Menü Schließen
Klicke hier zur PDF-Version des Beitrags!

page1image54964208page1image41123024

Dirk Heck­mann und Lorenz Marx

Hans Burk­hardt Tho­mas Würtenberger

Sarah Rach­ut

KI-Ein­satz zur Leis­tungs­kon­trol­le am (Hochschul-)Arbeitsplatz
Anfor­de­run­gen aus Sicht des Daten­schutz- rechts 63–70

Ein Bei­trag zur Künst­li­chen Intelligenz

71–78

Stu­di­um der Psy­cho­the­ra­pie — auch an Hoch- schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten? 79–88

E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung: Tech­no­lo­gi­scher Fort­schritt und Prü­fungs­kul- tur­wan­del im Spie­gel des Rechts
- Ein Werk­statt­be­richt 89–98

Heft 2 / 2023

Auf­sät­ze

Urteils­be­spre­chun­gen

Georg Cas­pers Felix Hornfischer

Arbeits­zeit­er­fas­sung an Hoch­schu­len — Anmer­kung zum Beschluss des BAG vom 13.9.2022 — 1 ABR 22/21 — 99–106

Zur Reich­wei­te der Lehr­ver­pflich­tung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 LHG BW i. V. m. der Lehr­ver­pflich­tungs­ver­ord­nung.
Zugleich Bespre­chung des Urteils des Ver- wal­tungs­ge­richts Karls­ru­he vom 14.12.2020 — 11 K 1503/19 — 107–114

Ord­nung der Wis­sen­schaft 2023, ISBN/ISSN 3–45678-222–7

ORDNUNG DER WISSENSCHAFT (2023)

Berich­te

Bern­hard Weis­ser Zur Aus­stel­lung der Medail­len­samm­lung Ius in num­mis im Münz­ka­bi­nett der Staatli-

chen Muse­en zu Ber­lin 115–118 Johan­nes M. Deutsch Juris­ten­aus­bil­dung in Kana­da 119–126

Aus­ge­gra­ben
Johann Hein­rich Gott­lob Jus­ti Über die stu­die­ren­de Jugend 127–128

I. Ein­lei­tung

II. Ver­hal­tens- und Leis­tungs­kon­trol­len im betrieb­li­chen und wis­sen­schaft­li­chen Bereich

III. Sta­tus Quo: Grund­la­gen des (Beschäftigten-)Datenschutzes im Kon­text von Ver­hal­tens- und Leistungskontrolle

IV. Her­aus­for­de­run­gen und Lösungs­an­sät­ze
1. Inter­es­sens­ab­wä­gung bei Leis­tungs­kon­trol­le am Arbeitsplatz

2. Der Ein­satz von KI zur Leis­tungs­kon­trol­le: Ver­schär­fung der Über­wa­chung oder legi­ti­mes „Fein­tu­ning“?

V. Aus­blick auf den KI-Ein­satz zur Leis­tungs­kon­trol­le im Be- schäf­ti­gungs­kon­text im Jahr 2030

VI. Hand­lungs­emp­feh­lun­gen VII. Zusammenfassung

I. Ein­lei­tung

Seit das text­ba­sier­te Dia­log­sys­tem (Chat­bot) ChatGPT des US-ame­ri­ka­ni­schen Unter­neh­mens Ope­nAI Ende 2022 zur kos­ten­frei­en Ver­wen­dung online gestellt wur- de, ist ein regel­rech­ter Hype um KI-gestütz­te Text­ge­ne- rato­ren, das zugrun­de­lie­gen­de Text- und Data-Mining und deren Anwen­dungs­mög­lich­kei­ten u.a. auch in recht­li­chen Kontexten2 ent­stan­den. Die Fort­schrit­te, die in der Ent­wick­lung von KI-Anwen­dun­gen sicht­bar wer-

  1. 1  Der Bei­trag knüpft an den pro­jekt­be­zo­ge­nen Bei­trag „Infor­ma- tio­nel­le Selbst­be­stim­mung in der digi­ta­len Arbeits­welt“ aus dem BMBF-geför­der­ten Pro­jekt „Inver­se Trans­pa­renz — Betei­li­gungs­ori- entier­te Ansät­ze für Daten­sou­ve­rä­ni­tät in der digi­ta­len Arbeits­welt gestal­ten“ an, der am 24.5.2022 im For­schungs­re­port „Daten – In- nova­ti­on – Pri­vat­heit: Mit Inver­ser Trans­pa­renz das Gestal­tungs­di- lem­ma der digi­ta­len Arbeits­welt lösen“, S. 56 ff., erschie­nen ist. Der vor­lie­gen­de Bei­trag ent­wi­ckelt die­se Gedan­ken zum KI-Ein­satz im Kon­text staat­li­cher Hoch­schu­len wei­ter und sucht Lösungs­an- sät­ze für eine ver­hält­nis­mä­ßi­ge Leis­tungs- und Ver­hal­tens­kont- rol­le mit­tels algo­rith­mi­scher Systeme.
  2. 2  Hier­zu Bachgrund/Nesum/Bernstein/Burchard, Das Pro und Con- tra für Chat­bots in Rechts­pra­xis und Rechts­dog­ma­tik, CR 2023, 132 ff.
  3. 3  Vgl. u.a. https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/zalando-ueber- wachung-zonar‑1.4688431 (letz­ter Zugriff am 27.02.2023).
  4. 4  Lurtz, Bewer­tungs­tech­no­lo­gien im Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis – eine (ers­te) daten­schutz­recht­li­che Bewer­tung, ZD-Aktu­ell 2020,

