I. Einleitung
II. Darstellung der wesentlichen Gründe der Entscheidung
III. Analyse
- Besonderheiten durch den Charakter als Online-Prüfung
a. Datenschutzrechtliche Aspekte
b. Klausur ohne Beaufsichtigung als Hausarbeit? - Allgemeine prüfungsrechtliche Aspekte
a. Einzelfallgerechtigkeit
b. Wirksames Einverständnis mit von Prüfungsordnung abweichender Durchführung?
IV. Fazit
I. Einleitung
Die Corona-Pandemie hält auch mit Blick auf Entscheidungen zu Online-Prüfungen zunehmend Einzug in die gerichtlichen Entscheidungssammlungen. Nach den vorläufigen Beschlüssen des OVG Schleswig2 und des OVG Münster3 in Normenkontrollverfahren, die beide bereits ausführlich besprochen wurden,4 liegt nunmehr eine weitere Entscheidung zum Thema vom VG Frankfurt/Oder vor. Anders als die beiden vorangegangenen Entscheidungen betrachtet der Beschluss des VG Frankfurt/Oder aber nicht eine Prüfungsordnung an sich, sondern bestimmt, dass im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 80 VwGO die hochschulseitig angeordnete sofortige Vollziehbarkeit aufrechterhalten wird, dem Widerspruch einer Studierenden damit keine aufschiebende Wirkung zukommt.
Nicht nur wegen dieses andersgearteten Settings5 enthält diese Entscheidung einige Besonderheiten, die es wert erscheinen lassen, den Beschluss einer näheren Analyse zu unterziehen. Hierfür wird die Entscheidung zur besseren Nachverfolgbarkeit der Leserschaft zunächst in ihren tragenden sachlichen und rechtlichen Dimensionen dargestellt (II.). Darauf aufbauend lassen sich dann besonders besprechungswürdige Aspekte ausführen (III.). Ein Fazit (IV.) rundet die Darstellung ab.
II. Darstellung der wesentlichen Gründe der Entscheidung
Gegenstand des Beschlusses ist eine Klausurprüfung in Form der elektronischen Prüfung im Pflichtfach „Wirtschaftsinformatik“ im Bachelorstudiengang „Internationale Betriebswirtschaftslehre“ der Hochschule am 26. Februar 2021. Infolge einer schriftlichen Empfehlung der Landesbeauftragten für den Datenschutz unterblieb hierbei eine Prüfungsaufsicht, dafür war die Prüfung unter Zulassung aller sachlichen Hilfsmittel (sog. Open Book Klausur) ausgelegt, allerdings mit dem nach wie vor bestehenden Verbot eines persönlichen Kontakts zu anderen Personen. Eine Identitätskontrolle fand ebenfalls nicht statt. Als sich im Rahmen der Prüfungsbewertung herausstellte, dass von „diversen Studierenden teilweise identische Lösungen“ eingereicht wurden, hob die Hochschule am 15. März 2021 die Prüfung gegenüber den teilnehmenden Studierenden auf, ordnete die Nichtbewertung der Prüfung an und erklärte die Wiederholung für erforderlich. Zugleich ordnete die Hochschule die sofortige Vollziehung der Entscheidung an, ohne diese jedoch zu begründen.
Dagegen wandte sich die Antragstellerin in ihrem Widerspruch vom 23. März 2021 sowie in einem weiteren Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vom 1. April 2021. Darin machte sie geltend, dass sie selbst keine Täuschung begangen habe, die Entscheidung deshalb einer „Sippenhaft“ gleichkomme. Zudem trug sie vor, eine Wiederholung der Prüfung sei ihr unzumutbar, weil sie für die Betreuung ihrer im gleichen Haushalt lebenden Mutter zuständig sei und die Wiederholung einen erneuten LernCarsten
Morgenroth
Wiederholung einer Online-Prüfung bei fehlender Identitätskontrolle und Aufsicht? – Eine Analyse des Beschlusses des VG Frankfurt/Oder vom 11. Mai 2021
