I. Einleitung
Im Heft 01/23 der OdW befasste sich Tiziana Chiusi mit „Themen und Perspektiven der juristischen Ausbildung“. Dabei thematisierte sie unter der Überschrift „Digitali- sierung in der Lehre“ auch den Computereinsatz in der staatlichen Pflichtfachprüfung. Wenngleich sie eingangs auf die bundesrechtliche Ermächtigung zur sog. E‑Klau- sur durch § 5d Abs. 6 Satz 2 DRiG1 hinweist, steht sie die- ser Entwicklung doch skeptisch gegenüber. Nach ihrer Auffassung stehen dem
„praktischen Nutzen (etwa bessere Lesbarkeit der Klausuren, Einfachheit und Sicherheit der Übermitt- lung der Klausuren an die Landesprüfungsämter, Um- gang mit elektronischen Medien), … die technischen und ökonomischen Herausforderungen sowie die mög- lichen Konsequenzen für die Denkstrukturen der Stu- dierenden beim Verzicht auf handgeschriebene Klau- suren und Lösungsskizzen gegenüber.“2
Der Deutsche Juristen-Fakultätentag (dessen Vorsitzen- de sie seit 2020 ist) stünde
„diesbezüglich in engem Austausch mit Vertretern der Politik, den Studierendenvertretern und den Landes-
- 1 § 5d Abs. 6 DRiG lautet in seiner Fassung vom 25.06.2021 (BGBl. I S. 2154): „Das Nähere regelt das Landesrecht. Es kann auch be- stimmen, dass in den staatlichen Prüfungen schriftliche Leistungen elektronisch erbracht werden dürfen.“
- 2 Chiusi, OdW 1 (2023), S. 8.
- 3 Chiusi, OdW 1 (2023), S. 8.
- 4 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung.Rechtsfragen der Umstellung von Hochschulprüfungen auf zeitgemäße, digitale Prüfungsformate, Duncker & Humblot, Berlin 2023. Das Buch kann als eBook unter https://elibrary. duncker-humblot.com/book/62518/e‑klausur-und-elektronische- fernprufung / https://elibrary.duncker-humblot.com/978–3‑428- 55508–6 (letzter Zugriff am 09.02.2023) kostenfrei heruntergela- den werden.
justizprüfungsämtern, um eine bestmögliche Lösung zu garantieren.“3
Eine Entscheidungshilfe könnte hierbei das Buch „E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung“4 bieten, das ich gemeinsam mit Dirk Heckmann verfassen und Ende 2022 veröffentlichen durfte5 und das in dem vorliegen- den Beitrag vorgestellt werden soll. Es beruht in seinem ersten Teil auf einer juristischen Machbarkeitsstudie, die wir 2017/2018 im Auftrag des Bayerischen Staatsministe- riums der Justiz erstellt hatten. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits eine breite Diskussion um die Digitalisierung der Justiz („elektronischer Rechtsverkehr“),6 aber kaum konkrete Überlegungen zu einer echten Digitalisierung von Lehre und Prüfung.7 Das änderte sich schlagartig mit Ausbruch der Sars-Cov-2-Pandemie („Coronapande- mie“). Die hierdurch veranlassten Kontaktbeschränkun- gen zwangen kurzfristig zu Distanzunterricht und war- fen auch die Frage auf, wie man den Prüfungsanspruch der Studierenden erfüllen und dabei gleichermaßen Ge- sundheitsschutz, Datenschutz und Chancengleichheit einhalten könne.8 Das war die Geburtsstunde flächende- ckender elektronischer Fernprüfungen, mit denen sich unser Buch im zweiten Teil ausführlich befasst. Mittler- weile gibt es in fast jedem Bundesland Rechtsgrundlagen – in Form eines Gesetzes, einer Rechtsverordnung oder
Lehre und elektronische Fernprüfungen, in: Schmidt (Hrsg.): COVID-19. Rechtsfragen zur Corona-Krise, 3. Aufl., 2021, § 21, S. 751 ff.; dies., Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser — Paradig- menwechsel durch die Bayerische Fernprüfungserprobungsver- ordnung. COVuR 2021, S. 194 ff.
6 Hierzu ausführlich Bernhardt/Leeb, Elektronischer Rechtsverkehr, in: Heckmann/Paschke, juris Praxiskommentar Internetrecht, 7. Aufl. 2021, Kap. 6 Rn. 178 ff.
7 Hierzu bereits Kergel/Heidkamp, Digitalisierung der Lehre
– Chance für eBologna, in: Hericks (Hrsg.), Hochschulen im Spannungsfeld der Bologna-Reform, 2018, S. 145 ff.
8 Diese Grundrechtskollision und die damit erforderliche Abwä- gung war Ausgangspunkt zu den Überlegungen für die Schaffung einer Rechtsgrundlage für elektronische Fernprüfungen.
5 Vgl. aber bereits zuvor Heckmann/Rachut, Hochschulen — Digitale
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
Sarah Rachut
E‑Klausur und elektronische Fernprüfung: Technolo- gischer Fortschritt und Prüfungskulturwandel im Spiegel des Rechts
Ein Werkstattbericht
90 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 89–98
auch durch Satzungsrecht der Hochschulen.9 Die bun- desweit erste Rechtsgrundlage, die Bayerische Fernprü- fungserprobungsverordnung (BayFEV),10 entstand im Sommer 2020 und wurde bereits am 16. September 2020 verkündet. Nur wenige Tage, nachdem Dirk Heckmann und ich das TUM Center for Digital Public Services (www.tum-cdps.de) zum 1. Juni 2020 mit Unterstützung des Bayerischen Staatsministeriums für Digitales errich- tet haben, erhielten wir vom Bayerischen Staatsministe- rium für Wissenschaft und Kunst den Auftrag, den Ver- ordnungstext zur rechtssicheren Regulierung elektroni- scher Fernprüfungen zu entwerfen. Hintergrund waren die Eilbedürftigkeit angesichts bevorstehender Ab- schlussprüfungen im ersten „Pandemiesemester“ und unsere Erfahrung aus der oben genannten Machbar- keitsstudie. Das Konzept, das wir der BayFEV als Ergeb- nis der komplexen Grundrechtsprüfung zugrunde gelegt hatten („Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser“), wurde von zahlreichen Bundesländern übernommen und prägt heute das deutsche Fernprüfungsrecht. Es soll in diesem Beitrag später erläutert werden.