den, füh­ren dazu, dass auch sol­che Ein­satz­sze­na­ri­en auf den Prüf­stand kom­men, die schon ver­meint­lich recht- lich geklärt schie­nen. Dies gilt etwa für Leis­tungs­kont- rol­len bzw. Auf­sichts­maß­nah­men des Arbeit­ge­bers oder Dienst­herrn gegen­über Beschäftigten.

Der Ein­satz von KI-Sys­te­men zur Leis­tungs­kon­trol­le am Arbeits­platz ist in den ver­gan­ge­nen Jah­ren ver­stärkt in den öffent­li­chen Fokus gerückt. Im Novem­ber 2019 geriet bei­spiels­wei­se das Ber­li­ner Start­up Zalan­do in die Schlag­zei­len durch den Ein­satz einer Per­so­nal­soft­ware namens „Zonar“, mit der die Leis­tung und das Ver­hal­ten von Arbeits­kol­le­gen bewer­tet wer­den kann.3 Das The­ma wur­de ver­ein­zelt auch in juris­ti­schen Fach­krei­sen auf­ge- griffen.4 Wohl in Fol­ge der kri­ti­schen Bericht­erstat­tung nahm Zalan­do Ände­run­gen an der Soft­ware vor.5 Im Juni 2020 waren die eben­falls von Zalan­do ver­wen­de­ten Soft­ware-Sys­te­me „Zalos“ und „Zafe­to“ Gegen­stand des öffent­li­chen Diskurses.6 Mit die­sen bei­den Tools kann etwa erfasst wer­den, wie vie­le Arti­kel ein Beschäf­tig­ter pro Schicht bearbeitet.7 In den bei­den letz­te­ren Fäl­len hat die Ber­li­ner Beauf­trag­te für Daten­schutz und Infor- mati­ons­frei­heit eine Prü­fung ein­ge­lei­tet und Ände- rungs­hin­wei­se erteilt.8 Die fort­wäh­ren­de Erfas­sung von Leis­tungs­da­ten beim Online-Händ­ler Ama­zon wur­de hin­ge­gen — nach Unter­sa­gung durch die Landesbeauf-

06926; Holt­hau­sen, Big Data, Peo­p­le Ana­ly­tics, KI und Gestal­tung von Betriebs­ver­ein­ba­run­gen– Grund‑, arbeits- und daten­schutz- recht­li­che An- und Her­aus­for­de­run­gen, RdA 2021, 19, 22 Fn. 65; Joos, Ein­satz von künst­li­cher Intel­li­genz im Per­so­nal­we­sen unter Beach­tung der DS-GVO und des BDSG, NZA 2020, 1216, 1221.

5 Vgl. https://www.datenschutz-notizen.de/zalando-aendert- eige­ne-bewer­tungs­soft­ware-zonar-2829837/ (letz­ter Zugriff am 27.02.2023).

6 Vgl. u.a. https://t3n.de/news/ueberwachung-berlin- prueft-1286877/ (letz­ter Zugriff am 27.02.2023).

7 Vgl. https://www.zeit.de/wirtschaft/unternehmen/2020–05/zalan- do-datenschutzbeauftragte-pruefverfahren-logistikzentrum?utm_ referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F (letz­ter Zugriff am 27.02.2023).

8 Vgl. Ber­li­ner Beauf­trag­te für Daten­schutz und Infor­ma­ti­ons­frei- heit, Jah­res­be­richt 2020 Daten­schutz und Infor­ma­ti­ons­frei­heit, S. 267.

Dirk Heck­mann und Lorenz Marx

KI-Ein­satz zur Leis­tungs­kon­trol­le am (Hochschul-)Arbeitsplatz1
Anfor­de­run­gen aus Sicht des Datenschutzrechts

Ord­nung der Wis­sen­schaft 2023, ISSN 2197–9197

64 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 63–70

trag­te für den Daten­schutz Nie­der­sach­sen — erst kürz­lich gericht­lich für zuläs­sig erklärt.9 Die in Echt­zeit minu­ti­ös erfol­gen­de Erfas­sung der Arbeits­schrit­te von Mit­ar­bei- tern wur­de vom Gericht unter dem Aspekt logis­ti­scher Abläu­fe für erfor­der­lich gehalten.10

