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I. Ein­lei­tung

Im Heft 01/23 der OdW befass­te sich Tizia­na Chi­usi mit „The­men und Per­spek­ti­ven der juris­ti­schen Aus­bil­dung“. Dabei the­ma­ti­sier­te sie unter der Über­schrift „Digi­ta­li- sie­rung in der Leh­re“ auch den Com­pu­ter­ein­satz in der staat­li­chen Pflicht­fach­prü­fung. Wenn­gleich sie ein­gangs auf die bun­des­recht­li­che Ermäch­ti­gung zur sog. E‑Klau- sur durch § 5d Abs. 6 Satz 2 DRiG1 hin­weist, steht sie die- ser Ent­wick­lung doch skep­tisch gegen­über. Nach ihrer Auf­fas­sung ste­hen dem

„prak­ti­schen Nut­zen (etwa bes­se­re Les­bar­keit der Klau­su­ren, Ein­fach­heit und Sicher­heit der Über­mitt- lung der Klau­su­ren an die Lan­des­prü­fungs­äm­ter, Um- gang mit elek­tro­ni­schen Medi­en), … die tech­ni­schen und öko­no­mi­schen Her­aus­for­de­run­gen sowie die mög- lichen Kon­se­quen­zen für die Denk­struk­tu­ren der Stu- die­ren­den beim Ver­zicht auf hand­ge­schrie­be­ne Klau- suren und Lösungs­skiz­zen gegen­über.“2

Der Deut­sche Juris­ten-Fakul­tä­ten­tag (des­sen Vor­sit­zen- de sie seit 2020 ist) stünde

„dies­be­züg­lich in engem Aus­tausch mit Ver­tre­tern der Poli­tik, den Stu­die­ren­den­ver­tre­tern und den Landes-

  1. 1  § 5d Abs. 6 DRiG lau­tet in sei­ner Fas­sung vom 25.06.2021 (BGBl. I S. 2154): „Das Nähe­re regelt das Lan­des­recht. Es kann auch be- stim­men, dass in den staat­li­chen Prü­fun­gen schrift­li­che Leis­tun­gen elek­tro­nisch erbracht wer­den dürfen.“
  2. 2  Chi­usi, OdW 1 (2023), S. 8.
  3. 3  Chi­usi, OdW 1 (2023), S. 8.
  4. 4  Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fernprüfung.Rechtsfragen der Umstel­lung von Hoch­schul­prü­fun­gen auf zeit­ge­mä­ße, digi­ta­le Prü­fungs­for­ma­te, Dun­cker & Hum­blot, Ber­lin 2023. Das Buch kann als eBook unter https://elibrary. duncker-humblot.com/book/62518/e‑klausur-und-elektronische- fern­pru­fung / https://elibrary.duncker-humblot.com/978–3‑428- 55508–6 (letz­ter Zugriff am 09.02.2023) kos­ten­frei her­un­ter­ge­la- den werden.

jus­tiz­prü­fungs­äm­tern, um eine best­mög­li­che Lösung zu garan­tie­ren.“3

Eine Ent­schei­dungs­hil­fe könn­te hier­bei das Buch „E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung“4 bie­ten, das ich gemein­sam mit Dirk Heck­mann ver­fas­sen und Ende 2022 ver­öf­fent­li­chen durfte5 und das in dem vor­lie­gen- den Bei­trag vor­ge­stellt wer­den soll. Es beruht in sei­nem ers­ten Teil auf einer juris­ti­schen Mach­bar­keits­stu­die, die wir 2017/2018 im Auf­trag des Baye­ri­schen Staats­mi­nis­te- riums der Jus­tiz erstellt hat­ten. Zu die­sem Zeit­punkt gab es bereits eine brei­te Dis­kus­si­on um die Digi­ta­li­sie­rung der Jus­tiz („elek­tro­ni­scher Rechts­ver­kehr“),6 aber kaum kon­kre­te Über­le­gun­gen zu einer ech­ten Digi­ta­li­sie­rung von Leh­re und Prüfung.7 Das änder­te sich schlag­ar­tig mit Aus­bruch der Sars-Cov-2-Pan­de­mie („Coro­na­pan­de- mie“). Die hier­durch ver­an­lass­ten Kon­takt­be­schrän­kun- gen zwan­gen kurz­fris­tig zu Distanz­un­ter­richt und war- fen auch die Fra­ge auf, wie man den Prü­fungs­an­spruch der Stu­die­ren­den erfül­len und dabei glei­cher­ma­ßen Ge- sund­heits­schutz, Daten­schutz und Chan­cen­gleich­heit ein­hal­ten könne.8 Das war die Geburts­stun­de flä­chen­de- cken­der elek­tro­ni­scher Fern­prü­fun­gen, mit denen sich unser Buch im zwei­ten Teil aus­führ­lich befasst. Mitt­ler- wei­le gibt es in fast jedem Bun­des­land Rechts­grund­la­gen – in Form eines Geset­zes, einer Rechts­ver­ord­nung oder

Leh­re und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fun­gen, in: Schmidt (Hrsg.): COVID-19. Rechts­fra­gen zur Coro­na-Kri­se, 3. Aufl., 2021, § 21, S. 751 ff.; dies., Kon­trol­le ist gut, Ver­trau­en ist bes­ser — Para­dig- men­wech­sel durch die Baye­ri­sche Fern­prü­fungs­er­pro­bungs­ver- ord­nung. COVuR 2021, S. 194 ff.

6 Hier­zu aus­führ­lich Bernhardt/Leeb, Elek­tro­ni­scher Rechts­ver­kehr, in: Heckmann/Paschke, juris Pra­xis­kom­men­tar Inter­net­recht, 7. Aufl. 2021, Kap. 6 Rn. 178 ff.

7 Hier­zu bereits Kergel/Heidkamp, Digi­ta­li­sie­rung der Leh­re
– Chan­ce für eBo­lo­gna, in: Hericks (Hrsg.), Hoch­schu­len im Span­nungs­feld der Bolo­gna-Reform, 2018, S. 145 ff.

8 Die­se Grund­rechts­kol­li­si­on und die damit erfor­der­li­che Abwä- gung war Aus­gangs­punkt zu den Über­le­gun­gen für die Schaf­fung einer Rechts­grund­la­ge für elek­tro­ni­sche Fernprüfungen.

5 Vgl. aber bereits zuvor Heckmann/Rachut, Hoch­schu­len — Digi­ta­le
Ord­nung der Wis­sen­schaft 2023, ISSN 2197–9197

Sarah Rach­ut

E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung: Tech­no­lo- gischer Fort­schritt und Prü­fungs­kul­tur­wan­del im Spie­gel des Rechts
Ein Werk­statt­be­richt

90 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 89–98

auch durch Sat­zungs­recht der Hochschulen.9 Die bun- des­weit ers­te Rechts­grund­la­ge, die Baye­ri­sche Fern­prü- fungs­er­pro­bungs­ver­ord­nung (BayFEV),10 ent­stand im Som­mer 2020 und wur­de bereits am 16. Sep­tem­ber 2020 ver­kün­det. Nur weni­ge Tage, nach­dem Dirk Heck­mann und ich das TUM Cen­ter for Digi­tal Public Ser­vices (www.tum-cdps.de) zum 1. Juni 2020 mit Unter­stüt­zung des Baye­ri­schen Staats­mi­nis­te­ri­ums für Digi­ta­les errich- tet haben, erhiel­ten wir vom Baye­ri­schen Staats­mi­nis­te- rium für Wis­sen­schaft und Kunst den Auf­trag, den Ver- ord­nungs­text zur rechts­si­che­ren Regu­lie­rung elek­tro­ni- scher Fern­prü­fun­gen zu ent­wer­fen. Hin­ter­grund waren die Eil­be­dürf­tig­keit ange­sichts bevor­ste­hen­der Ab- schluss­prü­fun­gen im ers­ten „Pan­de­mie­se­mes­ter“ und unse­re Erfah­rung aus der oben genann­ten Mach­bar- keits­stu­die. Das Kon­zept, das wir der Bay­FEV als Ergeb- nis der kom­ple­xen Grund­rechts­prü­fung zugrun­de gelegt hat­ten („Kon­trol­le ist gut, Ver­trau­en ist bes­ser“), wur­de von zahl­rei­chen Bun­des­län­dern über­nom­men und prägt heu­te das deut­sche Fern­prü­fungs­recht. Es soll in die­sem Bei­trag spä­ter erläu­tert werden.