II. E‑Klausur
Die E‑Klausur, die hier den Mittelpunkt der digitalisier- ten, also mit Hilfe digitaler Medien und Technologien abgenommenen Prüfungsleistung darstellt, hebt sich dadurch hervor, dass eine Aufsichtsklausur am Compu- ter angefertigt wird – was bei außerhalb von Prüfungs- räumen geschriebenen Hausarbeiten oder Referaten schon lange üblich ist und kaum problematisiert wird.11 Das Prüfungsformat einer solchen E‑Klausur wurde schon vor der Pandemie kontrovers diskutiert,12 mit allem Für (u.a. schnellere Korrekturen, Praxisnähe, Integration in E‑Prüfungen) und Wider (z.B. Kosten, Aufwand, Chancengleichheit).13 Für die Machbarkeitsstudie haben wir uns, nachdem wir erhebliche Chancen in digitalen
- 9 Einen Überblick auf dem Stand von März 2022 bietet Heckmann/ Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung, S. 186 ff. (203).
- 10 Verordnung zur Erprobung elektronischer Fernprüfungen an den Hochschulen in Bayern (Bayerische Fernprüfungserprobungsver- ordnung – BayFEV) vom 16. September 2020, GVBl. S. 570.
- 11 Dass es daneben auch noch zahlreiche andere Prüfungsformate, wie insbesondere mündliche und praktische Prüfungsformate gibt, sei hier nur ergänzend erwähnt. § 2 Abs. 1 BayFEV formu- liert: „Elektronische Fernprüfungen können in Form schriftlicher Aufsichtsarbeiten (Fernklausur) oder als mündliche oder praktische Fernprüfung angeboten werden.“ „Elektronisch“ sind Fernklau- suren schon aufgrund der digital vermittelten Videoaufsicht (§6 BayFEV), eine „E‑Klausur“ (im engeren Sinne, also als mit Computereinsatz angefertigter Klausurtext) ist insoweit vielleicht
Prüfungsformaten sehen, schwerpunktmäßig mit den (vermeintlichen) Risiken und Hürden auseinanderge- setzt. Dies geschah unter der Überschrift: Die „Show- Stopper“ – Rechtliche Gegenargumente zur E‑Klausur und ihre Widerlegung.14 Dabei wurden jene Fragen beantwortet, die bei praktisch jeder Diskussion zu diesem Thema im Vorfeld aufgeworfen wurden:
• Ist die E‑Klausur unsicher?
• Ist die E‑Klausur ungerecht?
• Ist die E‑Klausur unbezahlbar?
Diese durchaus auch praktischen Fragen, die Heraus- forderungen in technischer und ökonomischer Hinsicht widerspiegeln, berühren verschiedene Rechtsgebiete, die für die „juristische Machbarkeit“ einer Umstellung der Prüfungsformate von entscheidender Bedeutung sind.
1. Aspekte des IT-Sicherheitsrechts
Was passiert, wenn der Bildschirminhalt bei einer Klau- sur plötzlich verschwindet? Oder das System nicht die letzte Fassung der Klausur speichert? Wenn es Übertra- gungsfehler oder gar einen Hackerangriff auf die Prü- fungsumgebung gibt? Wenn ein Systemausfall die ganze Prüfung scheitern lässt oder eine Prüfungsaufgabe mani- puliert wird?
Solche und ähnliche Fragen tauchen immer wieder auf, wenn es um Digitalisierung im Prüfungswesen geht – der Fantasie, was hier alles schief gehen könnte, sind keine Grenzen gesetzt. Zuweilen sind solche Szenarien gleichsam „Totschlagsargumente“ – oder weniger martia- lisch: Show-Stopper – mit denen jegliche Innovation von vorneherein abgelehnt wird: zu unsicher, geht nicht, wir bleiben beim alten und bewährten Verfahren.
Wollte man solche Einwände ungeprüft und nicht ab- wägend gelten lassen, wäre allerdings nicht nur die E- Klausur (und in der Folge die gesamte elektronische
naheliegend, aber nicht zwingend. Denkbar sind auch handge- schriebene Klausurlösungen, die am Ende abfotografiert oder eingescannt an die Hochschule übermittelt werden. Zu diesen Feinheiten ausführlich Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elekt- ronische Fernprüfung, S. 24, 44 ff.
12 Vgl. exemplarisch Bernhardt/Leeb: IT in der Juristenausbildung: E‑Justice-Kompetenz, in: Kramer/Kuhn/Putzke (Hrsg.), Tagungs- band zur dritten Fachtagung des Instituts für Rechtsdidaktik an der Universität Passau zum Thema „Was muss Juristenausbildung heute leisten?“, 2019, S. 84 ff.
13 Näher hierzu Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung, S. 29 ff. sowie die grafischen Übersichten auf den Seiten 137 und 138.
14 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung, S. 71 ff.
Fernprüfung) in Frage gestellt, sondern ebenso alles, was mit E‑Government, E‑Health,15 Smart City, autonomen Fahren16 etc. zusammenhängt. Digitalisierte Prozesse in Verwaltung und Justiz, im Gesundheitswesen, bei Ener- gie oder Mobilität bergen nicht unerhebliche Risiken und sind dennoch politisch und vielfach auch gesetzlich längst beschlossene Sache. Ausgerechnet die Entscheidung ge- gen E‑Klausuren, die rein faktisch ein geringeres (IT-Si- cherheits-)Risiko mit sich bringen dürften als etwa die elektronische Patientenakte17 oder eine elektronische Ge- richtsakte, soll sinnbildlich die Digitalisierung als un- überwindbares Risiko darstellen, die längst in fast allen Lebensbereichen etabliert oder zumindest auf dem Vor- marsch ist? Tatsächlich darf auch hier das Recht nicht als Hürde gesehen werden, sondern muss Gestaltungsfaktor bei der Digitalisierung neuer Lebensbereiche sein.18 Die gestalterischen Anforderungen sollen hier nur kurz skiz- ziert werden:19
Die Einführung einer E‑Klausur geht einher mit der Etablierung einer technischen Prüfungsumgebung, in der das Prüfungsprogramm läuft und die Klausurdateien sicher gespeichert werden, um sie anschließend an die verantwortliche Stelle (etwa das Prüfungsamt) zu über- mitteln oder auch innerhalb des Systems zum Abruf be- reitzustellen. Den Rechtsträger (etwa das Bundesland bei staatlichen Prüfungen oder die Hochschule), für den die verantwortliche Stelle die E‑Klausur organisiert, trifft die staatliche Schutzpflicht zur Gewährleistung der Vertrau- lichkeit und Integrität informationstechnischer Syste- me.20 Dementsprechend muss er das technisch Mögliche und wirtschaftlich Zumutbare unternehmen, um die Ri- siken, die mit dieser Prüfungsform insbesondere zu Las- ten der Prüfungsteilnehmenden bestehen, zu minimie- ren. Hierzu zählen Maßnahmen zur Datensicherheit wie die Echtzeitsicherung der Klausurdatei (permanente Backups), aber auch angemessene Maßnahmen gegen Manipulationen und Täuschungsversuche sowie gegen Zugriffe von außen, die die Pseudonymität der Klausur- teilnehmer offenlegen.