1 Az. 1 L 124/21.
2 Beschluss vom 3. März 2021, Az. 3 MR 7/21.
3 Beschluss vom 4. März 2021, Az. 14 B 278/21.NE.
4 Birnbaum, NJW 2021, 1356 ff.; Dieterich, NVwZ 2021, 551 ff.
5 Ebenfalls in einer individuellen Konstellation entschied das VG Gießen am 5. März zum Anspruch auf Durchführung einer Prüfung als Online-Prüfung wegen weiten Anreisewegs, s. Az. 9 L 491/21.GI.
Ordnung der Wissenschaft 2021, ISSN 2197–9197
2 5 2 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 4 ( 2 0 2 1 ) , 2 5 1 — 2 5 6
6 Birnbaum, oben Fußnote 4.
7 Dieterich, oben Fußnote 4.
8 Tendenziell in Richtung einer Unbeachtlichkeit Dieterich, oben
Fußnote 4, S. 516 ff.; differenzierend nach durchführungsnahen
und durchführungsfernen datenschutzrechtlichen Verstößen Morgenroth/
Wieczorek, OdW 2021, 148, 153.
aufwand für sie bedeutete. Zudem setze eine
Präsenzprüfung sie dem Risiko einer Covid-Erkrankung
aus.
Die Vorsitzende des Prüfungsausschusses teilte mit
Schreiben vom 25. März 2021 mit, dass für alle betroffenen
Studierenden die Regelungen über den Freiversuch
nach § 22 Abs. 3 des Landeshochschulgesetzes Brandenburg
anzuwenden sind.
Das Gericht wies den Antrag auf Aussetzung der sofortigen
Vollziehung im Ergebnis ab. Denn es lägen
rechtserhebliche Verfahrensfehler vor, die nach den Regelungen
der Prüfungsordnung zwingend eine Wiederholung
bedingen. Zunächst sei für die Durchführungsart
als Fernprüfung keine Rechtsgrundlage in der Prüfungsordnung
vorhanden. Selbst wenn man diese unterstellte,
lägen mit der fehlenden Identitätskontrolle und
der nicht vorhandenen Beaufsichtigung des zu unterbleibenden
Kontakts zu anderen Personen erhebliche
Verfahrensfehler vor. Deshalb sei das Vorbringen der
Antragstellerin unerheblich, auch könne die Wiederholung
nicht auf die von den vermeintlichen Täuschungen
betroffenen Aufgaben beschränkt, sondern müsse vollständig
durchgeführt werden. Soweit weitere Teile der
Begründung erheblich für die Analyse der Entscheidung
sind, werden diese bei den betreffenden Punkten gesondert
dargestellt.
III. Analyse
Auf den ersten Blick erscheint das Ergebnis einleuchtend.
Mit der nichtvorhandenen Identitätskontrolle und
Beaufsichtigung fehlen gleich zwei Kernbestandteile der
erforderlichen Maßnahmen einer Hochschule, um für
prüfungsrechtliche Chancengleichheit zu sorgen. Mit
der zeitnah angeordneten Neuprüfung für alle Beteiligten
wird zudem eine schnelle und praktikable Lösung
etabliert.
Dennoch enthält die Entscheidungsbegründung Besonderheiten,
die einen näheren Blick als sinnvoll erscheinen
lassen. Diese betreffen sowohl Besonderheiten
gerade infolge der Durchführung als Online-Prüfung
(1.) als auch allgemeine prüfungsrechtliche Aspekte (2.).