Die­se Bei­spie­le zei­gen nur einen Aus­schnitt des denk­bar brei­ten Spek­trums an poten­zi­el­len Anwen- dungs­fäl­len für eine KI-unter­stütz­te Leis­tungs­kon­trol­le nicht nur in der Wirt­schaft, son­dern auch an Hoch­schu- len und For­schungs­ein­rich­tun­gen, die in Zukunft durch gro­ße Trends wie Big Data und die Ver­füg­bar­keit immer viel­fäl­ti­ge­rer und leis­tungs­fä­hi­ge­rer algo­rith­mi­scher Sys­te- me noch wach­sen dürf­te. Anders als beim Ein­satz von KI-Sys­te­men im Rah­men des Bewer­bungs­pro­zes­ses wird der Ein­satz von KI zur Leis­tungs­kon­trol­le wäh­rend des Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­ses in der Rechts­wis­sen­schaft noch ver­gleichs­wei­se wenig diskutiert.11 Die­ser Bei­trag zeigt die daten­schutz­recht­li­chen Deter­mi­nan­ten sowie den ver­blei­ben­den Akti­ons­ra­di­us auf.

II. Ver­hal­tens- und Leis­tungs­kon­trol­len im betrieb­li- chen und wis­sen­schaft­li­chen Bereich

Die fort­wäh­ren­de Über­wa­chung und die Kon­trol­le des Ver­hal­tens sowie der Leis­tung von Beschäf­tig­ten im Hin- blick auf ihre (außer-)vertraglichen Pflich­ten ist ein eng mit der Durch­füh­rung des Arbeits­ver­hält­nis­ses ver­bun- denes Instrument.12 Sol­che Ver­hal­tens- und Leis­tungs- kon­trol­len sind dabei nicht auto­ma­tisch Aus­druck von Miss­trau­en im macht­asym­me­tri­schen Ver­hält­nis von Vor­ge­setz­ten und Beschäf­tig­ten. Viel­mehr kön­nen sol- che Kon­trol­len auch geeig­net sein, inter­ne Pro­zes­se zu über­ar­bei­ten und zu opti­mie­ren und erfor­der­lich sein, um Com­pli­ance-Pflich­ten nach­zu­kom­men (s.u. IV.1.).

Dabei sind die Arten von Leis­tungs­kon­trol­len außer- ordent­lich viel­fäl­tig. Der tech­ni­sche Fort­schritt der digi- talen Trans­for­ma­ti­on und die rasch voranschreitende

  1. 9  VG Han­no­ver 9.2.2023, 10 A 6199/20; s. hier­zu auch https:// www.verwaltungsgericht-hannover.niedersachsen.de/aktuelles/ pres­se­mit­tei­lun­gen/­da­ten­er­he­bung-bei-ama­zon-in-win­sen-ist- rechtmassig-219664.html (letz­ter Zugriff am 27.02.2023).
  2. 10  Vgl. auch Mon­tag, Stän­di­ge Mit­ar­bei­ter­kon­trol­le bei Ama­zon Logis­tik nicht zu bean­stan­den, beck-aktu­ell v. 10. Febru­ar 2023 zu VG Han­no­ver 9.2.2023, 10 A 6199/20.
  3. 11  So auch Joos, Ein­satz von künst­li­cher Intel­li­genz im Per­so­nal­we- sen unter Beach­tung der DS-GVO und des BDSG, NZA 2020, 1216, 1221.

Auto­ma­ti­sie­rung von Pro­zes­sen mit­tels rie­si­ger Daten- men­gen ermög­licht immer neue­re und wei­ter­ge­hen­de Kon­trol­len. Im betrieb­li­chen Beschäf­tig­ten­kon­text sind para­dig­ma­tisch die Zeit­er­fas­sung, Video­über­wa­chung, GPS-Track­ing, die Kon­trol­le und Pro­to­kol­lie­rung der IT-Nut­zung oder die Ver­ar­bei­tung von Bewer­tun­gen von Beschäf­tig­ten und Vor­ge­setz­ten anzu­füh­ren. Derar- tige Instru­men­te erzeu­gen eine Viel­zahl von Daten­punk- ten. Da sich Ver­hal­tens- und Leis­tungs­da­ten sinn­vol­ler- wei­se immer bestimm­ten, hier­durch zumin­dest iden­ti­fi- zier­ba­ren Per­so­nen zuord­nen las­sen, han­delt es sich in aller Regel um per­so­nen­be­zo­ge­ne Daten gemäß Art. 4 Nr. 1 DSGVO,13 wes­halb die beschrie­be­nen Orga­ni­sa­ti- ons­in­ter­es­sen immer auch mit dem Schutz der Per­sön- lich­keits­rech­te der Mit­ar­bei­ter in Ein­klang zu brin­gen sind (s. hier­zu aus­führ­lich IV.).

Auch in staat­li­chen Hoch­schu­len und For­schung­sein- rich­tun­gen kön­nen Ver­hal­tens- und Leis­tungs­kon­trol­len zur Pro­zess­op­ti­mie­rung und Ein­hal­tung von Com­pli- ance-Anfor­de­run­gen geeig­net sein und daher Anwen- dung fin­den. Hier­bei ist aber streng zwi­schen nicht-wis- sen­schaft­li­chem und wis­sen­schaft­li­chem Per­so­nal zu dif­fe­ren­zie­ren. Die Instru­men­te zur Mit­ar­bei­ter­über­wa- chung bei nicht-wis­sen­schaft­li­chem, in der Regel mit Ver­wal­tungs­auf­ga­ben betrau­tem Per­so­nal kön­nen auf- grund der Linea­ri­tät und Wie­der­hol­bar­keit der Auf­ga- ben und der regel­mä­ßig vor­de­fi­nier­ten Zie­le durch­aus denen im betrieb­li­chen Kon­text (s.o.) ähneln.