Berücksichtigt man diese Vorgaben in einem ange- messenen Umfang, sprechen Anforderungen des IT-Si-
- 15 Heckmann, Praktische Konkordanz von Gesundheitsschutz und Freiheitsrechten, in: Heinemann/Matusiewicz (Hrsg.), Rethink Healthcare, 2021, 299 ff.
- 16 Fellenberg/Paschke, Die Mobilitätswende im Livebetrieb, jurisPR ITR 1/2023 Anm. 3.
- 17 Heckmann/Rachut, Elektronische Patientenakte und Elektronische Gesundheitsakte, in: Rehmann/Tillmanns (Hrsg.), E‑Health / Digital Health, 2022, 282 ff.
- 18 So auch das Motto des TUM Center for Digital Public Services auf der Startseite von www.tum-cdps.de (letzter Zugriff am
cherheitsrechts nicht prinzipiell gegen die Umstellung von Klausuren auf E‑Klausuren. Zum einen sollten die Bundesländer bzw. jede Hochschule ohnehin über eine sichere, funktionierende IT-Infrastruktur verfügen (etwa für die Verwaltungsdigitalisierung, den elektronischen Rechtsverkehr bzw. die digitale Lehre und auch für die Digitalisierung der Hochschulverwaltung, der sie ange- sichts zunehmender Anforderungen im internationalen Wettbewerb um Studierende, aber auch der gesetzlichen Vorgaben zur Verwaltungsdigitalisierung nicht entgehen kann). Zum anderen stehen die Anforderungen des IT- Sicherheitsrechts ohnehin unter dem Vorbehalt einer ver- hältnismäßigen, insbesondere wirtschaftlichen Aufga- benerfüllung. Letztlich wird also nichts Unmögliches verlangt.
Wenn demgegenüber doch noch die (technische) Unsicherheit von E‑Klausuren ins Feld geführt wird, liegt der Verdacht nahe, die verantwortlichen Stellen hät- ten sich nicht ausreichend mit den hier aufgeworfenen Fragen befasst. Die Gründe hierfür sind vielfältig: so wurde das Thema „Digitalisierung“ im öffentlichen Sek- tor vielfach verschlafen, fehlt es an ausreichenden Anrei- zen für Veränderungen (lediglich die Pandemie war hier ein Treiber) und fehlen auch Fachkräfte sowie das Be- wusstsein für die notwendigen Veränderungen.
2. Aspekte von Gleichbehandlung und Prüfungsgerech- tigkeit
Als weitere Hürde wird oft genannt, dass die E‑Klausur zu ungerechten Prüfungen beitrüge. Tatsächlich muss gewährleistet werden, dass die Prüfungsteilnehmenden eines Jahrgangs (einer Prüfungskohorte) die gleichen Prüfungsbedingungen haben.21 Dies betrifft auch die technischen Bedingungen einer bestimmten Prüfungs- form, wie eben der E‑Klausur. Deshalb ist grundsätzlich sicherzustellen, dass für alle eine vergleichbare techni- sche Ausstattung des Arbeitsplatzes gegeben ist und eine Bevorzugung oder Benachteiligung einzelner Prüflinge bei der Nutzung eigener Rechner ausgeschlossen wird (etwa durch gleiche Prüfungsprogramme und Vorgaben zur Kompatibilität der Hardware). Ebenso muss das
09.02.2023).
19 Ausführlich im Hinblick auf Fragen der IT-Sicherheit Heckmann/
Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung, S. 77 ff. 20 Zu dieser Schutzpflicht Heckmann, Staatliche Schutz- und
Förderpflichten zur Gewährleistung von IT- Sicherheit – Erste Folgerungen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur „Online-Durchsuchung“ in: FS Käfer, S. 138 ff.
21 Jeremias in: Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 402 ff.
Rachut · E‑Klausur und elektronische Fernprüfung 9 1
92 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 89–98
Risiko einer Ungleichbehandlung durch Manipulations- möglichkeiten einkalkuliert und so gut wie möglich minimiert werden.22 Dass dies nie ganz ausgeschlossen werden kann, liegt in der Natur der Sache und unter- scheidet sich bei konventionellen Klausuren und Haus- arbeiten ebenso wenig. Täuschungsmöglichkeiten gibt es in jedem Prüfungsformat. Spezifischen Risiken bei der Nutzung von Computern in der Prüfung (Zugang zum Internet, Zugriff auf lokal gespeicherte Informationen) kann man durch technische Vorkehrungen und Anpas- sung der Prüfungsaufsicht begegnen. Die entsprechende Gestaltung der Prüfungsumgebung ist nicht trivial. Inzwischen gibt es hierfür aber bereits gut funktionie- rende Lösungen und Standards.
Ungleiche Bedingungen durch eine unterschiedliche Prüfungsform sind hingegen im Verhältnis unterschied- licher Prüfungskohorten (sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch zwischen den Bundesländern bei ungleichem Reformtempo) unschädlich, solange dies sachlich be- gründet werden kann. Die chancengleiche Prüfungsge- staltung widerlegt den Vorwurf, die E‑Klausur sei „unge- recht“ und deshalb nicht empfehlenswert.