II. E‑Klausur

Die E‑Klausur, die hier den Mit­tel­punkt der digi­ta­li­sier- ten, also mit Hil­fe digi­ta­ler Medi­en und Tech­no­lo­gien abge­nom­me­nen Prü­fungs­leis­tung dar­stellt, hebt sich dadurch her­vor, dass eine Auf­sichts­klau­sur am Com­pu- ter ange­fer­tigt wird – was bei außer­halb von Prü­fungs- räu­men geschrie­be­nen Haus­ar­bei­ten oder Refe­ra­ten schon lan­ge üblich ist und kaum pro­ble­ma­ti­siert wird.11 Das Prü­fungs­for­mat einer sol­chen E‑Klausur wur­de schon vor der Pan­de­mie kon­tro­vers diskutiert,12 mit allem Für (u.a. schnel­le­re Kor­rek­tu­ren, Pra­xis­nä­he, Inte­gra­ti­on in E‑Prüfungen) und Wider (z.B. Kos­ten, Auf­wand, Chancengleichheit).13 Für die Mach­bar­keits­stu­die haben wir uns, nach­dem wir erheb­li­che Chan­cen in digitalen

  1. 9  Einen Über­blick auf dem Stand von März 2022 bie­tet Heckmann/ Rachut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 186 ff. (203).
  2. 10  Ver­ord­nung zur Erpro­bung elek­tro­ni­scher Fern­prü­fun­gen an den Hoch­schu­len in Bay­ern (Baye­ri­sche Fern­prü­fungs­er­pro­bungs­ver- ord­nung – Bay­FEV) vom 16. Sep­tem­ber 2020, GVBl. S. 570.
  3. 11  Dass es dane­ben auch noch zahl­rei­che ande­re Prü­fungs­for­ma­te, wie ins­be­son­de­re münd­li­che und prak­ti­sche Prü­fungs­for­ma­te gibt, sei hier nur ergän­zend erwähnt. § 2 Abs. 1 Bay­FEV for­mu- liert: „Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fun­gen kön­nen in Form schrift­li­cher Auf­sichts­ar­bei­ten (Fern­klau­sur) oder als münd­li­che oder prak­ti­sche Fern­prü­fung ange­bo­ten wer­den.“ „Elek­tro­nisch“ sind Fern­klau- suren schon auf­grund der digi­tal ver­mit­tel­ten Video­auf­sicht (§6 Bay­FEV), eine „E‑Klausur“ (im enge­ren Sin­ne, also als mit Com­pu­ter­ein­satz ange­fer­tig­ter Klau­sur­text) ist inso­weit vielleicht

Prü­fungs­for­ma­ten sehen, schwer­punkt­mä­ßig mit den (ver­meint­li­chen) Risi­ken und Hür­den aus­ein­an­der­ge- setzt. Dies geschah unter der Über­schrift: Die „Show- Stop­per“ – Recht­li­che Gegen­ar­gu­men­te zur E‑Klausur und ihre Widerlegung.14 Dabei wur­den jene Fra­gen beant­wor­tet, die bei prak­tisch jeder Dis­kus­si­on zu die­sem The­ma im Vor­feld auf­ge­wor­fen wurden:

• Ist die E‑Klausur unsi­cher?
• Ist die E‑Klausur unge­recht?
• Ist die E‑Klausur unbezahlbar?

Die­se durch­aus auch prak­ti­schen Fra­gen, die Her­aus- for­de­run­gen in tech­ni­scher und öko­no­mi­scher Hin­sicht wider­spie­geln, berüh­ren ver­schie­de­ne Rechts­ge­bie­te, die für die „juris­ti­sche Mach­bar­keit“ einer Umstel­lung der Prü­fungs­for­ma­te von ent­schei­den­der Bedeu­tung sind.

1. Aspek­te des IT-Sicherheitsrechts

Was pas­siert, wenn der Bild­schirm­in­halt bei einer Klau- sur plötz­lich ver­schwin­det? Oder das Sys­tem nicht die letz­te Fas­sung der Klau­sur spei­chert? Wenn es Über­tra- gungs­feh­ler oder gar einen Hacker­an­griff auf die Prü- fungs­um­ge­bung gibt? Wenn ein Sys­tem­aus­fall die gan­ze Prü­fung schei­tern lässt oder eine Prü­fungs­auf­ga­be mani- puliert wird?

Sol­che und ähn­li­che Fra­gen tau­chen immer wie­der auf, wenn es um Digi­ta­li­sie­rung im Prü­fungs­we­sen geht – der Fan­ta­sie, was hier alles schief gehen könn­te, sind kei­ne Gren­zen gesetzt. Zuwei­len sind sol­che Sze­na­ri­en gleich­sam „Tot­schlags­ar­gu­men­te“ – oder weni­ger mar­tia- lisch: Show-Stop­per – mit denen jeg­li­che Inno­va­ti­on von vor­ne­her­ein abge­lehnt wird: zu unsi­cher, geht nicht, wir blei­ben beim alten und bewähr­ten Verfahren.

Woll­te man sol­che Ein­wän­de unge­prüft und nicht ab- wägend gel­ten las­sen, wäre aller­dings nicht nur die E- Klau­sur (und in der Fol­ge die gesam­te elektronische

nahe­lie­gend, aber nicht zwin­gend. Denk­bar sind auch handge- schrie­be­ne Klau­sur­lö­sun­gen, die am Ende abfo­to­gra­fiert oder ein­ge­scannt an die Hoch­schu­le über­mit­telt wer­den. Zu die­sen Fein­hei­ten aus­führ­lich Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elekt- roni­sche Fern­prü­fung, S. 24, 44 ff.

12 Vgl. exem­pla­risch Bernhardt/Leeb: IT in der Juris­ten­aus­bil­dung: E‑Ju­s­ti­ce-Kom­pe­tenz, in: Kramer/Kuhn/Putzke (Hrsg.), Tagungs- band zur drit­ten Fach­ta­gung des Insti­tuts für Rechts­di­dak­tik an der Uni­ver­si­tät Pas­sau zum The­ma „Was muss Juris­ten­aus­bil­dung heu­te leis­ten?“, 2019, S. 84 ff.

13 Näher hier­zu Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 29 ff. sowie die gra­fi­schen Über­sich­ten auf den Sei­ten 137 und 138.

14 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 71 ff.

Fern­prü­fung) in Fra­ge gestellt, son­dern eben­so alles, was mit E‑Government, E‑Health,15 Smart City, auto­no­men Fahren16 etc. zusam­men­hängt. Digi­ta­li­sier­te Pro­zes­se in Ver­wal­tung und Jus­tiz, im Gesund­heits­we­sen, bei Ener- gie oder Mobi­li­tät ber­gen nicht uner­heb­li­che Risi­ken und sind den­noch poli­tisch und viel­fach auch gesetz­lich längst beschlos­se­ne Sache. Aus­ge­rech­net die Ent­schei­dung ge- gen E‑Klausuren, die rein fak­tisch ein gerin­ge­res (IT-Si- cherheits-)Risiko mit sich brin­gen dürf­ten als etwa die elek­tro­ni­sche Patientenakte17 oder eine elek­tro­ni­sche Ge- richts­ak­te, soll sinn­bild­lich die Digi­ta­li­sie­rung als un- über­wind­ba­res Risi­ko dar­stel­len, die längst in fast allen Lebens­be­rei­chen eta­bliert oder zumin­dest auf dem Vor- marsch ist? Tat­säch­lich darf auch hier das Recht nicht als Hür­de gese­hen wer­den, son­dern muss Gestal­tungs­fak­tor bei der Digi­ta­li­sie­rung neu­er Lebens­be­rei­che sein.18 Die gestal­te­ri­schen Anfor­de­run­gen sol­len hier nur kurz skiz- ziert werden:19