Bei wis­sen­schaft­li­chem Per­so­nal gestal­ten sich derar- tige Leis­tungs­kon­trol­len schwie­ri­ger. Auch wenn ihre Arbeit sich an einem Erkennt­nis­ge­winn orientiert,14 kann hier­aus noch kein mess­ba­res Ziel geschlos­sen wer- den, zumin­dest kein vor­de­fi­nier­tes. Im Lich­te der ver­fas- sungs­recht­lich geschütz­ten Wis­sen­schafts­frei­heit nach Art. 5 Abs. 3 GG bzw. der For­schungs­frei­heit nach Art. 13 GRCh müss­te man bereits bei der Fra­ge anset­zen, was über­haupt unter „Leis­tung“ in die­sem Kon­text zu

12 Taeger/Gabel/Zöll, 4. Aufl. 2022, BDSG § 26 Rn. 41; ErfK/Fran- zen, 23. Aufl. 2023, BDSG § 26 Rn. 22.

13 Vgl. so auch Win­ter, Leis­tungs­da­ten im Kon­text des Daten­schutz- rechts, SpuRt 2020, 168, 169.

14 Das BVerfG defi­niert For­schung als „geis­ti­ge Tätig­keit mit dem Zie­le, in metho­di­scher, sys­te­ma­ti­scher und nach­prüf­ba­rer Wei­se neue Erkennt­nis­se zu gewin­nen“, s. BVerfG 29.5.1973, 1 BvR 325/72, BVerfGE 35, 79, 113, vgl. auch Dürig/Herzog/Scholz/Gär- ditz, 99. EL Sept. 2022, GG Art. 5 Abs. 3 Rn. 94.

Heckmann/Marx · KI-Ein­satz zur Leis­tungs­kon­trol­le am (Hochschul-)Arbeitsplatz 6 5

ver­ste­hen ist und an wel­chen Para­me­tern eine Leis­tungs- kon­trol­le anset­zen kann. Staat­li­che Hoch­schu­len wer­den im Rah­men der Wis­sen­schafts­frei­heit gegen­über ihren wis­sen­schaft­li­chen Mit­ar­bei­tern zur Gewähr­leis­tung von Frei­heit in Leh­re und For­schung verpflichtet.15 Eineinhalt­li­che Kon­trol­le von wis­sen­schaft­li­chem Per­so­nal kann nur mit „Mit­teln des wis­sen­schaft­li­chen Dis­kur­ses“ erfol­gen, solan­ge dem jewei­li­gen For­schungs­er­geb­nis nicht bereits der ernst­haf­te Ver­such abge­spro­chen wer- den kann, die Grund­sät­ze wis­sen­schaft­li­chen Arbei­tens zu beachten.16 Hier­bei rückt ins­be­son­de­re algo­rith­men- basier­te Pla­gi­ats­soft­ware in den Fokus, die rie­si­ge Men- gen an Text­da­ten agg­re­giert und wis­sen­schaft­li­che Tex­te mit den zugrun­de­lie­gen­den Text­da­ten ver­gleicht, um Über­ein­stim­mun­gen fest­zu­stel­len. Eben­so könn­te künf- tig die sog. Anma­ßung einer wis­sen­schaft­li­chen Auto- ren­schaft, die ein mit den wis­sen­schaft­li­chen Grund­sät- zen unver­ein­ba­res Fehl­ver­hal­ten darstellt,17 zum Bei­spiel durch tech­ni­sche Erwei­te­run­gen bereits viel­fach ver- wen­de­ter Pro­jekt­ver­wal­tungs­soft­ware, die häu­fig alle Ent­wick­lungs­schrit­te und inhalt­li­chen Bei­trä­ge der tat- säch­lich betei­lig­ten Wis­sen­schaft­ler spei­chert, auto­ma­ti- siert iden­ti­fi­ziert werden.

Dar­über hin­aus sind aber auch hier die neu­er­li­chen Aus­wir­kun­gen KI-gestütz­ter Sys­te­me wie ChatGPT zu beach­ten: Wäh­rend her­kömm­li­che Pla­gi­ats­soft­ware die Tex­te des Dia­log­sys­tems teil­wei­se als „mensch­lich echt“ einstufte,18 ver­fügt Soft­ware, die spe­zi­fisch zur Auf­de- ckung ChatGPT-gene­rier­ter Tex­te ent­wi­ckelt wur­de (z.B.GPTZero),nochnichtüberdieerforderlicheLeis- tungs­fä­hig­keit und Treffsicherheit.19 Sowohl her­kömm­li- che als auch spe­zi­fi­sche Pla­gi­ats­kon­trol­le funk­tio­niert also noch nicht hin­rei­chend zuver­läs­sig. KI-Sys­te­me brin­gen nun­mehr KI-Sys­te­me zur Pla­gi­ats­kon­trol­le an ihre Grenzen.