Diese sollen deshalb näher beleuchtet werden, in der
Hoffnung, Erkenntnisgewinn und Rechtssicherheit für
Wissenschaft, Forensik und Hochschulpraxis zu
befördern. - Besonderheiten durch den Charakter als Online-Prüfung
Besonderheiten gerade durch den Charakter der Prüfung
als Online-Prüfung sind datenschutzrechtliche
Aspekte (a.) sowie der Bezug des Gerichts auf den Charakter
der Prüfung als Hausarbeit (b.).
a. Datenschutzrechtliche Aspekte
Leider hat das VG Frankfurt/Oder in seiner Entscheidung
datenschutzrechtliche Aspekte ganz ausgelassen.
Das überrascht aus zwei Gründen. Erstens haben sich
die beiden Leitentscheidungen des OVG Schleswig und
des OVG Münster zum Thema trotz jeweils vorläufiger
Entscheidungen mit dem Datenschutz beschäftigt6 und
sogar bereits erste allgemeine Erwägungen abgeleitet.7
Und zweitens hatte im hiesigen Fall eine Empfehlung der
Landesdatenschutzbeauftragten zur Nichtdurchführung
einer Beaufsichtigung geführt – es hätte also durchaus
Grund gegeben, das Datenschutzrecht zumindest flankierend
einzubeziehen.
Konkret hätte sich das Gericht mit der Frage befassen
können, ob das prüfungsrechtliche Gebot, aus Gründen
der Chancengleichheit eine Beaufsichtigung bei Klausuren
einzurichten, zu einer entsprechenden datenschutzrechtlichen
Verpflichtung führt, entsprechende Beaufsichtigungsdaten
auch zu verarbeiten. In diesem Kontext
könnte dann interessant sein, welchen Charakter das Gericht
der Empfehlung der Landesdatenschutzbeauftragten
beigemessen hätte. Gegebenenfalls hätte ein datenschutzrechtlicher
Verstoß dann nicht in einem Übermaß
an Datenverarbeitung, sondern umgekehrt in dessen
Unterlassen liegen können. Diese Thematik hätte dann
durch die Frage abgerundet werden können, inwieweit
datenschutzrechtliche Verstöße geeignet sind, in beachtlicher
Weise, § 46 LVwVfG, auf das Prüfungsverfahren
einzuwirken.8
b. Klausur ohne Beaufsichtigung als Hausarbeit?
Das VG Frankfurt/Oder erwähnt im Rahmen seiner
Argumentation zur Erforderlichkeit einer Beaufsichtigung
bei Klausuren abrundend, die Prüfung trüge dann
Morgenroth · Wiederholung einer Online-Prüfung 2 5 3
9 BVerwG, Beschluss vom 25.04.1996, Az. 6 B 49/95.
10 Dieser Begriff wird von Morgenroth, OdW 2021, 117, 123 ff. abgeleitet
und vorgeschlagen, in der Praxis auch als „Prüfungsform“
bekannt.
11 Allgemein zu Erwägungen der Typenbildung von Prüfungen gerade
vor dem Hintergrund der Entwicklungen infolge des Corona-
Rechts Morgenroth, OdW 2021, 117, 122 ff.
12 OVG Schleswig, oben Fußnote 2, Rn.50.
13 Morgenroth, Hochschulstudienrecht und Hochschulprüfungsrecht, - Auflage, 2021, Rn. 360.
14 BVerfGE 13, 97 ff. – Handwerksrolle.
15 S. hierzu Morgenroth/Wieczorek, oben Fußnote 8, S. 149.
(ohne Beaufsichtigung) den Charakter einer Hausarbeit.
Diese Einlassung wirft ebenfalls eine Reihe ungeklärter
Fragen auf.