Die Ein­füh­rung einer E‑Klausur geht ein­her mit der Eta­blie­rung einer tech­ni­schen Prü­fungs­um­ge­bung, in der das Prü­fungs­pro­gramm läuft und die Klau­sur­da­tei­en sicher gespei­chert wer­den, um sie anschlie­ßend an die ver­ant­wort­li­che Stel­le (etwa das Prü­fungs­amt) zu über- mit­teln oder auch inner­halb des Sys­tems zum Abruf be- reit­zu­stel­len. Den Rechts­trä­ger (etwa das Bun­des­land bei staat­li­chen Prü­fun­gen oder die Hoch­schu­le), für den die ver­ant­wort­li­che Stel­le die E‑Klausur orga­ni­siert, trifft die staat­li­che Schutz­pflicht zur Gewähr­leis­tung der Ver­trau- lich­keit und Inte­gri­tät infor­ma­ti­ons­tech­ni­scher Sys­te- me.20 Dem­entspre­chend muss er das tech­nisch Mög­li­che und wirt­schaft­lich Zumut­ba­re unter­neh­men, um die Ri- siken, die mit die­ser Prü­fungs­form ins­be­son­de­re zu Las- ten der Prü­fungs­teil­neh­men­den bestehen, zu mini­mie- ren. Hier­zu zäh­len Maß­nah­men zur Daten­si­cher­heit wie die Echt­zeit­si­che­rung der Klau­sur­da­tei (per­ma­nen­te Back­ups), aber auch ange­mes­se­ne Maß­nah­men gegen Mani­pu­la­tio­nen und Täu­schungs­ver­su­che sowie gegen Zugrif­fe von außen, die die Pseud­ony­mi­tät der Klau­sur- teil­neh­mer offenlegen.

Berück­sich­tigt man die­se Vor­ga­ben in einem ange- mes­se­nen Umfang, spre­chen Anfor­de­run­gen des IT-Si-

  1. 15  Heck­mann, Prak­ti­sche Kon­kor­danz von Gesund­heits­schutz und Frei­heits­rech­ten, in: Heinemann/Matusiewicz (Hrsg.), Rethink Health­ca­re, 2021, 299 ff.
  2. 16  Fellenberg/Paschke, Die Mobi­li­täts­wen­de im Live­be­trieb, juris­PR ITR 1/2023 Anm. 3.
  3. 17  Heckmann/Rachut, Elek­tro­ni­sche Pati­en­ten­ak­te und Elek­tro­ni­sche Gesund­heits­ak­te, in: Rehmann/Tillmanns (Hrsg.), E‑Health / Digi­tal Health, 2022, 282 ff.
  4. 18  So auch das Mot­to des TUM Cen­ter for Digi­tal Public Ser­vices auf der Start­sei­te von www.tum-cdps.de (letz­ter Zugriff am

cher­heits­rechts nicht prin­zi­pi­ell gegen die Umstel­lung von Klau­su­ren auf E‑Klausuren. Zum einen soll­ten die Bun­des­län­der bzw. jede Hoch­schu­le ohne­hin über eine siche­re, funk­tio­nie­ren­de IT-Infra­struk­tur ver­fü­gen (etwa für die Ver­wal­tungs­di­gi­ta­li­sie­rung, den elek­tro­ni­schen Rechts­ver­kehr bzw. die digi­ta­le Leh­re und auch für die Digi­ta­li­sie­rung der Hoch­schul­ver­wal­tung, der sie ange- sichts zuneh­men­der Anfor­de­run­gen im inter­na­tio­na­len Wett­be­werb um Stu­die­ren­de, aber auch der gesetz­li­chen Vor­ga­ben zur Ver­wal­tungs­di­gi­ta­li­sie­rung nicht ent­ge­hen kann). Zum ande­ren ste­hen die Anfor­de­run­gen des IT- Sicher­heits­rechts ohne­hin unter dem Vor­be­halt einer ver- hält­nis­mä­ßi­gen, ins­be­son­de­re wirt­schaft­li­chen Auf­ga- ben­er­fül­lung. Letzt­lich wird also nichts Unmög­li­ches verlangt.

Wenn dem­ge­gen­über doch noch die (tech­ni­sche) Unsi­cher­heit von E‑Klausuren ins Feld geführt wird, liegt der Ver­dacht nahe, die ver­ant­wort­li­chen Stel­len hät- ten sich nicht aus­rei­chend mit den hier auf­ge­wor­fe­nen Fra­gen befasst. Die Grün­de hier­für sind viel­fäl­tig: so wur­de das The­ma „Digi­ta­li­sie­rung“ im öffent­li­chen Sek- tor viel­fach ver­schla­fen, fehlt es an aus­rei­chen­den Anrei- zen für Ver­än­de­run­gen (ledig­lich die Pan­de­mie war hier ein Trei­ber) und feh­len auch Fach­kräf­te sowie das Be- wusst­sein für die not­wen­di­gen Veränderungen.

2. Aspek­te von Gleich­be­hand­lung und Prü­fungs­ge­rech- tigkeit

Als wei­te­re Hür­de wird oft genannt, dass die E‑Klausur zu unge­rech­ten Prü­fun­gen bei­trü­ge. Tat­säch­lich muss gewähr­leis­tet wer­den, dass die Prü­fungs­teil­neh­men­den eines Jahr­gangs (einer Prü­fungs­ko­hor­te) die glei­chen Prü­fungs­be­din­gun­gen haben.21 Dies betrifft auch die tech­ni­schen Bedin­gun­gen einer bestimm­ten Prü­fungs- form, wie eben der E‑Klausur. Des­halb ist grund­sätz­lich sicher­zu­stel­len, dass für alle eine ver­gleich­ba­re tech­ni- sche Aus­stat­tung des Arbeits­plat­zes gege­ben ist und eine Bevor­zu­gung oder Benach­tei­li­gung ein­zel­ner Prüf­lin­ge bei der Nut­zung eige­ner Rech­ner aus­ge­schlos­sen wird (etwa durch glei­che Prü­fungs­pro­gram­me und Vor­ga­ben zur Kom­pa­ti­bi­li­tät der Hard­ware). Eben­so muss das

09.02.2023).
19 Aus­führ­lich im Hin­blick auf Fra­gen der IT-Sicher­heit Heckmann/

Rach­ut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 77 ff. 20 Zu die­ser Schutz­pflicht Heck­mann, Staat­li­che Schutz- und

För­der­pflich­ten zur Gewähr­leis­tung von IT- Sicher­heit – Ers­te Fol­ge­run­gen aus dem Urteil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts zur „Online-Durch­su­chung“ in: FS Käfer, S. 138 ff.

21 Jere­mi­as in: Fischer/Jeremias/Dieterich, Prü­fungs­recht, 8. Aufl. 2022, Rn. 402 ff.

Rach­ut · E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung 9 1

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Risi­ko einer Ungleich­be­hand­lung durch Mani­pu­la­ti­ons- mög­lich­kei­ten ein­kal­ku­liert und so gut wie mög­lich mini­miert werden.22 Dass dies nie ganz aus­ge­schlos­sen wer­den kann, liegt in der Natur der Sache und unter- schei­det sich bei kon­ven­tio­nel­len Klau­su­ren und Haus- arbei­ten eben­so wenig. Täu­schungs­mög­lich­kei­ten gibt es in jedem Prü­fungs­for­mat. Spe­zi­fi­schen Risi­ken bei der Nut­zung von Com­pu­tern in der Prü­fung (Zugang zum Inter­net, Zugriff auf lokal gespei­cher­te Infor­ma­tio­nen) kann man durch tech­ni­sche Vor­keh­run­gen und Anpas- sung der Prü­fungs­auf­sicht begeg­nen. Die ent­spre­chen­de Gestal­tung der Prü­fungs­um­ge­bung ist nicht tri­vi­al. Inzwi­schen gibt es hier­für aber bereits gut funk­tio­nie- ren­de Lösun­gen und Standards.

Unglei­che Bedin­gun­gen durch eine unter­schied­li­che Prü­fungs­form sind hin­ge­gen im Ver­hält­nis unter­schied- licher Prü­fungs­ko­hor­ten (sowohl in zeit­li­cher Hin­sicht als auch zwi­schen den Bun­des­län­dern bei unglei­chem Reform­tem­po) unschäd­lich, solan­ge dies sach­lich be- grün­det wer­den kann. Die chan­cen­glei­che Prü­fungs­ge- stal­tung wider­legt den Vor­wurf, die E‑Klausur sei „unge- recht“ und des­halb nicht empfehlenswert.

