1897/98 Rek­tor
der Phil­ipps-Uni­ver­si­tät. 1902 noch als Gehei­mer Jus­tiz­rat
aus­ge­zeich­net, erlag er wenig spä­ter einem jahr­zehn­te­lan­gen
Lei­den.