Zunächst wäre zu überprüfen, ob es diesbezügliche
Regelungen in der Prüfungsordnung gegeben hat, weil
mit Blick auf die Gestaltung des Prüfungsverfahrens die
Prüfungsordnung Vorrang vor allgemeinen Erwägungen
hat.9
Ist dies nicht der Fall, so fragt sich systematisch, ob
dies zwingend der Fall sein muss. Dann das würde nichts
Anderes bedeuten, als dass die Hausarbeit negativ definiert
würde als Klausur ohne Beaufsichtigung, ohne
Rücksicht auf weitere Aspekte. Rein rechtsmethodisch
scheint dies bereits vor dem Hintergrund zweifelhaft zu
sein, als dies eine abschließende Dualität der Unterfallgruppenbildung
im Prüfungstyp10 „schriftliche Prüfung“
suggerieren würde, etwa im Sinne eines „was von den
schriftlichen Prüfungen nicht Klausur ist, ist Hausarbeit“.
Dem Gestaltungsermessen der Hochschule, Prüfungstypen
wie die schriftliche Prüfung mit Unterformen, sog.
Prüfungsarten, auszugestalten, sind jedoch keine Grenzen
gesetzt. Es sind neben Klausur und Hausarbeit viele
weitere Arten der schriftlichen Prüfung denkbar, welche
diese gedankliche Dualität von Klausur und Hausarbeit
unterbrechen und eine andere, positive Form der Typenbildung
bzw. Definitionsfindung auch für die Hausarbeit
erforderlich werden lassen.11
Diese positive Abgrenzung lässt sich sinnvollerweise
nach den abzuprüfenden Lernzielen erreichen.12 Andere
Lernziele oder ähnliche Lernziele in einer anderen Intensitätsstufe
erfassen zu können als mit einer Klausur,
ist Ausdruck effektiv umgesetzter Freiheit der Lehre
nach Art. 5 Abs. 3 GG. Denn da eine Prüfung Mittel zum
Zweck ist, eingelegte Kompetenzen bewertend zu erfassen,
13 ist es sinnvoll, eher ein breites Spektrum an Prüfungsarten
vorzuhalten als eine enge Bandbreite einzurichten,
um in der zugrunde liegenden Lehrveranstaltung
möglichst viele Lernziele und in möglichst umfassender
Form einlegen zu können. Neben der
Verantwortung der Hochschule für ein funktionierendes
Wissenschaftssystem, zu dem Lehre und Prüfung zählen,
ist es deshalb auch ein Gebot effektiver Grundrechtsdurchsetzung
der Lehrfreiheit des Lehrenden, Prüfungsarten
breit aufzustellen, um alle Möglichkeiten für die
Lehre vorzuhalten. Dem aus Art. 12 GG folgenden Gebot,
die Studierenden hinreichend auf die mit dem verfolgten
berufsqualifizierenden Abschluss verbundenen
typischen Berufsbilder vorzubereiten,14 wird dadurch
ebenfalls Rechnung getragen.
Schließlich ist es auch prüfungsdidaktisch vorzugswürdig,
eine Hausarbeit hinsichtlich der erfassten Lernziele
andersartig einzurichten als eine Klausur. Ein möglichst
passgenaues kompetenzielles Streamlining von
Lehrveranstaltung und zugehöriger Prüfung, sog. Constructive
Alignment,15 ist neben den soeben beschriebenen
verfassungsrechtlichen Implikationen auch didaktisch
ein Qualitätskriterium.
Diese Aspekte sind selbstverständlich auch in Prüfungen
relevant, die nicht als Online-Prüfung durchgeführt
werden. Da dem hiesigen Fall aber eine für Online-
Prüfungen typische Durchführungsart der Open Book
Klausur gewählt wurde und diese Frage erkennbar erst
während der Corona-Pandemie aufkam, sollen sie hier
als Besonderheit des Corona-Prüfungsrechts behandelt
werden. - Allgemeine prüfungsrechtliche Aspekte
Aus der Entscheidung erwachsende allgemeine prüfungsrechtliche
Fragestellungen sind die von der Antragstellerin
angemahnte Einzelfallgerechtigkeit (a.) und die
Thematik, ob im Wege eines Einverständnisses von den
Vorgaben der Prüfungsordnung abgewichen werden
kann (b.).