Die beschrie­be­nen betrieb­li­chen Instru­men­te zur Ver­hal­tens- und Leis­tungs­kon­trol­le kön­nen auf Wis­sen- schaft­ler mit Blick auf deren indi­vi­du­ell gewährleistete

  1. 15  Jarass/Pieroth/Jarass, 17. Aufl. 2022, GG Art. 5 Rn. 133.
  2. 16  So bzgl. Hoch­schul­leh­rern auch BVerfG 8.8.2000, 1 BvR653/97, NJW 00, 3635; Jarass/Pieroth/Jarass, 17. Aufl. 2022, GGArt. 5 Rn. 155.
  3. 17  DFG, Gui­de­lines for Safe­guar­ding Good Rese­arch Prac­ti­ce. Codeof Con­duct, 2022, S. 18 f.
  4. 18  S. hier­zu auch https://www.br.de/nachrichten/netzwelt/ki-darf-chatgpt-wissenschaftliche-artikel-schreiben,TTxluZc (letzt­er­Zu­griff am 27.02.2023).
  5. 19  Vgl. auch https://t3n.de/news/app-gptzero-chatgpt-plagi-at-1525329/ (letz­ter Zugriff am 27.02.2023).
  6. 20  BVerfG 13.4.2010, 1 BvR 216/07, BVerfGE 126, 1, 25; Jarass/Pieroth/Jarass, 17. Aufl. 2022, GG Art. 5 Rn. 149.

Wis­sen­schafts­frei­heit nicht ohne Wei­te­res über­tra­gen wer­den. Am ehes­ten kann deren Ein­satz aus­nahms­wei­se noch mit einer völ­lig feh­len­den Beach­tung der Grund- sät­ze wis­sen­schaft­li­chen Arbei­tens im Ein­zel­fall oder mit dem Erhalt der Funktionsfähigkeit20 der jewei­li­gen Hoch­schu­le begrün­det werden.

III. Sta­tus Quo: Grund­la­gen des (Beschäf­tig­ten-) Daten­schut­zes im Kon­text von Ver­hal­tens- und Leis- tungskontrolle

Trotz ver­ein­zel­ter rechts­po­li­ti­scher Bemü­hun­gen in der Ver­gan­gen­heit gibt es in Deutsch­land bis­lang kein (nati- ona­les) Beschäf­tig­ten­da­ten­schutz­ge­setz.21 Ein durch das Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Arbeit und Sozia­les (BMAS) ein­ge­setz­ter inter­dis­zi­pli­nä­rer und unab­hän­gi­ger Bei­rat kam in sei­nem Abschluss­be­richt im Janu­ar 2022 zu dem Ergeb­nis, dass ein sol­ches eigen­stän­di­ges Gesetz aber durch­aus erfor­der­lich sei.22 Auch mit der Neu­ord­nung des euro­päi­schen Daten­schutz­rechts durch die Daten- schutz- Grund­ver­ord­nung (DSGVO) wird der Beschäf- tig­ten­da­ten­schutz nicht direkt auf Uni­ons­ebe­ne gere­gelt. Die DSGVO sta­tu­iert in Art. 88 Abs. 1 aber eine Öff- nungs­klau­sel zur Ver­ar­bei­tung per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten im Beschäf­ti­gungs­kon­text. Dar­über hin­aus zieht sie in Art. 88 Abs. 2 Gren­zen für (auto­ma­ti­sier­te) Über- wachungs­sys­te­me am Arbeits­platz, beson­ders mit Blick auf die Men­schen­wür­de und berech­tig­te Inter­es­sen der Betroffenen.23

In Anwen­dung der Öff­nungs­klau­sel des Art. 88 Abs. 1 DSGVO stellt § 26 BDSG die rele­van­te Rechts­grund­la­ge für die Ver­ar­bei­tung per­so­nen­be­zo­ge- ner Daten im Rah­men von bestimm­ten Beschäf­ti­gungs- ver­hält­nis­sen dar, die den all­ge­mei­ne­ren Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO in ihrem Anwen­dungs­be­reich verdrängt.24 Gemäß § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG dür­fen per­so- nen­be­zo­ge­ne Daten für die Zwe­cke des Beschäf­ti­gungs- ver­hält­nis­ses (unter ande­rem) ver­ar­bei­tet wer­den, wenn

21 Hier­zu Heckmann/Paschke/Braun, jurisPK-Inter­net­recht, 7. Aufl. 2021, Kap. 7 Rn. 11.

22 Vgl. zum Ergeb­nis des unab­hän­gi­gen, inter­dis­zi­pli­nä­ren Bei­rats zum Beschäf­tig­ten­da­ten­schutz auch https://www.bmas.de/DE/ Ser­vice­/­Pres­se/­Mel­dun­gen/2022/b­mas-ver­oef­fent­licht-ergeb­nis­se- des-beirats-zum-beschaeftigtendatenschutz.html (letz­ter Zugriff am 27.02.2023).