3. Recht­li­che Bin­dun­gen der Refi­nan­zie­rung staat­li­cher Leistungen

Die Ein­füh­rung einer E‑Klausur bedeu­tet einen nicht unwe­sent­li­chen finan­zi­el­len Auf­wand, ins­be­son­de­re durch Ent­wick­lung und Erwerb/Lizenzierung einer spe- ziel­len Prü­fungs­soft­ware, ggf. auch von Prü­fungs­com- putern sowie der Bereit­hal­tung einer effi­zi­en­ten und siche­ren IT-Infra­struk­tur und ent­spre­chen­den IT- Dienst­leis­tun­gen. Soweit die­se Kos­ten nicht durch all­ge- mei­ne Mit­tel aus dem Staats­haus­halt gedeckt wer­den kön­nen oder sol­len, sind alter­na­ti­ve Finan­zie­rungs­we­ge zu beden­ken. Die Ein­füh­rung von Prü­fungs­ge­büh­ren, die die Mehr­kos­ten ganz oder teil­wei­se abde­cken, ist recht­lich mit ent­spre­chen­der gesetz­li­cher Rechts­grund- lage im Ergeb­nis zulässig.23 Alter­na­tiv ist an ein Spon­so- ring­mo­dell zu den­ken, das aller­dings durch gesetz­li­che Rege­lun­gen oder restrik­ti­ve Verwaltungsvorschriften

  1. 22  Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 90 ff.
  2. 23  Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 98 ff. (102).
  3. 24  Richt­li­nie zum Umgang mit Spon­so­ring, Wer­bung, Spen­den und mäze­na­ti­schen Schen­kun­gen in der staat­li­chen Ver­wal­tung vom 14.10.2010 (All­MBl. S. 239), all­ge­mein zu recht­li­chen Gren­zen eines Spon­so­rings von Prü­fun­gen sowie zur Anwen­dung der Spon­so­ring-Richt­li­nie auf ver­schie­de­ne Spon­so­ring­mo­del­leHeckmann/Rachut, E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fernprüfung,S. 103 ff.

wie die Spon­so­ring­richt­li­nie im Frei­staat Bayern24 begrenzt sein kann.

Ein Kos­ten­fak­tor – näm­lich die Bereit­stel­lung von Com­pu­tern zur Anfer­ti­gung der E‑Klausur – könn­te weg­fal­len oder erheb­lich redu­ziert wer­den, wenn die Stu­die­ren­den ihre eige­nen Gerä­te ver­wen­den (sog. Bring-your-own-device-For­mat, BYOD). Dies wäre auch inso­fern vor­teil­haft, weil man so die Prü­fung auf ei- ner gewohn­ten elek­tro­ni­schen Umge­bung able­gen kann. Gleich­wohl wur­de BYOD im Hin­blick auf E‑Klausuren lan­ge Zeit sehr kri­tisch gese­hen, nicht zuletzt wegen des erhöh­ten Risi­kos der Mani­pu­la­ti­on der Gerä­te zu Täu- schungszwecken.25 Mehr als bemer­kens­wert ist aber, dass all die­se Beden­ken wie aus­ge­löscht erschie­nen, als die Pan­de­mie im Kon­text plötz­lich not­wen­di­ger elek­tro­ni- scher Fern­prü­fun­gen zum Ein­satz eige­ner Gerä­te zwang26 – es war schlicht nicht zu bewerk­stel­li­gen, allen Stu­die­ren­den von Sei­ten der Hoch­schu­len Gerä­te durch das Prü­fungs­amt zur Ver­fü­gung zu stel­len. Kri­tik oder gar Pro­test sei­tens der Stu­die­ren­den gab es – soweit er- sicht­lich – nicht; eben­so wenig wird von grö­ße­ren Täu- schungs­ver­su­chen berich­tet. Irgend­wie ähnelt dies dem The­ma „Home Office“:27 frü­her ein rotes Tuch für Behör- den und Unter­neh­men, erwies sich die Pan­de­mie als Trei­ber einer sol­chen Ent­wick­lung; ein Rück­schritt zum sta­tus quo ante ist weder ersicht­lich noch – offen­bar – erwünscht.

Die Mög­lich­kei­ten der Finan­zie­rung oder Sub­ven­tio- nie­rung sowie der lang­fris­ti­gen Amor­ti­sie­rung von In- ves­ti­tio­nen in die­sem Bereich wider­le­gen den Vor­wurf, die E- Klau­sur sei „unbe­zahl­bar“. Was alle­mal zu kon­ze- die­ren ist: Digi­ta­li­sie­rung kos­tet Geld und lässt sich (ent- gegen man­cher Beteue­run­gen von Unter­neh­mens­be­ra- tun­gen) nicht allei­ne durch Papier­er­spar­nis amor­ti­sie- ren. Lang­fris­tig kommt man hier­an aller­dings ohne­hin nicht vor­bei. Wie sehr die Defi­zi­te in der Digi­ta­li­sie­rung nicht nur hohe wirt­schaft­li­che Ein­bu­ßen und gesell- schaft­li­che Ver­wer­fun­gen zur Fol­ge haben, son­dern auch regel­recht Men­schen­le­ben gekos­tet haben mögen, hat die Pan­de­mie viel­fach gezeigt.28

25 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 33.

26 Hier­zu unter dem Aspekt Miss­brauchs­an­fäl­lig­keit elek­tro­ni­scher Fern­prü­fun­gen Heckmann/Rachut, E- Klau­sur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 222 ff.

27 Hier­zu Heck­mann, Die Woh­nung als Hör­saal: Hoch­schu­len im Home-Office, in: Nachtwei/Sureth (Hrsg.), Son­der­band Zukunft der Arbeit, 2020, S. 149 ff.

28 Vgl. Heck­mann, Prak­ti­sche Kon­kor­danz von Gesund­heits­schutz und Frei­heits­rech­ten, in: Heinemann/Matusiewicz (Hrsg.): Rethink Health­ca­re, 2021, 299 ff.

4. Par­la­ments­vor­be­halt

Sieht man die erheb­li­chen Chan­cen und Vor­tei­le der Ein­füh­rung einer E‑Klausur und auch die Wider­le­gung der hier­ge­gen geäu­ßer­ten Beden­ken (was hier nur ange- deu­tet wer­den konn­te, in unse­rem Buch aber aus­führ­lich dar­ge­stellt wird), stellt sich noch die Fra­ge, ob es hier­für einer expli­zi­ten Rechts­grund­la­ge bedarf. Wäh­rend die dem Buch zugrun­de­lie­gen­de Mach­bar­keits­stu­die 2017/2018 hier­zu argu­men­ta­tiv noch wei­ter aus­ho­len muss­te, hat der Bun­des­ge­setz­ge­ber die­se Fra­ge 2021 mit der Neu­re­ge­lung in § 5d Abs. 6 Satz 2 DRiG ansatz­wei­se beant­wor­tet. Danach kann das Lan­des­recht auch „bestim­men, dass in den staat­li­chen Prü­fun­gen schrift­li­che Leis­tun­gen elek­tro­nisch erbracht wer­den dür­fen.“ Damit soll­te – poli­tisch – der Weg zur E‑Klausur in den juris­ti- schen Staats­exami­na frei­ge­macht wer­den. Streng­ge­nom- men ist – recht­lich – damit nichts geklärt: Wenn das Lan­des­recht dies „bestim­men“ kann, bleibt durch­aus offen, ob es hier­zu einer expli­zi­ten par­la­men­ta­ri­schen Ermäch­ti­gungs­grund­la­ge bedarf oder ob man Rege­lun- gen in den Jus­tiz­aus­bil­dungs- und Prü­fungs­ord­nun­gen (JAPO), die „schrift­li­che“ Auf­sichts­ar­bei­ten nor­mie­ren, zugleich die E‑Klausur wie einen im E‑Government bereits obli­ga­to­ri­schen Schrift­for­mer­satz anse­hen könn- te. Dass dies im Ergeb­nis rechts­dog­ma­tisch eher zwei­fel- haft ist, haben wir in unse­rem Abschnitt zum Par­la- ments­vor­be­halt und zur Wesent­lich­keits­theo­rie dar­ge- legt:29 Nach unse­rer Auf­fas­sung ist es Sache des Gesetzgebers,