a. Einzelfallgerechtigkeit
Die Antragstellerin hatte zur Begründung ihres Widerspruchs
unter Anderem vorgebracht, sie habe die Prüfung
regelkonform durchgeführt. Die aufgetretenen
Unregelmäßigkeiten beträfen sie nicht. Deshalb widerspreche
die Annullierung ihrer Prüfungsleistung dem
Grundsatz der Einzelfallgerechtigkeit. Das Gericht führt
in seiner Entscheidung dazu aus, „mangels Aufsicht sei
nicht gewährleistet, dass die Fernklausur überhaupt durch
die hierfür angemeldeten Studierenden in Person abgeleistet
wurde, geschweige denn, dass den jeweiligen Prüfungsleistungen
keine verdeckte Gruppenarbeit zugrunde liegt
(vgl. § 16 Abs. 3 ASPO)“ und „[a]ngesichts des Vorstehenden
bedarf es im Hinblick auf die Mangelhaftigkeit des
Prüfungsverfahrens keines näheren Eingehens auf die von
der Antragsgegnerin zur Begründung der Annullierung
2 5 4 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 4 ( 2 0 2 1 ) , 2 5 1 — 2 5 6
16 BVerwG NJW 2002, 2225 f.
17 BVerfGE 35, 382, 402.
18 Für schriftliche Prüfungen BVerwG, Beschl. V. 20.02.1984, Az. 7 B
109/83; für mündliche Prüfungen OVG Rheinland-Pfalz NVwZRR
2012, 476 ff.
der Prüfungsleistung der Antragstellerin vorgebrachten
Unregelmäßigkeiten… Es ist dabei unerheblich, wenn ein
Verfahrensmangel – wie hier – im Verantwortungsbereich
der Prüfungsbehörde liegt, wenn es um die Wahrung der
Chancengleichheit der Prüflinge insgesamt geht (vgl. Niehues/
Fischer/Jeremias, a. a. O., 487, 501). Der Mangel der
fehlenden Aufsicht betrifft die Prüfung insgesamt, sodass
eine nur teilweise Wiederholung einzelner Prüfungsaufgaben
als gebotene ‚schonende Fehlerbeseitigung‘ nicht in
Betracht kommt.“ Diese Darstellung des Gerichts wirft
sowohl inhaltlich als auch mit Bezug auf die Begründung
einige Fragen auf.
Inhaltlich hat sich das Gericht mit der Frage der Einzelfallgerechtigkeit
erkennbar gar nicht auseinandergesetzt.
Dabei ist zunächst festzuhalten, dass das Gericht
dies nicht an einer fehlenden Glaubhaftmachung rechtmäßigen
Handelns der Antragstellerin scheitern ließ,
selbst deshalb also offenbar hinreichend davon überzeugt
war, dass die Antragstellerin die Chancengleichheit
der anderen Prüflinge nicht verletzt hat. Damit kann
das Gericht diesen Umstand nur für nicht aufklärungsbedürftig
gehalten haben. Im Rahmen der summarischen
Prüfung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren
hängt es stark von den Umständen des Einzelfalls, insbesondere
von Komplexität, Eilerfordernissen und Schwere
der Belastung für den Antragsteller, ab, ob und gegebenenfalls
inwieweit ein vollständige oder eine summarische
Prüfung durchgeführt wird.16 Dem Rechtsschutzinteresse
eines Antragstellers, also der Aufklärungspflicht
zu seinen Gunsten, ist dabei umso mehr Gewicht beizumessen,
je schwerer die ihm auferlegte Belastung wiegt.17
Hierbei ist zugunsten der Hochschule sicherlich zu berücksichtigen,
dass eine Wiederholung der Klausur bereits
im April, also ca. 6 bis 7 Wochen nach der Ausgangsprüfung,
eine angesichts vielfältiger anderer Aufgaben
sehr schnelle Aufarbeitung der Thematik darstellt
und den Studierenden bestmöglich entgegenkommt.