23 Beck­OK DatenschutzR/Rie­sen­hu­ber, 42. Ed. 1.11.2022, DSGVO Art. 88 Rn. 91; Paal/Pauly/Pau­ly, 3. Aufl. 2021, DSGVO Art. 88 Rn. 17.

24 Maschmann, Füh­rung und Mit­ar­bei­ter­kon­trol­le nach neu­em Daten­schutz­recht, NZA-Bei­la­ge 2018, 115, 116.

66 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 63–70

es für die Durch­füh­rung des Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis- ses erfor­der­lich ist. „Die Kon­trol­le, ob der Arbeit­neh­mer sei­nen Pflich­ten nach­kommt“, gehört dabei eben­so zur Durch­füh­rung des Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­ses und fällt des­halb in den Anwen­dungs­be­reich des § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG.25

Erfolgt die Daten­ver­ar­bei­tung auf Grund­la­ge einer Ein­wil­li­gung, so legt § 26 Abs. 2 BDSG die Prüf­kri­te­ri­en für die Wirk­sam­keit der Ein­wil­li­gung fest. Ins­be­son­de­re die für das Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis cha­rak­te­ris­ti­sche Macht­asym­me­trie ist nach § 26 Abs. 2 S. 1 BDSG für die Beur­tei­lung der Frei­wil­lig­keit der Ein­wil­li­gung zu be- ach­ten. Nach § 26 Abs. 2 S. 2 BDSG kommt eine Frei­wil- lig­keit ins­be­son­de­re in Betracht, wenn ein Vor­teil für die beschäf­tig­te Per­son erreicht wird. Die­ser Vor­teil kann sowohl wirt­schaft­li­cher als auch recht­li­cher Natur sein. Eine Ein­wil­li­gung kann auch ins­be­son­de­re dann frei­wil- lig sein, wenn eine kon­gru­en­te Inter­es­sen­la­ge besteht.

Die Recht­mä­ßig­keit der Ver­ar­bei­tung per­so­nen­be­zo- gener Daten an staat­li­chen Hoch­schu­len zu Zwe­cken der For­schung ist trotz des Span­nungs­ver­hält­nis­ses von Da- ten­schutz und For­schungs­frei­heit unter bestimm­ten Vo- raus­set­zun­gen sinn­voll möglich.26 Geht es um die Verar- bei­tung per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten im Beschäf­ti­gungs­kon- text an staat­li­chen Hoch­schu­len und For­schungs­ein­rich- tun­gen, gilt die Vor­schrift des § 26 BDSG aller­dings nicht, außer es han­delt sich bei der ver­ar­bei­ten­den Be- hör­de um eine Hoch­schu­le des Bun­des. Denn nach § 1 Abs. 1 BDSG öff­net sich der Anwen­dungs­be­reich des Geset­zes für die Ver­ar­bei­tung per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten durch öffent­li­che Stel­len des Bun­des (Abs. 1 S. 1 Nr. 1) und nicht-öffent­li­che Stel­len (Abs. 1 S. 2), wozu bei­spiels- wei­se Arbeit­ge­ber gehören.27 Für öffent­li­che Stel­len der Län­der, also auch die aller­meis­ten staat­li­chen Hoch­schu- len, ist der Anwen­dungs­be­reich erheb­lich ein­ge­schränkt (Abs. 1 S. 1 Nr. 2). Das BDSG greift hier nur, wenn die­se Stel­len Bun­des­recht aus­füh­ren oder es sich bei den Stel-

  1. 25  Taeger/Gabel/Zöll, 4. Aufl. 2022, BDSG § 26 Rn. 41; zum BDSG a.F. BAG, 29.6.107, 2 AZR 597/16, NZA 2017, 1179 Rn. 26.
  2. 26  Einen guten Über­blick hier­zu bie­ten Bronner/Wiedemann,Recht­mä­ßig­keit der Daten­ver­ar­bei­tung bei wis­sen­schaft­li­cher­For­schung an staat­li­chen Hoch­schu­len, ZD 2023, 77 ff.
  3. 27  Vgl. BAG 7.5.2019, 1 ABR 53/17, NZA 2019, 1218 Rn. 29 f.
  4. 28  Spe­zi­el­le Rege­lun­gen zur Daten­ver­ar­bei­tung im Beschäf­ti­gungs-kon­text ent­hal­ten z.B. § 15 LDSG BW, § 18 BlnDSG, § 26 Bbg DSG, § 12 BremDSGVO­AG, § 10 HmbDSG, § 23 HDSIG, § 10 DSG M‑V, § 12 NDSG, § 18 DSG NRW, § 20 LDSG RLP, § 22 SDSG, § 11 Sächs­DSDG, § 26 DSAG LSA, § 15 LDSG SH, § 27 ThürDSG.
  5. 29  Eine Über­sicht und eine ver­glei­chen­de Betrach­tung mit § 26 BDSG fin­det sich bei Gola, Der Beschäf­tig­ten­da­ten­schutz in den novel­lier­ten Lan­des­da­ten­schutz­ge­set­zen, ZD 2018, 448 ff.