„die Wei­chen zu stel­len und ein Kon­zept vor­zu­stel­len, das einen siche­ren, chan­cen­ge­rech­ten und sinn­vol­len Über­gang gewähr­leis­tet. Es ist damit die durch grund- recht­li­che Wer­tun­gen in Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs.1 GG ver­an­lass­te Ord­nungs­funk­ti­on, die die E‑Klausur in ihrem Kon­text der Digi­ta­li­sie­rung des Prü­fungs­we­sens zu einer auch für die Grund­rechts­ver- wirk­li­chung „wesent­li­chen“ Ange­le­gen­heit macht.“30

5. Über­gangs­recht

Wenn wir nach all­dem kaum rück­kehr­bar auf dem Weg in die E‑Klausur (und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung) sind –

  1. 29  Heckmann/Rachut, E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 63 ff.
  2. 30  Heckmann/Rachut, E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 68.
  3. 31  Sie­he https://www.justiz.bayern.de/presse-und-medien/pressemit- teilungen/archiv/2020/107.php. (letz­ter Zugriff am 09.02.2023).
  4. 32  Über­blick bei https://www.lto.de/karriere/jura-referendariat/sto-

sei es wie in Sach­sen-Anhalt schon ange­kom­men, wie im Frei­staat Bay­ern ab 2023/202431 oder auch erst in den nächs­ten Jahren32 – stellt sich noch die Fra­ge, wie man das Über­gangs­recht gestal­tet. Aus­gangs­punkt ist die Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts zum rechts­staat­li­chen Rück­wir­kungs­ver­bot, gera­de im Prü- fungs­recht, um Will­kür und unsach­li­che Ungleich­be- hand­lung zu vermeiden.33 Dabei steht dem Gesetz­ge­ber ein Gestal­tungs­spiel­raum zu, den er aller­dings – auch und ins­be­son­de­re ent­spre­chend der tech­nisch-orga­ni­sa- tori­schen Rah­men­be­din­gun­gen – aus­zu­fül­len hat. Hier- zu zählt, die Ände­rung der Prü­fungs­mo­da­li­tä­ten trans- parent zu machen, auf aus­rei­chen­de Übungs­mög­lich­kei- ten schon wäh­rend des Stu­di­ums bzw. Refe­ren­da­ri­ats zu ach­ten und ein Wahl­recht zwi­schen E‑Klausur und kon- ven­tio­nel­ler hand­ge­schrie­be­ner Klau­sur ein­zu­räu­men. Eine Pflicht zur Ein­räu­mung eines dau­er­haf­ten Wahl- rechts besteht genau­so wenig wie das Ver­bot der Ein­räu- mung eines zeit­wei­li­gen Wahlrechts.34

III. Elek­tro­ni­sche Fernprüfungen

Als wir 2017/2018 die Mach­bar­keits­stu­die zur E‑Klausur schrie­ben, dach­te noch nie­mand, dass gut zwei Jah­re spä­ter eine Pan­de­mie die gan­ze Welt in Atem hält, mit Kon­se­quen­zen bis in den All­tag aller Men­schen. Um so bemer­kens­wer­ter mag es sein, dass wir die E‑Klausur bereits in der Mach­bar­keits­stu­die in eine kom­plett digi- tali­sier­te Prü­fungs­um­ge­bung ein­ge­bet­tet haben.35 Zwar lag der Fokus des Gut­ach­ten­auf­trags klar auf der E‑Klau- sur. Berück­sich­tig­te man unter­des­sen den Kon­text einer E‑Klausur, konn­te deren tech­no­lo­gi­sches Kon­zept nicht sinn­voll ent­wi­ckelt wer­den ohne Blick auf die zukünf­ti­ge Digi­ta­li­sie­rung von Leh­re und Prü­fung, For­schung und Ver­wal­tung an Hoch­schu­len. So ent­stand bereits eine Art Vor­prü­fung für elek­tro­ni­sche Fern­prü­fun­gen, an die wir im Früh­som­mer 2020 unmit­tel­bar anknüp­fen konn- ten, als uns die Anfra­ge aus dem Baye­ri­schen Staats­mi- nis­te­ri­um für Wis­sen­schaft und Kunst erreich­te, kurz- fris­tig einen Ver­ord­nungs­text zu ent­wer­fen. Dass wir damit gleich­sam die „Blau­pau­se“ für das deut­sche Fern- prü­fungs­recht anfer­ti­gen wür­den und die Bay­FEV viel- fach kopiert wür­de, kam uns da noch nicht in den Sinn.

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ren­da­ri­at-stu­di­um-digi­ta­li­sie­rung (letz­ter Zugriff am 09.02.2023). 33 Vgl. etwa BVerfG, NVwZ 1989, 645.
34 Zum Wahl­recht aus­führ­lich Heckmann/Rachut, E‑Klausur und

elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 117 ff.
35 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fernprüfung,

S. 24 ff.

Rach­ut · E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung 9 3

94 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 89–98

Es war schlicht Eile gebo­ten, war das Som­mer­se­mes­ter 2020, das ers­te „Pan­de­mie­se­mes­ter“, doch schon fort­ge- schrit­ten und dräng­te die Zeit, eine rechts­si­che­re Grund- lage für Fern­prü­fun­gen zu schaf­fen. Nicht unbe­deu­tend hier­für war die ver­fas­sungs­recht­li­che Ausgangslage.

1. Grund­rechts­kol­li­sio­nen – Das Tri­lem­ma der Hoch- schulen

Ver­setzt man sich zurück in das Som­mer­se­mes­ter 2020, ergab sich eine ganz beson­de­re Her­aus­for­de­rung für den Grund­rechts­schutz, ein klas­si­sches Trilemma:

So muss­ten die Hoch­schu­len gegen­über ihren ein­ge- schrie­be­nen Stu­die­ren­den alle im jewei­li­gen Stu­di­en- gang vor­ge­se­he­nen Prü­fun­gen anbie­ten, um dem auch durch Art. 12 GG als Teilhabegrundrecht36 gestütz­ten Prü­fungs­an­spruch zu genügen.

Die­se Prü­fun­gen wie­der­um konn­ten nicht wie bis­her im Hör­saal als Prä­senz­prü­fung statt­fin­den, weil dies der staat­li­chen Schutz­pflicht zum Schutz von Leben und Ge- sund­heit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) wider­spro­chen hät­te: Auf­grund der Pan­de­mie­la­ge waren zu die­sem Zeit­punkt aus Grün­den des Infek­ti­ons­schut­zes erheb­li­che Kon­takt- beschrän­kun­gen vor­ge­se­hen, die ein Auf­ein­an­der­tref­fen vie­ler Men­schen (zumal sol­cher mit Risi­ko­fak­to­ren wie Immun­erkran­kun­gen) unter­sag­te; hin­zu­ka­men etli­che unver­schul­de­te Infek­tio­nen, die eine Qua­ran­tä­ne­pflicht nach sich zogen oder gel­ten­de Ein- und Aus­rei­se­be- schrän­kun­gen, die ein Errei­chen des Hoch­schul­or­tes un- mög­lich machten.

Woll­te man hier aus­wei­chen und die Klau­su­ren in „siche­rer Umge­bung“, näm­lich der häus­li­chen Umge- bung (qua­si der Qua­ran­tä­ne) schrei­ben las­sen, stan­den wei­te­re Grund­rechts­ein­schrän­kun­gen im Raum: zum ei- nen eine Gefähr­dung des Per­sön­lich­keits­schut­zes gem. Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG (Recht auf infor­ma- tio­nel­le Selbst­be­stim­mung, Gewähr­leis­tung der Ver­trau- lich­keit und Inte­gri­tät infor­ma­ti­ons­tech­ni­scher Sys­te­me) sowie ein mög­li­cher Ein­griff in Art. 13 Abs. 1 GG durch die kaum ver­meid­ba­re Video­auf­sicht inner­halb der Woh­nung und ggf. die Instal­la­ti­on von Soft­ware mit Ein- grif­fen in die Funk­tio­na­li­tät des häus­li­chen Rech­ners; zum ande­ren eine mög­li­che Ver­let­zung des Grund­sat­zes der Chan­cen­gleich­heit (Art. 3 Abs. 1 GG), soweit die kon­kre­te Prü­fungs­si­tua­ti­on zu einer signi­fi­kan­ten Erhö- hung von Täu­schungs­mög­lich­kei­ten führt.