Dennoch stellt sich die Frage, ob nach den Erkenntnissen
zur Vergessenskurve insbesondere von Detailwissen
auch angesichts der relativ kurzen verstrichenen Zeit
eine erneute umfangreiche, möglicherweise sogar vollständig
neue Prüfungsvorbereitung erforderlich wird.
Im Zusammenspiel mit der ebenfalls geltend gemachten
und gerichtlich offenbar akzeptierten Zusatzbelastung
der Antragstellerin durch die Betreuung von Familienmitgliedern
lässt sich mit guten Gründen fragen, ob das
Gericht auf diesen Umstand stärker hätte eingehen können
bzw. müssen.
Unterstützend wirken die Grundsätze des sog. Beweis
des ersten Anscheins. Im Bereich von Hochschulprüfungen
wird der Anscheinsbeweis bislang für die
Verbindung einer starken Übereinstimmung einer Musterlösung
mit den Antworten der Prüflinge und einer
damit zusammenhängenden Täuschung angewendet.18
Selbst beweiserleichternde Instrumente wie der Anscheinsbeweis
wirken damit aber lediglich individuell,
nicht aber kollektiv. Von der tatsächlichen Grundlage
„diverser gleichlautender Ergebnisse“ ließe sich auch im
Wege des Anscheinsbeweises nicht schließen, dass alle
Beteiligten, hier auch die Antragstellerin, getäuscht hätten.
Die Antragstellerin war nach dem bekannten Sachverhalt
nicht von den „diversen gleichlautenden Sachverhalten“
betroffen. Dies ist ein Grund mehr, bei ihr etwas
näher hinzuschauen. Ob das Gericht angesichts der Umstände
verpflichtet gewesen wäre, der Antragstellerin
eine individuelle Täuschung nachzuweisen, kann offen
bleiben. Jedenfalls ist die Befassung mit diesen Fragen
leider unterblieben.
Auch der Hinweis des Gerichts auf die Fundstelle im
Standardwerk zum Prüfungsrecht Niehues/ Fischer/ Jeremias
greift im Kontext dieses Falles möglicherweise etwas
zu kurz. Denn dort wurde an der zitierten Stelle (Rn.
501) als Beispielfall für einen den Prüfling begünstigenden,
dennoch erheblichen Verfahrensfehler die versehentliche
Ausgabe von Lösungen beschrieben, welche
die Prüfung zu einer reinen Abschreibleistung werden
lassen. Da dies dann offenbar für alle Prüflinge der Fall
ist, liegt nahe, dass sich tatsächlich auch alle Prüflinge
dieser Hilfe bedient und getäuscht haben. Im hiesigen
Fall liegen aber keine tatsächlichen Anhaltspunkte vor,
die eine Täuschung der Antragstellerin nahelegen. Insbesondere
scheint sie auch bei den „diversen gleichlautenden
Ergebnissen“ nicht dabei zu sein. Unterstützt wird
dieser Gedankengang durch eine Passage gleich auf Rn.
502 des Lehrbuchs von Niehues/ Fischer/ Jeremias, die
lautet: „Ist dagegen eine sachgerechte Prüfung trotz des gestörten
Prüfungsverlaufs objektiv möglich, so kann es dem
Prüfling nicht verwehrt werden, auf eine Rüge zu verzichMorgenroth
· Wiederholung einer Online-Prüfung 2 5 5
19 Fischer/ Dieterich, NVwZ 2020, 657, 661.
20 Insbesondere wegen des gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren
Bewertungsspielraums des Prüfers lässt sich bisweilen die
gegenläufige Tendenz beobachten, dass Entscheidungen oft auf
diffizilen Verfahrensfragen beruhen.
21 Beispielsweise am 15. Januar 2021 anlässlich eines Webinars des
Vereins für deutsches und europäisches Wissenschaftsrecht, an
dem der Autor teilgenommen hat.