3. Rechtliche Bindungen der Refinanzierung staatlicher Leistungen
Die Einführung einer E‑Klausur bedeutet einen nicht unwesentlichen finanziellen Aufwand, insbesondere durch Entwicklung und Erwerb/Lizenzierung einer spe- ziellen Prüfungssoftware, ggf. auch von Prüfungscom- putern sowie der Bereithaltung einer effizienten und sicheren IT-Infrastruktur und entsprechenden IT- Dienstleistungen. Soweit diese Kosten nicht durch allge- meine Mittel aus dem Staatshaushalt gedeckt werden können oder sollen, sind alternative Finanzierungswege zu bedenken. Die Einführung von Prüfungsgebühren, die die Mehrkosten ganz oder teilweise abdecken, ist rechtlich mit entsprechender gesetzlicher Rechtsgrund- lage im Ergebnis zulässig.23 Alternativ ist an ein Sponso- ringmodell zu denken, das allerdings durch gesetzliche Regelungen oder restriktive Verwaltungsvorschriften
- 22 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung, S. 90 ff.
- 23 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung, S. 98 ff. (102).
- 24 Richtlinie zum Umgang mit Sponsoring, Werbung, Spenden und mäzenatischen Schenkungen in der staatlichen Verwaltung vom 14.10.2010 (AllMBl. S. 239), allgemein zu rechtlichen Grenzen eines Sponsorings von Prüfungen sowie zur Anwendung der Sponsoring-Richtlinie auf verschiedene SponsoringmodelleHeckmann/Rachut, E‑Klausur und elektronische Fernprüfung,S. 103 ff.
wie die Sponsoringrichtlinie im Freistaat Bayern24 begrenzt sein kann.
Ein Kostenfaktor – nämlich die Bereitstellung von Computern zur Anfertigung der E‑Klausur – könnte wegfallen oder erheblich reduziert werden, wenn die Studierenden ihre eigenen Geräte verwenden (sog. Bring-your-own-device-Format, BYOD). Dies wäre auch insofern vorteilhaft, weil man so die Prüfung auf ei- ner gewohnten elektronischen Umgebung ablegen kann. Gleichwohl wurde BYOD im Hinblick auf E‑Klausuren lange Zeit sehr kritisch gesehen, nicht zuletzt wegen des erhöhten Risikos der Manipulation der Geräte zu Täu- schungszwecken.25 Mehr als bemerkenswert ist aber, dass all diese Bedenken wie ausgelöscht erschienen, als die Pandemie im Kontext plötzlich notwendiger elektroni- scher Fernprüfungen zum Einsatz eigener Geräte zwang26 – es war schlicht nicht zu bewerkstelligen, allen Studierenden von Seiten der Hochschulen Geräte durch das Prüfungsamt zur Verfügung zu stellen. Kritik oder gar Protest seitens der Studierenden gab es – soweit er- sichtlich – nicht; ebenso wenig wird von größeren Täu- schungsversuchen berichtet. Irgendwie ähnelt dies dem Thema „Home Office“:27 früher ein rotes Tuch für Behör- den und Unternehmen, erwies sich die Pandemie als Treiber einer solchen Entwicklung; ein Rückschritt zum status quo ante ist weder ersichtlich noch – offenbar – erwünscht.
Die Möglichkeiten der Finanzierung oder Subventio- nierung sowie der langfristigen Amortisierung von In- vestitionen in diesem Bereich widerlegen den Vorwurf, die E- Klausur sei „unbezahlbar“. Was allemal zu konze- dieren ist: Digitalisierung kostet Geld und lässt sich (ent- gegen mancher Beteuerungen von Unternehmensbera- tungen) nicht alleine durch Papierersparnis amortisie- ren. Langfristig kommt man hieran allerdings ohnehin nicht vorbei. Wie sehr die Defizite in der Digitalisierung nicht nur hohe wirtschaftliche Einbußen und gesell- schaftliche Verwerfungen zur Folge haben, sondern auch regelrecht Menschenleben gekostet haben mögen, hat die Pandemie vielfach gezeigt.28
25 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und elektronische Fernprüfung, S. 33.
26 Hierzu unter dem Aspekt Missbrauchsanfälligkeit elektronischer Fernprüfungen Heckmann/Rachut, E- Klausur und elektronische Fernprüfung, S. 222 ff.
27 Hierzu Heckmann, Die Wohnung als Hörsaal: Hochschulen im Home-Office, in: Nachtwei/Sureth (Hrsg.), Sonderband Zukunft der Arbeit, 2020, S. 149 ff.
28 Vgl. Heckmann, Praktische Konkordanz von Gesundheitsschutz und Freiheitsrechten, in: Heinemann/Matusiewicz (Hrsg.): Rethink Healthcare, 2021, 299 ff.
4. Parlamentsvorbehalt
Sieht man die erheblichen Chancen und Vorteile der Einführung einer E‑Klausur und auch die Widerlegung der hiergegen geäußerten Bedenken (was hier nur ange- deutet werden konnte, in unserem Buch aber ausführlich dargestellt wird), stellt sich noch die Frage, ob es hierfür einer expliziten Rechtsgrundlage bedarf. Während die dem Buch zugrundeliegende Machbarkeitsstudie 2017/2018 hierzu argumentativ noch weiter ausholen musste, hat der Bundesgesetzgeber diese Frage 2021 mit der Neuregelung in § 5d Abs. 6 Satz 2 DRiG ansatzweise beantwortet. Danach kann das Landesrecht auch „bestimmen, dass in den staatlichen Prüfungen schriftliche Leistungen elektronisch erbracht werden dürfen.“ Damit sollte – politisch – der Weg zur E‑Klausur in den juristi- schen Staatsexamina freigemacht werden. Strenggenom- men ist – rechtlich – damit nichts geklärt: Wenn das Landesrecht dies „bestimmen“ kann, bleibt durchaus offen, ob es hierzu einer expliziten parlamentarischen Ermächtigungsgrundlage bedarf oder ob man Regelun- gen in den Justizausbildungs- und Prüfungsordnungen (JAPO), die „schriftliche“ Aufsichtsarbeiten normieren, zugleich die E‑Klausur wie einen im E‑Government bereits obligatorischen Schriftformersatz ansehen könn- te. Dass dies im Ergebnis rechtsdogmatisch eher zweifel- haft ist, haben wir in unserem Abschnitt zum Parla- mentsvorbehalt und zur Wesentlichkeitstheorie darge- legt:29 Nach unserer Auffassung ist es Sache des Gesetzgebers,
„die Weichen zu stellen und ein Konzept vorzustellen, das einen sicheren, chancengerechten und sinnvollen Übergang gewährleistet. Es ist damit die durch grund- rechtliche Wertungen in Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs.1 GG veranlasste Ordnungsfunktion, die die E‑Klausur in ihrem Kontext der Digitalisierung des Prüfungswesens zu einer auch für die Grundrechtsver- wirklichung „wesentlichen“ Angelegenheit macht.“30
5. Übergangsrecht
Wenn wir nach alldem kaum rückkehrbar auf dem Weg in die E‑Klausur (und elektronische Fernprüfung) sind –
- 29 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und elektronische Fernprüfung, S. 63 ff.