  1. 36  Hier­zu Ruf­fert, in: Epping/Hillgruber, Beck­OK Grund­ge­setz, 50. Ed., Stand 15.2.2022, Art. 12 Rn. 25; Jere­mi­as, in: Fischer/Jeremias/ Die­te­rich, Prü­fungs­recht, 8. Aufl. 2022, C., Rn. 135.
  2. 37  Hier­zu grund­le­gend Hes­se, Grund­zü­ge des Ver­fas­sungs­rechts der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, Neu­druck der 20. Aufl. 1999,

Alles in allem konn­te man als Hoch­schu­le in solch ei- ner Situa­ti­on nur falsch han­deln: egal wel­ches Vor­ge­hen man favo­ri­sier­te, es wür­de zu Grund­rechts­ein­schrän- kun­gen füh­ren. Die Her­aus­for­de­rung für das Kon­zept einer dies­be­züg­li­chen Rechts­grund­la­ge war also, im Wege prak­ti­scher Konkordanz37 die kol­li­die­ren­den Grund­rech­te in einen sol­chen Aus­gleich zu brin­gen, dass kein Grund­recht unnö­tig stark beein­träch­tigt wird.

Vor die­sem Hin­ter­grund ent­stand eine „Archi­tek­tur“ für die Bay­FEV mit vier Säu­len: Trans­pa­renz, Wahl­recht, Ver­trau­en, Verhältnismäßigkeit.

2. Ers­te Säu­le des Bay­FEV-Modells: Transparenz

Dass Trans­pa­renz qua­si über allem ste­hen müs­se, leuch- tet ein, wenn man ver­sucht, das dif­fu­se Gesamt­bild staat- licher Prü­fun­gen in einer Pan­de­mie­si­tua­ti­on zu zeich- nen. So müs­sen die Hoch­schu­len bzw. Prü­fungs­äm­ter zunächst ein­mal auf­klä­ren: über die aktu­el­le Sach- und Rechts­la­ge, die denk­ba­ren Prü­fungs­for­ma­te und ihre jewei­li­gen Rah­men­be­din­gun­gen sowie die Kon­se­quen- zen, wenn man den einen oder ande­ren Weg geht (hier- zu § 3 Bay­FEV und pas­sim). Der Staat hat hier gleich­sam eine Bring­schuld. Hier­zu zählt auch das Ange­bot von Pro­be­klau­su­ren unter Fern­prü­fungs­be­din­gun­gen, um die Hin­wei­se bes­ser nach­voll­zie­hen zu kön­nen (§ 3 Abs. 3 BayFEV).

3. Zwei­te Säu­le des Bay­FEV-Modells: Wahlrecht

Auf die­ser Trans­pa­renz­of­fen­si­ve auf­bau­end bil­det das Wahl­recht der Stu­die­ren­den (§ 8 Bay­FEV) die zwei­te Säu- le.38 Sie dür­fen sich frei ent­schei­den, ob sie an der elek­tro- nischen Fern­prü­fung oder einer alter­na­tiv ange­bo­te­nen Prä­senz­prü­fung teil­neh­men oder – wäh­rend der Pan­de- mie – die Prü­fung in das nächs­te Semes­ter ver­schie­ben (ohne Nach­teil im Stu­di­en­ver­lauf, § 8 Abs. 2 Satz 3 Bay- FEV). Auf die­ses Wahl­recht muss aus­drück­lich hin­ge­wie- sen wer­den. Erst durch das Wahl­recht ent­steht eine Situa- tion der Frei­wil­lig­keit, durch die der Grund­recht­sein- schränkungdieSchwere(oderggf.sogardieGrundlage) ent­zo­gen wird. Dass die Hoch­schu­len mit der Ein­räu- mung eines sol­chen Wahl­rechts einen erheb­li­chen Orga- nisa­ti­ons­auf­wand haben, ist unbe­strit­ten. Die­ser ist aber erfor­der­lich, um der spe­zi­fi­schen Grund­rechts­kol­li­si­on gerecht zu wer­den. Auch wenn den Staat kei­ne Ver­ant- wor­tung für den Aus­bruch der Pan­de­mie trifft (ggf. aber

Rn. 72, 317 ff.
38 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fernprüfung,

S. 190 (auch mit dem Hin­weis, dass die Aus­übung des Wahl­rechts nicht gleich­ge­setzt wer­den darf mit einer daten­schutz­recht­li­chen Ein­wil­li­gung in die Datenverarbeitung).

eine Ver­ant­wor­tung für den Ver­lauf und man­che Aus­wir- kun­gen), so spricht doch der Teilhabe‑, Schutz­pflicht- und Gewähr­leis­tungs­cha­rak­ter der betrof­fe­nen Grund- rech­te für die­ses Opti­mie­rungs­ge­bot, das der Ein­räu- mung des Wahl­rechts inne­wohnt: Ein­griffs­mi­ni­mie­rung durch Opti­mie­rung der ein­griffs­ver­mei­den­den Umstän- de.

4. Drit­te Säu­le des Bay­FEV-Modells: Vertrauen

DiesleitetüberzurdrittenSäule.Geradezuparadigma- tisch für das Kon­zept der Bay­FEV ist das Prin­zip „Kont- rol­le ist gut, Ver­trau­en ist bes­ser“, das Dirk Heck­mann in den Mit­tel­punkt sei­ner Begrün­dung auf der Pres­se­kon­fe- renz zur Vor­stel­lung der Bay­FEV am 19.9.2020 gestellt hat.39 Das Ver­trau­ens­prin­zip fin­det sich an meh­re­ren Stel­len der Ver­ord­nung wie­der und ist letzt­lich auch ein Aus­fluss des Grund­sat­zes der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit (hier- zu direkt im Anschluss). Es bedeu­tet letzt­lich, dass der Ver­ord­nungs­ge­ber bei der Aus­ge­stal­tung der elek­tro­ni- schen Fern­prü­fung dezi­dier­te Schran­ken ein­baut, was die Kon­troll- und Auf­sichts­mög­lich­kei­ten durch das Per- sonal der Klau­sur­auf­sicht betrifft. So fin­det etwa kei­ne Raum­über­wa­chung statt (§ 6 Abs. 1 Satz 2 Bay­FEV), der Ein­satz einer zwei­ten Kame­ra ist genau­so unter­sagt wie ein „360-Grad- Schwenk“ durch den Raum oder gar die Räu­me in der Woh­nung. Eben­so unter­sagt ist die Erstel- lung von Per­sön­lich­keits­pro­fi­len durch die Prü­fungs- und Kon­troll­soft­ware („Abwei­chung vom Stan­dard­ver- hal­ten“40), was ein fak­ti­sches „Aus“ für den Ein­satz beson- ders­ri­si­ko­be­haf­te­ter­KI-Sys­tem­ebei­ei­ner­elek­tro­ni­schen Fern­prü­fung bedeu­tet (§ 6 Abs. 4 Satz 5 BayFEV).41

Ins­ge­samt beruht die elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, so wie sie die Bay­FEV regelt, auf einem gro­ßen Ver­trau­ens- vor­schuss gegen­über den Stu­die­ren­den. Wir gehen da- von aus, dass die meis­ten Stu­die­ren­den die fak­tisch ver- blei­ben­den Mög­lich­kei­ten zur Täu­schung nicht nut­zen wer­den, wobei wir zwi­schen red­li­chen, ver­führ­ba­ren und rück­sichts­lo­sen Kan­di­da­ten unterscheiden.42

Die red­li­chen Stu­die­ren­den täu­schen ohne­hin nicht, weil sie sich auf das Bewäl­ti­gen der Klau­sur­auf­ga­be kon- zen­trie­ren, statt ihre Ener­gie für auf­wän­di­ge und aufrei- ben­de Täu­schungs­ma­nö­ver zu ver­geu­den. Dass Täu- schung wie­der­um nicht zu leicht gemacht wird, ist auch eine Fra­ge der Prü­fungs­di­dak­tik: je weni­ger die Wieder-

  1. 39  Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=Hbj8t9ogM3M (letz­ter Zugriff am 09.02.2023); vgl. auch Heckmann/Rachut, Kon­trol­le ist gut, Ver­trau­en ist bes­ser, COVuR 2021, 194 ff.
  2. 40  Hier­zu aus­führ­lich Rachut/Besner, MMR 2021, 851, 853, 855 f.
  3. 41  Zur mög­li­chen Ver­wen­dung ein­fa­cher Algo­rith­men vgl.§ 6 Abs. 4 Bay­FEV sowie Rachut/Besner, MMR 2021, 851 ff.
  4. 42  Heckmann/Rachut, Kon­trol­le ist gut, Ver­trau­en ist bes­ser, COVuR2021, 194 (199).

gabe von erlern­ten Tat­sa­chen ver­langt wird, je mehr es um Trans­fer­wis­sen und Metho­de geht, um so schwie­ri- ger ist es, auf unzu­läs­si­ge Quel­len zurück­zu­grei­fen, weil dies bei der Kor­rek­tur eher auf­fal­len würde.