22 S. etwa die Corona-Epidemie-Hochschulverordnung des Landes
Nordrhein-Westfalen vom 17.04.2020 (GVBl. S. 297).
23 Beispielsweise das Thüringer Hochschul-Pandemie-Gesetz (Thür-
CorPanG), zuletzt geändert am 23.03.2021 (GVBl. S. 115).
24 So sah die Regelung in NRW Beschlüsse des Rektorats anstelle
von Satzungen vor. Die Sondersatzungen nach dem ThürCorPanG
konnten ohne Genehmigung des Ministeriums von den Hochschulen
allein behandelt werden.
ten, so dass die Prüfung mit der Bewertung der erbrachten
Leistungen seinen gewöhnlichen Fortgang nimmt.“ Ist es
angesichts des Umstands, dass die Antragstellerin offenbar
keine gleichlautenden Ergebnisse abgegeben hat,
wirklich von Vornherein ausgeschlossen, dass eine sachgerechte
Bewertung ihrer Prüfung möglich war? Auch
hier sei die Beantwortung dieser Frage der geschätzten
Leserschaft überlassen. Wenigstens die Fragestellung ist
allerdings nicht so fernliegend, als dass man sie guten
Gewissens vollständig ignorieren sollte, wenn nicht besondere
Umstände der Eilbedürftigkeit, die hier nicht
dargelegt wurden, eine verkürzte Prüfungstiefe
rechtfertigen.
Hinzu kommen diverse offene Fragen im Hinblick
auf die Begründung der Entscheidung. So benennt das
Gericht zunächst den entscheidungserheblichen Verfahrensverstoß
(„mangels Aufsicht“), unterzieht ihn aber
keiner Bewertung hinsichtlich dessen Erheblichkeit oder
Intensität. Damit ist weder inhaltlich schlüssig noch aus
der Begründung ersichtlich, ob das Gericht gerade wegen
einer besonderen Schwere des Verfahrensverstoßes
auf eine Prüfung der individuellen Täuschung der Antragstellerin
verzichtet hat. Außerdem suggeriert die Begründung,
dass neben einer ggf. vorliegenden besonderen
Schwere des Verstoßes auch Erwägungen der Verwaltungseffizienz
entscheidungsleitend gewesen sind –
immerhin hatte die Hochschule geplant, die Neuprüfung
möglichst schnell danach wieder durchzuführen. Überlegungen
der Verwaltungseffizienz sind allerdings ebenfalls
nicht in der Begründung enthalten. Schließlich
weist das Gericht darauf hin, die entscheidungserhebliche
Norm in der Prüfungsordnung gewähre kein Ermessen,
um dann wenige Sätze später aufzuzeigen, die Belegung
gerade auch der Antragstellerin mit der Pflicht zur
Wiederholung der Prüfung sei nicht
ermessensfehlerhaft.
b. Wirksames Einverständnis mit von Prüfungsordnung
abweichender Durchführung?
Das VG Frankfurt/Oder deutet an, dass eine von der Prüfungsordnung
abweichende Durchführung der Prüfung
rechtskonform sein kann, wenn ein wirksames Einverständnis
aller Prüfling vorliegt (Rn. 28). Damit übernimmt
es eine Argumentationslinie der renommierten
Richterkollegen im Prüfungsrecht Fischer und Dieterich.
19 Dies ist ein für die Hochschulpraxis prinzipiell
begrüßenswertes Signal, dass die Richterschaft gerade in
Verfahrensfragen auch Flexibilität fördert und eine
gewisse Praktikabilität der Handhabe akzeptiert.20
Nicht als Gegenrede, sondern ausschließlich zur Relativierung
dessen seien dennoch einige Gedanken angeführt.
