(Erste Berufung nach Halle)
Als ich mich bei dem Einfall der Schweden in Sachsen nach Giessen begab, so wurde mir daselbst insonderheit viele Höflichkeit erwiesen. … (Da) die Ausfertigung der Bestallung (Ernennung an der Universität Giessen) nicht sogleich geschehen konnte, (entschloss ich mich), erst eine Reise in mein Vaterland zu tun und von den meinigen, von denen ich so weit entfernet sein sollte, Abschied zu nehmen. … Weil ich aber nicht wusste, wie die Sachen in Sachsen stünden und ob man durch dieses Land sicher reisen könnte, so nahm ich meinen Weg über Cassel nach Halle, daselbst besuchte ich den Herrn Geheimrat Stryck2, welcher mich fragte, ob ich nicht daselbst verbleiben wollte. Ich sagte, dass ich die Vocation (den Ruf) nach Giessen zur Professione Matheseos (Lehrstuhl für Mathematik) hätte, auch dorthin zu gehen resoluiret (entschieden) wäre. Er antwortete, ich könnte dieses auch in Halle haben, weil ihnen noch ein Professor Matheseos fehlete. Weil ich nun ohnedem (den Prorektor) besuchen wollte, so ging ich zu ihm und da er nur meinen Namen hörte, sagte er gleich von freien Stücken, es wäre ihm lieb, dass ich zu ihnen käme. Er wäre längst besorgt gewesen, wie die Universität einen Professorem Matheseos haben möchte. Als ich erwiederte, ich wäre bereits engagiret, indem ich die Vocation zu Profes. Mathes. hätte, mich auch erkläret, dieselbe anzunehmen, vermeinte er, es wäre besser, in Halle zu bleiben, als dorthin zu gehen, weil ich hier mehr tun könnte als dort. Und da ich eben von dem H. von Leibnitz und H. Bernoulli Briefe erhalten hatte und ihm dieselbe zeigte, schrieb er sogleich an den H. von Leibnitz, eröffnete ihm sein Vorhaben und verlangte, er möchte mich an den H. von Danckelmann, welcher Minister Ober Curator der Königl. Universitäten war, recommendiren. Dieser tat es auch gleich und er schrieb deswegen auch selbst an den H.v. Danckelmann. Und weil ich eben über Berlin gehen wollte, ehe ich nach Breslau reiste, so reiste ich nach Berlin hinunter, woselbst ich seiner Excell. auch selbst meine Aufwartung machte, der mich sehr gnädig empfingen, die Sache dem König vortrugen und die Bestallung zum Professore Matheseos auswürckten, mir auch selbst anrieten, lieber nach Halle als nach Giessen zu gehen. Also nahm ich diesen Ruf (1706) an und schrieb die Vocation (den Ruf) nach Giessen ab.
(Christian Wolffs Jahre in Halle endeten 1726 abrupt. Als er die Ethik des Konfuzius positiv wertete und an die Seite der christlichen Ethik stellte, warfen ihm seine theologischen Kollegen Atheismus vor. Auf Weisung von König Friedrich Wilhelm I. musste er binnen 48 Stunden Halle verlassen. Sehr detailliert schildert er seine Rückberufung nach Halle:)
Hieher gehöret nun auch die neue Wiederberufung nach Halle (im Jahr 1740) …. Daher resoluirte (entschloss) ich mich, den andern Teil von der Philosophia practica Universali Seiner Königlichen Majestät (Friedrich Wilhelm I., 1688 – 1740) zu dediciren, darinnen ich alles referirte, was von meinen Gegnern vor erdichtet ausgegeben ward. Diese Dedication übersetzte ich selbst in das deutsche und legte sie zu dem Schreiben bei, welches ich nebst dem Buche übersandte und mit Fleiss durch einen andern überreichen liess. Der König von Preussen nahm dieses sehr gnädig auf, antwortete mir auch in sehr gnädigen terminis und offerirte, mir von neuem, dass ich wieder in seine Lande kommen und die conditiones selbst vorschlagen sollte, auf welche ich wiederkommen wollte. Ich bedankte mich vor diese Gnade, schrieb, dass ich so wohl in Hessen stünde, dass ich nicht Ursache hätte, an eine Aenderung zu denken, man auch in Cassel mich nicht gerne dimittiren würde. Der König offerirte mir nach diesem, dass ich sollte Director von der Universität Franckfurt werden und liess mir frei, die Besoldung selbst zu determiniren: Als ich dieses deprecirte (ablehnte), offerirte mir Seine Königliche Majestät das Vice-Cancellariat in Halle, ich deprecirte aber auch dieses, weil ich mich nicht unterstünde, um meine dimission anzuhalten, da ich dem Hause Hessen so vielen Dank schuldig wäre. …
Weil nun der erste Theil des Juris Naturae (zur) Oster-Messe 1740 herauskam, dedicirte ich denselben an den damaligen Cron Printzen in Preussen, nunmehro reChristian
Wolff
Berufung, Rückberufung und Ankunft an der Universität Halle 1
1 Christian Wolff (1679 – 1754) gehört zu den wichtigsten Philosophen der Aufklärung. Der folgende Text aus Christian Wolff, Selbstschilderung, nach dem Original in der Milich‘schen Bibliothek in Görlitz mitgeteilt von H. Wuttke 1841, in: Deutsche Lehr- und Wanderjahre, Selbstschilderungen berühmter Männer und Frauen, Band II, 1874, S. 309 ff., 325 ff. ist gekürzt, sprachlich geglättet und kursiv in Klammerzusätzen bisweilen erläutert.