Die ver­führ­ba­ren Stu­die­ren­den wer­den dann auf un- zuläs­si­ge Quel­len zurück­grei­fen, wenn sie sich bei die- sem Ver­hal­ten „im Recht sehen“: etwa, weil der Prü­fungs- stoff zu schwer ist oder von kom­mu­ni­zier­ten Ein­gren- zun­gen abweicht. Das lässt sich durch einen ziel­füh­ren- den Unter­richt und eine fai­re Prü­fungs­ge­stal­tung ver­hin­dern. Hin­zu kommt die abschre­cken­de Wir­kung des Auf­sichts­drucks durch die Kon­trol­le mit­tels ein­fa- cher Videoaufsicht.

Das ist anders bei den rück­sichts­lo­sen Stu­die­ren­den, die jede Gele­gen­heit nut­zen, sich einen – auch unzu­läs- sigen – Vor­teil zu ver­schaf­fen. Sol­che Per­so­nen ver­hal­ten sich ähn­lich wie die Raser im Stra­ßen­ver­kehr, deren Ver- kehrs­ver­stö­ße nur bei einer flä­chen­de­cken­den Ver­kehrs- über­wa­chung unter­bun­den wer­den könn­ten. Genau das ist aber weder im Stra­ßen­ver­kehrs­recht noch den bis­he- rigen Prä­senz­klau­su­ren vor­ge­se­hen, im Gegen­teil: Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat sich mehr­fach kri­tisch schon zum „Gefühl“ des „per­ma­nen­ten Über­wacht­seins“43 geäu­ßert und erteilt einer „Total­über­wa­chung“ eine kla­re Absage.

5. Vier­te Säu­le des Bay­FEV-Modells: Ver­hält­nis­mä­ßig- keit

Genau hier knüpft auch die vier­te Säu­le unse­res Modells an: die Ver­hält­nis­mä­ßig­keit staat­li­chen Han­delns ist auch ein Gebot im Rah­men der Klau­sur­auf­sicht. Woll­te man bei elek­tro­ni­schen Fern­prü­fun­gen jeg­li­che Kon­trol- len vor­neh­men, die tech­nisch mög­lich sind, wäre schon frag­lich, ob die­se über­haupt erfor­der­lich sind. Alle­mal wären sie nicht angemessen.44 In kei­nem Lebens­be­reich ist „Total­über­wa­chung“ (Über­wa­chung um jeden Preis) zuläs­sig: weder im Stra­ßen­ver­kehr noch bei Leis­tungs- kon­trol­len am Arbeitsplatz.45 In der Grund­rechts­ab­wä- gung spielt die Chan­cen­ge­rech­tig­keit eine wich­ti­ge Rol- le. Sie ist aber – wie gese­hen – in prak­ti­sche Kon­kor­danz zum Schutz der Pri­vat­sphä­re, der Unver­letz­lich­keit der Woh­nung und der Ver­trau­lich­keit und Inte­gri­tät infor- mati­ons­tech­ni­scher Sys­te­me zu brin­gen. Unse­re Rechts- ord­nung nimmt in vie­len Berei­chen Risi­ken in Kauf,

43 BVerfGE 120, 378.
44 Aus­führ­lich zu den hohen ver­fas­sungs­recht­li­chen Anforderungen

Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S.

171 ff.
45 Bei­spiel­haft BAG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16 –,

BAGE 159, 380 ff. zur Unzu­läs­sig­keit des Ein­sat­zes von Key­log- gern im Rah­men einer anlass­lo­sen Über­wa­chung des Arbeits­plat- zes.

Rach­ut · E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung 9 5

96 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 89–98

eine Null-Risi­ko-Stra­te­gie wird nicht ein­mal beim Betrieb gefähr­li­cher Anla­gen gefordert.46 War­um also soll­ten aus­ge­rech­net Risi­ken von Täu­schungs­hand­lun- gen in Klau­su­ren erheb­li­che Ein­grif­fe in die genann­ten Schutz­gü­ter durch stär­ke­re Kon­trol­len rechtfertigen?47

6. Mode­ra­te Prüfungsaufsicht

Legt man die genann­ten vier Säu­len der Archi­tek­tur des Fern­prü­fungs­sys­tems zugrun­de, kommt man zu einem auf Ver­trau­en, mode­ra­ter Kon­trol­le und didak­ti­scher Anpas­sung beru­hen­den Prü­fungs­sys­tem. Die Klau­sur wird beauf­sich­tigt, jedoch erfasst die stan­dard­mä­ßi­ge Video­auf­sicht nur die Prü­fung des Ver­bleibs der Kan­di- daten vor dem Bild­schirm (sta­ti­sches Kame­ra­bild) und das Unter­blei­ben von Gesprä­chen im Raum (offe­nes Mikro­fon). Dies bil­det prak­tisch die Kon­trol­le im rea­len Prü­fungs­raum ab. Gege­be­nen­falls kann eine Prü­fungs- soft­ware zur Anwen­dung gelan­gen, die für den Klau­sur- zeit­raum bestimm­te Funk­tio­nen (z.B. das Nut­zen der Zwi­schen­ab­la­ge oder eine Inter­net­re­cher­che) unter­bin- det. Wei­te­re Täu­schungs­mög­lich­kei­ten mögen auch dadurch ver­mie­den wer­den, indem man die Ver­wen- dung von Hilfs­mit­teln wie Stu­di­en­un­ter­la­gen aus­drück- lich erlaubt (sog. Open Books Klausuren).

IV. Prü­fungs­kul­tur­wan­del

Dies alles soll eine Prü­fungs­si­tua­ti­on schaf­fen, in der sich Prü­fen­de und Stu­die­ren­de mit Respekt, Fair­ness, Ver­trau­en und Zuver­sicht begeg­nen. Wür­de eine Hoch- schu­le dem­ge­gen­über durch die Prü­fungs­mo­da­li­tä­ten dezi­diert eine Atmo­sphä­re des Miss­trau­ens erzeu­gen, müss­te sie sich fra­gen, wel­ches Men­schen­bild sie aus­ge- rech­net bei jenen Men­schen zugrun­de legen will, die als ihre Absol­ven­ten künf­tig die Hoff­nungs- und Leis­tungs- trä­ger der Gesell­schaft dar­stel­len sol­len. Oder anders ausgedrückt:

„Der frei­heit­li­che Ver­fas­sungs­staat lebt von Vor­aus­set- zun­gen, die er selbst nicht garan­tie­ren kann: Mit die- sem Satz sprach Ernst-Wolf­gang Böcken­för­de auch die

  1. 46  Zum Risi­ko­be­griff im Tech­nik­recht Debus, Stra­te­gien zum Um- gang mit sagen­haf­ten Risi­ko­ty­pen, ins­be­son­de­re am Bei­spiel der Kern­ener­gie, in: Schar­rer et. al. (Hrsg.), Risi­ko im Recht — Recht im Risi­ko, 2011, S. 11 ff.
  2. 47  Vgl. zum Umgang mit Täu­schungs­ver­su­chen im Rah­men von elek­tro­ni­schen Fern­prü­fun­gen Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 222 ff.
  3. 48  Heckmann/Rachut, Kon­trol­le ist gut, Ver­trau­en ist bes­ser, COVuR 2021, 194 (200).
  4. 49  Aus­führ­lich Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische

gewoll­te Unvoll­kom­men­heit der Rechts­durch­set­zung und die hohe Bedeu­tung der Akzep­tanz­stif­tung in ei- ner frei­en Gesell­schaft an. Wo könn­te die­ses Prin­zip bes­ser gelernt und gelehrt wer­den als an den Hoch­schu­len?“48