- 30 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und elektronische Fernprüfung, S. 68.
- 31 Siehe https://www.justiz.bayern.de/presse-und-medien/pressemit- teilungen/archiv/2020/107.php. (letzter Zugriff am 09.02.2023).
- 32 Überblick bei https://www.lto.de/karriere/jura-referendariat/sto-
sei es wie in Sachsen-Anhalt schon angekommen, wie im Freistaat Bayern ab 2023/202431 oder auch erst in den nächsten Jahren32 – stellt sich noch die Frage, wie man das Übergangsrecht gestaltet. Ausgangspunkt ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbot, gerade im Prü- fungsrecht, um Willkür und unsachliche Ungleichbe- handlung zu vermeiden.33 Dabei steht dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu, den er allerdings – auch und insbesondere entsprechend der technisch-organisa- torischen Rahmenbedingungen – auszufüllen hat. Hier- zu zählt, die Änderung der Prüfungsmodalitäten trans- parent zu machen, auf ausreichende Übungsmöglichkei- ten schon während des Studiums bzw. Referendariats zu achten und ein Wahlrecht zwischen E‑Klausur und kon- ventioneller handgeschriebener Klausur einzuräumen. Eine Pflicht zur Einräumung eines dauerhaften Wahl- rechts besteht genauso wenig wie das Verbot der Einräu- mung eines zeitweiligen Wahlrechts.34
III. Elektronische Fernprüfungen
Als wir 2017/2018 die Machbarkeitsstudie zur E‑Klausur schrieben, dachte noch niemand, dass gut zwei Jahre später eine Pandemie die ganze Welt in Atem hält, mit Konsequenzen bis in den Alltag aller Menschen. Um so bemerkenswerter mag es sein, dass wir die E‑Klausur bereits in der Machbarkeitsstudie in eine komplett digi- talisierte Prüfungsumgebung eingebettet haben.35 Zwar lag der Fokus des Gutachtenauftrags klar auf der E‑Klau- sur. Berücksichtigte man unterdessen den Kontext einer E‑Klausur, konnte deren technologisches Konzept nicht sinnvoll entwickelt werden ohne Blick auf die zukünftige Digitalisierung von Lehre und Prüfung, Forschung und Verwaltung an Hochschulen. So entstand bereits eine Art Vorprüfung für elektronische Fernprüfungen, an die wir im Frühsommer 2020 unmittelbar anknüpfen konn- ten, als uns die Anfrage aus dem Bayerischen Staatsmi- nisterium für Wissenschaft und Kunst erreichte, kurz- fristig einen Verordnungstext zu entwerfen. Dass wir damit gleichsam die „Blaupause“ für das deutsche Fern- prüfungsrecht anfertigen würden und die BayFEV viel- fach kopiert würde, kam uns da noch nicht in den Sinn.
ries/detail/welche-bundeslaender-fuehren-e-examen-ein-jura-refe-
rendariat-studium-digitalisierung (letzter Zugriff am 09.02.2023). 33 Vgl. etwa BVerfG, NVwZ 1989, 645.
34 Zum Wahlrecht ausführlich Heckmann/Rachut, E‑Klausur und
elektronische Fernprüfung, S. 117 ff.
35 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und elektronische Fernprüfung,
S. 24 ff.
Rachut · E‑Klausur und elektronische Fernprüfung 9 3
94 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 89–98
Es war schlicht Eile geboten, war das Sommersemester 2020, das erste „Pandemiesemester“, doch schon fortge- schritten und drängte die Zeit, eine rechtssichere Grund- lage für Fernprüfungen zu schaffen. Nicht unbedeutend hierfür war die verfassungsrechtliche Ausgangslage.
1. Grundrechtskollisionen – Das Trilemma der Hoch- schulen
Versetzt man sich zurück in das Sommersemester 2020, ergab sich eine ganz besondere Herausforderung für den Grundrechtsschutz, ein klassisches Trilemma:
So mussten die Hochschulen gegenüber ihren einge- schriebenen Studierenden alle im jeweiligen Studien- gang vorgesehenen Prüfungen anbieten, um dem auch durch Art. 12 GG als Teilhabegrundrecht36 gestützten Prüfungsanspruch zu genügen.
Diese Prüfungen wiederum konnten nicht wie bisher im Hörsaal als Präsenzprüfung stattfinden, weil dies der staatlichen Schutzpflicht zum Schutz von Leben und Ge- sundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) widersprochen hätte: Aufgrund der Pandemielage waren zu diesem Zeitpunkt aus Gründen des Infektionsschutzes erhebliche Kontakt- beschränkungen vorgesehen, die ein Aufeinandertreffen vieler Menschen (zumal solcher mit Risikofaktoren wie Immunerkrankungen) untersagte; hinzukamen etliche unverschuldete Infektionen, die eine Quarantänepflicht nach sich zogen oder geltende Ein- und Ausreisebe- schränkungen, die ein Erreichen des Hochschulortes un- möglich machten.
Wollte man hier ausweichen und die Klausuren in „sicherer Umgebung“, nämlich der häuslichen Umge- bung (quasi der Quarantäne) schreiben lassen, standen weitere Grundrechtseinschränkungen im Raum: zum ei- nen eine Gefährdung des Persönlichkeitsschutzes gem. Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG (Recht auf informa- tionelle Selbstbestimmung, Gewährleistung der Vertrau- lichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme) sowie ein möglicher Eingriff in Art. 13 Abs. 1 GG durch die kaum vermeidbare Videoaufsicht innerhalb der Wohnung und ggf. die Installation von Software mit Ein- griffen in die Funktionalität des häuslichen Rechners; zum anderen eine mögliche Verletzung des Grundsatzes der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG), soweit die konkrete Prüfungssituation zu einer signifikanten Erhö- hung von Täuschungsmöglichkeiten führt.