Zunächst hat Autor Fischer diesen Ansatz selbst in
diversen Webinaren der vergangenen Monate zum Recht
der Online-Prüfungen in der Corona-Zeit als innerhalb
der Richterschaft umstritten dargestellt.21 Es sei also der
Eindruck vermieden, es handele sich um eine gefestigte
Praxis, unabhängig davon, wie man deren Richtigkeit
bewertet. Außerdem scheint der Rückgriff auf eine derartige
Struktur individueller Willensbildung anstelle von
gesetzlicher Geltung gerade für die Corona-Sonderzeit
nicht erforderlich. Denn es hat erkennbar flächendeckend
Sonderregelungen staatlichen Rechts, insbesondere
in Corona-Schutzverordnungen der Länder22 oder
sogar Corona-Sondergesetzen23 gegeben, die es den
Hochschulen ermöglicht haben, ihre Regelungen zu
Prüfungen schnell und effektiv24 anzupassen. Dies suggeriert
zweierlei: Erstens war diese Verfahrensflexibilisierung
bereits während der Corona-Zeit zwar willkommen,
aber nicht erforderlich. Und zweitens lässt sich deshalb
mit guten Gründen fragen, ob und gegebenenfalls
inwieweit derartige Strukturen nach Sondersituationen
wie der Corona-Pandemie noch gebraucht werden. Auch
hier möge sich jede Leserin bzw. jeder Leser eine eigene
Meinung bilden, auf der Grundlage der für sie bzw. ihn
jeweils geltenden Rahmenbedingungen. Schließlich sei
auch vor einer überschießenden Akzeptanz dieser Flexibilisierung
gewarnt. Es besteht eine in einigem Ausmaß
verbreitete Praxis an den Hochschulen, dass Studierende
unter mehreren Prüfungsordnungen, die für einen Studiengang
parallel gelten, etwa in der Form verschiedener
Studien- bzw. Prüfungspläne für verschiedene Matrikel,
eine ihnen genehme Ordnung durch „Einschreibung“ in
diese wählen können. Dies ist nicht nur ein tendenzieller
Verstoß gegen den in der jeweiligen Satzung beschriebenen
personellen Geltungsbereich, sondern stellt die gesetzliche
Struktur der abstrakt-generellen Geltung einer
Prüfungssatzung als Gesetz im materiellen Sinne ernsthaft
in Frage. Ein Einverständnis in bestimmte Prü2
5 6 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 4 ( 2 0 2 1 ) , 2 5 1 — 2 5 6
fungsabläufe praeter legem könnte diesen Praxi und
Strukturen tendenziell Vorschub leisten – auch hier wieder
sei die Leserschaft eingeladen, die Folgen für Ihre jeweiligen
Häuser selbst abzuschätzen.
IV. Fazit
Das VG Frankfurt/Oder hat mit dieser Entscheidung
Neuland betreten und einen wertvollen Beitrag zur
Erfassung der prüfungsrechtlichen Situation für Online-
Prüfungen geleistet. Dafür sowie für die fundierte Aufarbeitung
der relevanten Themen gebührt ihm Respekt
und Dank. Gerade, weil es sich bei Online-Prüfungen
für viele Hochschulen um eine unbekannte Thematik
handelt und Erfahrungswerte weitgehend fehlen, sei
jedoch angeregt, die Prüfungstiefe auch im vorläufigen
Rechtsschutz – bei allem Verständnis für Coronabedingten
Zusatzaufwand und Eilbedürftigkeit – nicht
zu gering anzusetzen und Begründungen von Entscheidungen
ausführlich und konsistent abzubilden. Dies
wäre eine große Hilfestellung für die Hochschulpraxis,
die sich stark an Entscheidungen wie der vorliegenden
orientiert.
Dr. iur. Carsten Morgenroth ist Justiziar und Vertreter
des Kanzlers an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena. Er ist
Referent und Fachautor zum Prüfungsrecht sowie Autor
des Kurzlehrbuchs zum Hochschulstudienrecht und
Hochschulprüfungsrecht. Der Beitrag gibt seine persönliche
Auffassung wieder.