Letzt­lich zwingt die Pan­de­mie mit der Not­wen­dig- keit elek­tro­ni­scher Fern­prü­fun­gen zum Umden­ken in Prü­fungs­di­dak­tik und Prüfungskultur.49 Schon län­ger wird dis­ku­tiert, ob bestimm­te Prü­fungs­for­ma­te über- haupt noch zeit­ge­mäß sind.50 Wie wich­tig ist das Aus- wen­dig­ler­nen eines Prü­fungs­stoffs? Sind die Klau­su­rin- hal­te und ihre Metho­dik über­haupt noch ange­mes­sen, pas­sen sie zu den Anfor­de­run­gen der Berufs­pra­xis, auf die sie vor­be­rei­ten sol­len? Gera­de bei juris­ti­schen Prü- fun­gen ist der Unter­schied zwi­schen Prü­fung und Pra­xis beson­ders stark: Wäh­rend man im 1. Staats­examen noch als Ein­zel­kämp­fer mit Geset­zes­text kom­ple­xe Fäl­le lösen soll, arbei­tet man spä­ter in Teams mit juris­ti­schen Da- ten­ban­ken. Wenn man dann noch hin­zu­nimmt, dass künf­tig Legal-3Tech-Anwen­dun­gen51 und KI-Sys­te­me wie ChatGPT oder you.com zumin­dest eine teil­auto­ma- tisier­te Rechtsdurchsetzung52 ermög­li­chen, ent­fernt sich die kon­ven­tio­nel­le Juris­ten­aus­bil­dung immer mehr von der Rechts­pra­xis. Hier gilt es gegen­zu­steu­ern. Gefragt sind Krea­ti­vi­tät, kri­ti­sche Refle­xi­on, Tech­nik­ver­ständ­nis und Ziel­ori­en­tie­rung. All das lässt sich (ein Stück weit) erler­nen, üben und anwen­den, mit wenig Aufsichtsdruck.

Das zeigt auch der Umgang mit ChatGPT, einer KI- Anwen­dung des Text- und Data­mi­nings des Unter­neh- mens Ope­nAI, um die ein regel­rech­ter Hype ent­stan­den ist.53 Mit deren Hil­fe las­sen sich mehr oder weni­ger fun- dier­te Ant­wor­ten auf bestimm­te (Fach-) Fra­gen fin­den. Dabei muss indes die Funk­ti­ons­wei­se die­ser Sys­te­me be- rück­sich­tigt wer­den, sodass die­se Anwen­dung nicht wie ein gro­ßes Lexi­kon oder eine Such­ma­schi­ne genutzt wer­den kann, son­dern anhand sei­ner Trai­nings­da­ten le- dig­lich auf­grund von Wahr­schein­lich­kei­ten mög­lichst kor­rek­te bzw. erwünsch­te Text­ver­voll­stän­di­gung aus­gibt. Die dar­aus ermit­tel­ten Aus­sa­gen kön­nen, müs­sen aber

Fern­prü­fung, S. 218 ff.
50 Hier­zu auch die Initia­ti­ve www.iurreform.de (letz­ter Zugriff am

09.02.2022).
51 Hier­zu statt Vie­ler Breidenbach/Glatz, Rechts­hand­buch Legal

Tech, 2. Aufl. 2021.
52 Zu Gren­zen auto­ma­ti­sier­ter Rechts­ver­wirk­li­chung Pasch­ke, MMR

2019, 563 ff.
53 Zum Ein­stieg sie­he Brae­gel­mann, Der ChatGPTo­ri­sche Imperativ,

Blog­bei­trag vom 12.12.2022, https://www.legal-tech.de/chatgpt/ (letz­ter Zugriff am 09.02.2023).

nicht fach­lich fun­diert sein und der Inten­ti­on des Fra­gen- den entsprechen.

Der Reflex unter den Prü­fen­den ließ nicht lan­ge auf sich war­ten: viel­fach wur­de ein Ver­bot die­ser Anwen- dung dis­ku­tiert, man­che (Hoch-)Schulen in den USA haben die Anwen­dung bereits auf ihren Rech­nern unter- bunden.54 Nur lang­sam ent­fal­tet sich (auch in Deutsch- land) die Erkennt­nis, sol­che Inno­va­tio­nen in den Unter- richt ein­zu­bau­en oder gar in Prü­fun­gen zuzu­las­sen: nicht etwa, um dem Sys­tem die Lösung der Klau­sur­auf- gabe zu über­las­sen, son­dern viel­mehr, um des­sen Funk- tio­na­li­tät als Teil eines Erkennt­nis­pro­zes­ses zu begrei­fen. Dies wie­der­um setzt natür­lich neu­ar­ti­ge Prü­fun­gen vor- aus, die mehr auf Metho­de und Erkennt­nis als auf rei- nes Wis­sen set­zen. Dass damit die frü­her wie­der­ver- wend­ba­ren Klau­sur­auf­ga­ben zur Maku­la­tur wer­den, ist viel­leicht der Preis für eine sich audrän­gen­de Moder­ni- sie­rung des Prüfungswesens.

E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung sind so gese­hen auch nur die Vor­bo­ten für eine (welt­wei­te)

Umwäl­zung im Bil­dungs­we­sen, eine digi­ta­le Trans­for- mati­on, bei der Deutsch­land vor der Wahl steht: Ent­we- der man gestal­tet den Umbruch selbst und inte­griert tech­ni­sche Inno­va­tio­nen so, dass sie unse­ren Wer­ten und Stan­dards ent­spre­chend opti­ma­len Nut­zen ent­fal- ten. Oder man hinkt ein wei­te­res Mal so weit hin­ter­her, dass die Gestal­tungs­ho­heit bei jenen Unter­neh­men liegt, die ein eige­nes Wer­te­ver­ständ­nis gleich mit ein- bau­en: Code is law.55 Ob man das durch Regu­lie­rung je ein­ge­fan­gen bekommt, ist frag­lich, wie man an den Be- mühun­gen um den Per­sön­lich­keits­schutz in sozia­len Netzwerken56 (Digi­tal Ser­vices Act) sieht.57

Sarah Rach­ut ist wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­te­rin am Lehr­stuhl für Recht und Sicher­heit der Digi­ta­li­sie­rung (Prof. Dr. Dirk Heck­mann) an der Tech­ni­schen Uni­ver- sität Mün­chen und Geschäfts­füh­re­rin der For­schungs- stel­le TUM Cen­ter for Digi­tal Public Ser­vices. Sie forscht und lehrt zu ver­fas­sungs­recht­li­chen Fra­gen der Digi­ta­li­sie­rung, schwer­punkt­mä­ßig in den Berei­chen E‑Government, E‑Health und E‑Education.

54 Zum Ver­bot von ChatGPT an New Yor­ker Schu­len: https:// ny.chalkbeat.org/2023/1/3/23537987/nyc-schools-ban-chatgpt- wri­ting-arti­fi­ci­al-intel­li­gence. Vgl. auch den Blog­bei­trag von Donath vom 6.1.2023: https://www.golem.de/news/schule- und-wis­sen­schaft-nut­zungs­ver­bo­te-gegen-chatgpt-aus­ge­spro- chen-2301–171004.html (letz­ter Zugriff am 09.02.2023).

55 Law­rence Les­sig, Code is law, 1999.
56 Ein Gesetz zur Ver­bes­se­rung des Persönlichkeitsrechtsschutzes

im Inter­net schla­gen Anne Pasch­ke und Dirk Heck­mann vor, sie­he

Heckmann/Paschke, DRiZ 2018, 144 ff.
57 Peu­kert, Zu Risi­ken und Neben­wir­kun­gen des Geset­zes über

digi­ta­le Diens­te (Digi­tal Ser­vices Act), KritV 2022, 57 ff.

Rach­ut · E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung 9 7

98 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 89–98