- 36 Hierzu Ruffert, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, 50. Ed., Stand 15.2.2022, Art. 12 Rn. 25; Jeremias, in: Fischer/Jeremias/ Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, C., Rn. 135.
- 37 Hierzu grundlegend Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Neudruck der 20. Aufl. 1999,
Alles in allem konnte man als Hochschule in solch ei- ner Situation nur falsch handeln: egal welches Vorgehen man favorisierte, es würde zu Grundrechtseinschrän- kungen führen. Die Herausforderung für das Konzept einer diesbezüglichen Rechtsgrundlage war also, im Wege praktischer Konkordanz37 die kollidierenden Grundrechte in einen solchen Ausgleich zu bringen, dass kein Grundrecht unnötig stark beeinträchtigt wird.
Vor diesem Hintergrund entstand eine „Architektur“ für die BayFEV mit vier Säulen: Transparenz, Wahlrecht, Vertrauen, Verhältnismäßigkeit.
2. Erste Säule des BayFEV-Modells: Transparenz
Dass Transparenz quasi über allem stehen müsse, leuch- tet ein, wenn man versucht, das diffuse Gesamtbild staat- licher Prüfungen in einer Pandemiesituation zu zeich- nen. So müssen die Hochschulen bzw. Prüfungsämter zunächst einmal aufklären: über die aktuelle Sach- und Rechtslage, die denkbaren Prüfungsformate und ihre jeweiligen Rahmenbedingungen sowie die Konsequen- zen, wenn man den einen oder anderen Weg geht (hier- zu § 3 BayFEV und passim). Der Staat hat hier gleichsam eine Bringschuld. Hierzu zählt auch das Angebot von Probeklausuren unter Fernprüfungsbedingungen, um die Hinweise besser nachvollziehen zu können (§ 3 Abs. 3 BayFEV).
3. Zweite Säule des BayFEV-Modells: Wahlrecht
Auf dieser Transparenzoffensive aufbauend bildet das Wahlrecht der Studierenden (§ 8 BayFEV) die zweite Säu- le.38 Sie dürfen sich frei entscheiden, ob sie an der elektro- nischen Fernprüfung oder einer alternativ angebotenen Präsenzprüfung teilnehmen oder – während der Pande- mie – die Prüfung in das nächste Semester verschieben (ohne Nachteil im Studienverlauf, § 8 Abs. 2 Satz 3 Bay- FEV). Auf dieses Wahlrecht muss ausdrücklich hingewie- sen werden. Erst durch das Wahlrecht entsteht eine Situa- tion der Freiwilligkeit, durch die der Grundrechtsein- schränkungdieSchwere(oderggf.sogardieGrundlage) entzogen wird. Dass die Hochschulen mit der Einräu- mung eines solchen Wahlrechts einen erheblichen Orga- nisationsaufwand haben, ist unbestritten. Dieser ist aber erforderlich, um der spezifischen Grundrechtskollision gerecht zu werden. Auch wenn den Staat keine Verant- wortung für den Ausbruch der Pandemie trifft (ggf. aber
Rn. 72, 317 ff.
38 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung,
S. 190 (auch mit dem Hinweis, dass die Ausübung des Wahlrechts nicht gleichgesetzt werden darf mit einer datenschutzrechtlichen Einwilligung in die Datenverarbeitung).
eine Verantwortung für den Verlauf und manche Auswir- kungen), so spricht doch der Teilhabe‑, Schutzpflicht- und Gewährleistungscharakter der betroffenen Grund- rechte für dieses Optimierungsgebot, das der Einräu- mung des Wahlrechts innewohnt: Eingriffsminimierung durch Optimierung der eingriffsvermeidenden Umstän- de.
4. Dritte Säule des BayFEV-Modells: Vertrauen
DiesleitetüberzurdrittenSäule.Geradezuparadigma- tisch für das Konzept der BayFEV ist das Prinzip „Kont- rolle ist gut, Vertrauen ist besser“, das Dirk Heckmann in den Mittelpunkt seiner Begründung auf der Pressekonfe- renz zur Vorstellung der BayFEV am 19.9.2020 gestellt hat.39 Das Vertrauensprinzip findet sich an mehreren Stellen der Verordnung wieder und ist letztlich auch ein Ausfluss des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (hier- zu direkt im Anschluss). Es bedeutet letztlich, dass der Verordnungsgeber bei der Ausgestaltung der elektroni- schen Fernprüfung dezidierte Schranken einbaut, was die Kontroll- und Aufsichtsmöglichkeiten durch das Per- sonal der Klausuraufsicht betrifft. So findet etwa keine Raumüberwachung statt (§ 6 Abs. 1 Satz 2 BayFEV), der Einsatz einer zweiten Kamera ist genauso untersagt wie ein „360-Grad- Schwenk“ durch den Raum oder gar die Räume in der Wohnung. Ebenso untersagt ist die Erstel- lung von Persönlichkeitsprofilen durch die Prüfungs- und Kontrollsoftware („Abweichung vom Standardver- halten“40), was ein faktisches „Aus“ für den Einsatz beson- dersrisikobehafteterKI-Systemebeieinerelektronischen Fernprüfung bedeutet (§ 6 Abs. 4 Satz 5 BayFEV).41
Insgesamt beruht die elektronische Fernprüfung, so wie sie die BayFEV regelt, auf einem großen Vertrauens- vorschuss gegenüber den Studierenden. Wir gehen da- von aus, dass die meisten Studierenden die faktisch ver- bleibenden Möglichkeiten zur Täuschung nicht nutzen werden, wobei wir zwischen redlichen, verführbaren und rücksichtslosen Kandidaten unterscheiden.42
Die redlichen Studierenden täuschen ohnehin nicht, weil sie sich auf das Bewältigen der Klausuraufgabe kon- zentrieren, statt ihre Energie für aufwändige und aufrei- bende Täuschungsmanöver zu vergeuden. Dass Täu- schung wiederum nicht zu leicht gemacht wird, ist auch eine Frage der Prüfungsdidaktik: je weniger die Wieder-
- 39 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=Hbj8t9ogM3M (letzter Zugriff am 09.02.2023); vgl. auch Heckmann/Rachut, Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser, COVuR 2021, 194 ff.