len um Orga­ne der Rechts­pfle­ge han­delt und der Daten- schutz nicht durch Lan­des­recht gere­gelt ist. Die aller- meis­ten Lan­des­da­ten­schutz­ge­set­ze ent­hal­ten spe­zi­el­le Rege­lun­gen für den Beschäftigtendatenschutz,28 die sich in ihrer Reich­wei­te aber teils deut­lich unterscheiden.29

Schließ­lich ist im Rah­men des Ein­sat­zes von KI-Sys- temen zudem Art. 22 Abs. 1 DSGVO zu berück­sich­ti­gen. Die­ser ver­bie­tet all­ge­mein (auch im Beschäf­ti­gungs­kon- text) aus­schließ­lich auf­grund auto­ma­ti­sier­ter Ver­ar­bei- tung – ein­schließ­lich Pro­fil­ing – getrof­fe­ne Ent­schei­dun- gen, die rechts­er­heb­li­che Aus­wir­kun­gen haben. Art. 4 Nr. 4 DSGVO defi­niert Pro­fil­ing als auto­ma­ti­sier- te Ver­ar­bei­tung per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten, die dar­in be- steht, bestimm­te per­sön­li­che Aspek­te einer natür­li­chen Per­son zu ana­ly­sie­ren und vor­her­zu­sa­gen. Hier­zu gehö- ren bei­spiels­wei­se das Ver­hal­ten und die Arbeits­leis­tung von Per­so­nen. Ein gene­rel­les Ver­bot von Pro­fil­ing an sich ent­hält Art. 22 Abs. 1 DSGVO jedoch nicht, ledig­lich das Ver­bot auf­grund eines Pro­filings einer auto­ma­ti­sier- ten beein­träch­ti­gen­den Ent­schei­dung unter­wor­fen zu werden.30

Auto­ma­ti­sier­te Ent­schei­dun­gen auf Grund­la­ge von Pro­fil­ing kön­nen aus­nahms­wei­se nach Art. 22 Abs. 2 DS- GVO zuläs­sig sein,31 ins­be­son­de­re auf­grund einer Ein- wil­li­gung. Ob eine sol­che aber inner­halb eines Beschäf­ti- gungs­ver­hält­nis­ses auf­grund des struk­tu­rel­len Mach­tun- gleich­ge­wichts als frei­wil­lig gel­ten kann, ist zu hinterfragen.32

IV. Her­aus­for­de­run­gen und Lösungsansätze

1. Inter­es­sens­ab­wä­gung bei Leis­tungs­kon­trol­le am Arbeitsplatz

Gemäß § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG dür­fen per­so­nen­be­zo­ge­ne Daten im Beschäf­ti­gungs­kon­text (unter ande­rem) verar- bei­tet wer­den, wenn die Ver­ar­bei­tung für die Durch­füh- rung des Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­ses erfor­der­lich ist.

30 Huff/Götz, Evi­denz statt Bauch­ge­fühl? – Mög­lich­kei­ten und recht- liche Gren­zen von Big Data im HR-Bereich, NZA-Bei­la­ge 2019, 73, 76; Rud­kow­ski„Pre­dic­ti­ve poli­cing“ am Arbeits­platz, NZA 2019, 72, 75.

31 Vgl. Joos, Ein­satz von künst­li­cher Intel­li­genz im Per­so­nal­we­sen unter Beach­tung der DS-GVO und des BDSG, NZA 2020, 1216, 1217 f. zum Ein­satz von KI im Bewerbungsprozess.

32 Ableh­nend bereits für den Bewer­bungs­pro­zess Joos, Ein­satz von künst­li­cher Intel­li­genz im Per­so­nal­we­sen unter Beach­tung der DS-GVO und des BDSG, NZA 2020, 1216, 1217, 1221, auch für die Mit­ar­bei­ter­ent­wick­lung, sofern es kei­nen „ech­ten Bestands- schutz“ für das Arbeits­ver­hält­nis gibt. Vgl. auch Graf/Kemper, Opti­mie­rung und Pro­duk­ti­vi­täts­stei­ge­rung durch Human Enhance­ment-Tech­no­lo­gien, PinG 2021, 131, 136 f. („Machta- sym­me­trie zwi­schen Arbeit­ge­ber und Beschäf­tig­tem“).