2 Johann Samuel Stryk (1668 – 1715), Professor der Rechte in Halle.
Ordnung der Wissenschaft 2022, ISSN 2197–9197
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gierenden König (Friedrich der Große, 1712 — 1786), weil
ich wusste, dass Seine Königliche Hoheit ein grosses Vergnügen
an meiner Philosophie fanden und meine deutschen
Schriften mit vieler application lasen, ja die Methaphysick
sich auch ins französische hatte übersetzen
lassen, als von welcher Sprache Sie ein ungemeiner Liebhaber
sind. Sie nahmen dieses sehr gnädig auf und ich
bekam bei dieser Gelegenheit aus Dero eigenhändigen
Französischen Schreiben zu erfahren, wie viel sie auf
meine Art zu philosophiren und überhaupt auf gründliche
Wissenschaften hielten. Als nun bald darauf Dero
Vater Todes verblichen war, liessen Seine Majestät gleich
des andern Tages ihrer angetretenen Regierung an mich
schreiben, ob ich in Dero Dienste treten wollte, und versprachen
mir alle conditiones einzuwilligen, die ich nur
verlangen würde. Als ich meine alleruntertänigste Hochachtung
der Königl. Gnade in Antwort bezeigte, und
mich entschuldigte, dass es sich nicht gezieme, Seiner
Königlichen Majestät vorzuschreiben, beliebten dieselben
sich näher zu erklären, dass sie mich nach Berlin
verlangten und mir nebst dem Charakter Dero geheimen
Rathes unterdessen 2000 Rthlr. Pension geben wollten,
davor ich nichts zu tun hätte, … befahlen auch dem
H. Probst Reinbeck, dass er das äusserste anwendete, um
mich zu bereden, diese offerte zu acceptiren, welcher
auch seines Ortes nichts unterliess, was dazu dienlich
konnte erachtet werden. Als ich aber nach Berlin zu gehen
mich nicht resoluiren konnte, sondern mich damit
entschuldigte, dass ich zur Universität geboren wäre und
darauf mein Leben endigen wollte, so verlangte Seine
Königliche Majestät, dass ich nach Halle käme und daselbst
die Professionem Juris naturae et gentium, wie auch
Matheseos übernähme, wobei sie mir zugleich das Praedicat
des Geheimen Rathes, das Vice-Cancellariat und
2000 Rthl. Besoldung offerirten, da vor diesem bei hiesiger
Universität bloss der geheime Rath Stryck, Facultatis
Juridicae Praeses, 1200 Rthl. Besoldung gehabt, welches
überall als etwas besonders angesehen ward.
Ich war nicht lange (in Halle), da Seine Königliche
Majestät allergnädigst mir auftrugen, nebst einigen
Herrn Ministris mit vor die Besetzung der erledigten
Stellen auf allen Dero Universitäten zu sorgen. Daher es
geschehen, dass man in dem neuen zu Berlin gedruckten
Titular-Buche mir den Titul eines Curatoris Universitatum
regiarum (Kurator der Königlichen Universitäten)
beigeleget, den ich aus Bescheidenheit niemahlen annehmen
wollen. ….
(Ankunft in Halle)
(Ich) trat endlich am Andreastage meine Reise von
Marburg an und kam den 6. Dec. (1740) gegen Abend in
Halle an. Es waren hier eine grosse Menge der studiosorum
hinausgeritten, um mich einzuholen mit sechs blasenden
Postillionen vor sich und einige gute Freunde
von mir gleichfalls entgegen gefahren. Auf den nächsten
Dörfern war eine grosse Anzahl von hiesigen Einwohnern,
die auf meine Ankunft warteten. Vor und in der
Stadt, auf den Strassen und dem Markte war ein grosser
Zulauf des Volkes und ich hielt also unter lauten Jubel-
Geschrei meinen Einzug. Auf der Strasse, wo ich einkehrte
in des seeligen Thomasii3 Haus, welches ich gemietet
hatte, waren in dem Hause gegenüber Trompeten
und Pauken, die sich hören liessen, sobald der Zug in die
Gasse kam und war ein solcher Zulauf des Volkes, dass
(man) kaum vom Wagen steigen und unter dem Gedränge
selbst im Hause in ein Zimmer kommen konnte.
Ich liess also meine Ankunft noch diesen Abend bei den
Vornehmen in der Stadt und denen Herren Professoribus
melden, welche mir den folgenden Tag darauf ihren Besuch
abstatteten und bewillkommten. …
3 Christian Thomasius (1655 – 1728)
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