- 40 Hierzu ausführlich Rachut/Besner, MMR 2021, 851, 853, 855 f.
- 41 Zur möglichen Verwendung einfacher Algorithmen vgl.§ 6 Abs. 4 BayFEV sowie Rachut/Besner, MMR 2021, 851 ff.
- 42 Heckmann/Rachut, Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser, COVuR2021, 194 (199).
gabe von erlernten Tatsachen verlangt wird, je mehr es um Transferwissen und Methode geht, um so schwieri- ger ist es, auf unzulässige Quellen zurückzugreifen, weil dies bei der Korrektur eher auffallen würde.
Die verführbaren Studierenden werden dann auf un- zulässige Quellen zurückgreifen, wenn sie sich bei die- sem Verhalten „im Recht sehen“: etwa, weil der Prüfungs- stoff zu schwer ist oder von kommunizierten Eingren- zungen abweicht. Das lässt sich durch einen zielführen- den Unterricht und eine faire Prüfungsgestaltung verhindern. Hinzu kommt die abschreckende Wirkung des Aufsichtsdrucks durch die Kontrolle mittels einfa- cher Videoaufsicht.
Das ist anders bei den rücksichtslosen Studierenden, die jede Gelegenheit nutzen, sich einen – auch unzuläs- sigen – Vorteil zu verschaffen. Solche Personen verhalten sich ähnlich wie die Raser im Straßenverkehr, deren Ver- kehrsverstöße nur bei einer flächendeckenden Verkehrs- überwachung unterbunden werden könnten. Genau das ist aber weder im Straßenverkehrsrecht noch den bishe- rigen Präsenzklausuren vorgesehen, im Gegenteil: Das Bundesverfassungsgericht hat sich mehrfach kritisch schon zum „Gefühl“ des „permanenten Überwachtseins“43 geäußert und erteilt einer „Totalüberwachung“ eine klare Absage.
5. Vierte Säule des BayFEV-Modells: Verhältnismäßig- keit
Genau hier knüpft auch die vierte Säule unseres Modells an: die Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns ist auch ein Gebot im Rahmen der Klausuraufsicht. Wollte man bei elektronischen Fernprüfungen jegliche Kontrol- len vornehmen, die technisch möglich sind, wäre schon fraglich, ob diese überhaupt erforderlich sind. Allemal wären sie nicht angemessen.44 In keinem Lebensbereich ist „Totalüberwachung“ (Überwachung um jeden Preis) zulässig: weder im Straßenverkehr noch bei Leistungs- kontrollen am Arbeitsplatz.45 In der Grundrechtsabwä- gung spielt die Chancengerechtigkeit eine wichtige Rol- le. Sie ist aber – wie gesehen – in praktische Konkordanz zum Schutz der Privatsphäre, der Unverletzlichkeit der Wohnung und der Vertraulichkeit und Integrität infor- mationstechnischer Systeme zu bringen. Unsere Rechts- ordnung nimmt in vielen Bereichen Risiken in Kauf,
43 BVerfGE 120, 378.
44 Ausführlich zu den hohen verfassungsrechtlichen Anforderungen
Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung, S.
171 ff.
45 Beispielhaft BAG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16 –,
BAGE 159, 380 ff. zur Unzulässigkeit des Einsatzes von Keylog- gern im Rahmen einer anlasslosen Überwachung des Arbeitsplat- zes.
Rachut · E‑Klausur und elektronische Fernprüfung 9 5
96 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 89–98
eine Null-Risiko-Strategie wird nicht einmal beim Betrieb gefährlicher Anlagen gefordert.46 Warum also sollten ausgerechnet Risiken von Täuschungshandlun- gen in Klausuren erhebliche Eingriffe in die genannten Schutzgüter durch stärkere Kontrollen rechtfertigen?47
6. Moderate Prüfungsaufsicht
Legt man die genannten vier Säulen der Architektur des Fernprüfungssystems zugrunde, kommt man zu einem auf Vertrauen, moderater Kontrolle und didaktischer Anpassung beruhenden Prüfungssystem. Die Klausur wird beaufsichtigt, jedoch erfasst die standardmäßige Videoaufsicht nur die Prüfung des Verbleibs der Kandi- daten vor dem Bildschirm (statisches Kamerabild) und das Unterbleiben von Gesprächen im Raum (offenes Mikrofon). Dies bildet praktisch die Kontrolle im realen Prüfungsraum ab. Gegebenenfalls kann eine Prüfungs- software zur Anwendung gelangen, die für den Klausur- zeitraum bestimmte Funktionen (z.B. das Nutzen der Zwischenablage oder eine Internetrecherche) unterbin- det. Weitere Täuschungsmöglichkeiten mögen auch dadurch vermieden werden, indem man die Verwen- dung von Hilfsmitteln wie Studienunterlagen ausdrück- lich erlaubt (sog. Open Books Klausuren).
IV. Prüfungskulturwandel
Dies alles soll eine Prüfungssituation schaffen, in der sich Prüfende und Studierende mit Respekt, Fairness, Vertrauen und Zuversicht begegnen. Würde eine Hoch- schule demgegenüber durch die Prüfungsmodalitäten dezidiert eine Atmosphäre des Misstrauens erzeugen, müsste sie sich fragen, welches Menschenbild sie ausge- rechnet bei jenen Menschen zugrunde legen will, die als ihre Absolventen künftig die Hoffnungs- und Leistungs- träger der Gesellschaft darstellen sollen. Oder anders ausgedrückt:
„Der freiheitliche Verfassungsstaat lebt von Vorausset- zungen, die er selbst nicht garantieren kann: Mit die- sem Satz sprach Ernst-Wolfgang Böckenförde auch die
- 46 Zum Risikobegriff im Technikrecht Debus, Strategien zum Um- gang mit sagenhaften Risikotypen, insbesondere am Beispiel der Kernenergie, in: Scharrer et. al. (Hrsg.), Risiko im Recht — Recht im Risiko, 2011, S. 11 ff.
- 47 Vgl. zum Umgang mit Täuschungsversuchen im Rahmen von elektronischen Fernprüfungen Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung, S. 222 ff.
- 48 Heckmann/Rachut, Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser, COVuR 2021, 194 (200).
- 49 Ausführlich Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische
gewollte Unvollkommenheit der Rechtsdurchsetzung und die hohe Bedeutung der Akzeptanzstiftung in ei- ner freien Gesellschaft an. Wo könnte dieses Prinzip besser gelernt und gelehrt werden als an den Hochschulen?“48
Letztlich zwingt die Pandemie mit der Notwendig- keit elektronischer Fernprüfungen zum Umdenken in Prüfungsdidaktik und Prüfungskultur.49 Schon länger wird diskutiert, ob bestimmte Prüfungsformate über- haupt noch zeitgemäß sind.50 Wie wichtig ist das Aus- wendiglernen eines Prüfungsstoffs? Sind die Klausurin- halte und ihre Methodik überhaupt noch angemessen, passen sie zu den Anforderungen der Berufspraxis, auf die sie vorbereiten sollen? Gerade bei juristischen Prü- fungen ist der Unterschied zwischen Prüfung und Praxis besonders stark: Während man im 1. Staatsexamen noch als Einzelkämpfer mit Gesetzestext komplexe Fälle lösen soll, arbeitet man später in Teams mit juristischen Da- tenbanken. Wenn man dann noch hinzunimmt, dass künftig Legal-3Tech-Anwendungen51 und KI-Systeme wie ChatGPT oder you.com zumindest eine teilautoma- tisierte Rechtsdurchsetzung52 ermöglichen, entfernt sich die konventionelle Juristenausbildung immer mehr von der Rechtspraxis. Hier gilt es gegenzusteuern. Gefragt sind Kreativität, kritische Reflexion, Technikverständnis und Zielorientierung. All das lässt sich (ein Stück weit) erlernen, üben und anwenden, mit wenig Aufsichtsdruck.
Das zeigt auch der Umgang mit ChatGPT, einer KI- Anwendung des Text- und Dataminings des Unterneh- mens OpenAI, um die ein regelrechter Hype entstanden ist.53 Mit deren Hilfe lassen sich mehr oder weniger fun- dierte Antworten auf bestimmte (Fach-) Fragen finden. Dabei muss indes die Funktionsweise dieser Systeme be- rücksichtigt werden, sodass diese Anwendung nicht wie ein großes Lexikon oder eine Suchmaschine genutzt werden kann, sondern anhand seiner Trainingsdaten le- diglich aufgrund von Wahrscheinlichkeiten möglichst korrekte bzw. erwünschte Textvervollständigung ausgibt. Die daraus ermittelten Aussagen können, müssen aber
Fernprüfung, S. 218 ff.
50 Hierzu auch die Initiative www.iurreform.de (letzter Zugriff am
09.02.2022).
51 Hierzu statt Vieler Breidenbach/Glatz, Rechtshandbuch Legal
Tech, 2. Aufl. 2021.
52 Zu Grenzen automatisierter Rechtsverwirklichung Paschke, MMR
2019, 563 ff.
53 Zum Einstieg siehe Braegelmann, Der ChatGPTorische Imperativ,
Blogbeitrag vom 12.12.2022, https://www.legal-tech.de/chatgpt/ (letzter Zugriff am 09.02.2023).
nicht fachlich fundiert sein und der Intention des Fragen- den entsprechen.
Der Reflex unter den Prüfenden ließ nicht lange auf sich warten: vielfach wurde ein Verbot dieser Anwen- dung diskutiert, manche (Hoch-)Schulen in den USA haben die Anwendung bereits auf ihren Rechnern unter- bunden.54 Nur langsam entfaltet sich (auch in Deutsch- land) die Erkenntnis, solche Innovationen in den Unter- richt einzubauen oder gar in Prüfungen zuzulassen: nicht etwa, um dem System die Lösung der Klausurauf- gabe zu überlassen, sondern vielmehr, um dessen Funk- tionalität als Teil eines Erkenntnisprozesses zu begreifen. Dies wiederum setzt natürlich neuartige Prüfungen vor- aus, die mehr auf Methode und Erkenntnis als auf rei- nes Wissen setzen. Dass damit die früher wiederver- wendbaren Klausuraufgaben zur Makulatur werden, ist vielleicht der Preis für eine sich audrängende Moderni- sierung des Prüfungswesens.
E‑Klausur und elektronische Fernprüfung sind so gesehen auch nur die Vorboten für eine (weltweite)
Umwälzung im Bildungswesen, eine digitale Transfor- mation, bei der Deutschland vor der Wahl steht: Entwe- der man gestaltet den Umbruch selbst und integriert technische Innovationen so, dass sie unseren Werten und Standards entsprechend optimalen Nutzen entfal- ten. Oder man hinkt ein weiteres Mal so weit hinterher, dass die Gestaltungshoheit bei jenen Unternehmen liegt, die ein eigenes Werteverständnis gleich mit ein- bauen: Code is law.55 Ob man das durch Regulierung je eingefangen bekommt, ist fraglich, wie man an den Be- mühungen um den Persönlichkeitsschutz in sozialen Netzwerken56 (Digital Services Act) sieht.57
Sarah Rachut ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Recht und Sicherheit der Digitalisierung (Prof. Dr. Dirk Heckmann) an der Technischen Univer- sität München und Geschäftsführerin der Forschungs- stelle TUM Center for Digital Public Services. Sie forscht und lehrt zu verfassungsrechtlichen Fragen der Digitalisierung, schwerpunktmäßig in den Bereichen E‑Government, E‑Health und E‑Education.
54 Zum Verbot von ChatGPT an New Yorker Schulen: https:// ny.chalkbeat.org/2023/1/3/23537987/nyc-schools-ban-chatgpt- writing-artificial-intelligence. Vgl. auch den Blogbeitrag von Donath vom 6.1.2023: https://www.golem.de/news/schule- und-wissenschaft-nutzungsverbote-gegen-chatgpt-ausgespro- chen-2301–171004.html (letzter Zugriff am 09.02.2023).
55 Lawrence Lessig, Code is law, 1999.
56 Ein Gesetz zur Verbesserung des Persönlichkeitsrechtsschutzes
im Internet schlagen Anne Paschke und Dirk Heckmann vor, siehe
Heckmann/Paschke, DRiZ 2018, 144 ff.
57 Peukert, Zu Risiken und Nebenwirkungen des Gesetzes über
digitale Dienste (Digital Services Act), KritV 2022, 57 ff.
Rachut · E‑Klausur und elektronische Fernprüfung 9 7
98 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 89–98