Heckmann/Marx · KI-Ein­satz zur Leis­tungs­kon­trol­le am (Hochschul-)Arbeitsplatz 6 7

Erfor­der­lich ist eine Daten­ver­ar­bei­tung i.S.v. § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG, wenn die berech­tig­ten Inter­es­sen und Zwe­cke des Arbeit­ge­bers eine Daten­ver­ar­bei­tung erfordern.33 Das Kri­te­ri­um der Erfor­der­lich­keit fin­det sich auch in den meis­ten lan­des­recht­li­chen Vor­schrif­ten zur Ver­ar­bei­tung per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten im Dienst- oder Beschäf­ti­gungs­kon­text. Die Frei­heit des Arbeit­ge- bers, grund­sätz­lich selbst zu ent­schei­den, wie er sei­ne Betrie­be und Dienst­stel­len orga­ni­siert, ist zu achten.34 Im Ergeb­nis ist eine zwei­stu­fi­ge Ver­hält­nis­mä­ßig­keitsprü- fung durchzuführen:35

Auf der ers­ten Stu­fe „muss die Über­wa­chungs­maß- nah­me für die Wah­rung eines berech­tig­ten Inter­es­ses des Arbeit­ge­bers erfor­der­lich sein“, auf der zwei­ten Stu­fe ist „die Ver­hält­nis­mä­ßig­keit im enge­ren Sin­ne zu prüfen“.36

Auf der ers­ten Stu­fe ist zunächst fest­zu­stel­len, dass die Kon­trol­le, ob ein Beschäf­tig­ter sei­nen Pflich­ten nach- kommt, essen­zi­ell zur Durch­füh­rung des Arbeits­ver­hält- nis­ses gehört.37 Für den Arbeit­ge­ber sind Leis­tungs­kont- rol­len in gewis­sem Umfang regel­mä­ßig not­wen­dig, nicht zuletzt auch um ord­nungs­ge­mä­ßen Com­pli­ance-Grund- sät­zen zu genü­gen, etwa aus § 91 Abs. 2 AktG, §§ 30, 130, 9 OWiG.38

Auf der zwei­ten Stu­fe kommt es für die Beur­tei­lung der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit im enge­ren Sin­ne maß­geb­lich auf die jewei­li­gen kon­kre­ten Umstän­de an. Aus der ver- füg­ba­ren behörd­li­chen und gericht­li­chen Pra­xis sowie dem Schrift­tum las­sen sich jedoch eini­ge „Leit­plan­ken“ ermitteln.

Zuläs­si­ge Leis­tungs­kon­trol­le: Die IT-Nut­zung darf grund­sätz­lich kon­trol­liert wer­den, wenn eine Pri­vat­nut- zung ver­bo­ten ist;39 aller­dings muss ins­be­son­de­re die

  1. 33  Beck­OK DatenschutzR/Rie­sen­hu­ber, 42. Ed. 1.11.2022, BDSG § 26 Rn. 114.
  2. 34  Beck­OK DatenschutzR/Rie­sen­hu­ber, 42. Ed. 1.11.2022, BDSG § 26 Rn. 114.
  3. 35  Maschmann, Füh­rung und Mit­ar­bei­ter­kon­trol­le nach neu­em Da- ten­schutz­recht, NZA-Bei­la­ge 2018, 115, 117. 36 Gola/Heckmann/ Gola/Pötters, 3. Aufl. 2022, BDSG § 26 Rn. 156 f.
  1. 37  Taeger/Gabel/Zöll, 4. Aufl. 2022, BDSG § 26 Rn. 41; zum BDSG a.F. BAG, 29.6.107, 2 AZR 597/16, NZA 2017, 1179 Rn. 26.
  2. 38  Taeger/Gabel/Zöll, 4. Aufl. 2022, BDSG § 26 Rn. 42; Stück, Com- pli­ance: Über­wa­chungs­mög­lich­kei­ten des Arbeit­ge­bers im Lich­te aktu­el­ler Recht­spre­chung, ArbRAk­tu­ell 2018, 31.
  3. 39  Maschmann, Füh­rung und Mit­ar­bei­ter­kon­trol­le nach neu­em Daten­schutz­recht, NZA-Bei­la­ge 2018, 115, 122; vgl. auch BAG 27.7.2017, 2 AZR 681/16, NZA 2017, 1327.
  4. 40  Maschmann, Füh­rung und Mit­ar­bei­ter­kon­trol­le nach neu­em Daten­schutz­recht, NZA-Bei­la­ge 2018, 115, 122.
  5. 41  LArbG Mün­chen 23.7.2020, 2 TaBV 126/19; hier­zu Wed­de, Streit um Eini­gungs­stel­len­spruch zur Ein­füh­rung eines IT-Sicher­heits- sys­tems: Anlass­lo­se prä­ven­ti­ve Ver­ar­bei­tung von Beschäftigtenda-

Ver­hält­nis­mä­ßig­keit gewahrt bleiben.40 Nach Auf­fas­sung des LArbG Mün­chen kann inso­weit gege­be­nen­falls so- gar eine anlass­lo­se Über­wa­chung durch ein KI-IT-Si- cher­heits­sys­tem ver­hält­nis­mä­ßig sein, wenn sie dar­auf abzielt, auf­fäl­li­ge Akti­vi­tä­ten zu iden­ti­fi­zie­ren, die An- halts­punk­te für eine Bedro­hung der Infor­ma­ti­ons­si­cher- heit sein kön­nen, ins­be­son­de­re vor dem Hin­ter­grund ban­ken­auf­sichts­recht­li­cher und ban­ken­auf­sichts­be­hörd- licher Vor­ga­ben zur Datensicherheit.41

Unzu­läs­si­ge Leis­tungs­kon­trol­le: Jeden­falls anony­me bzw. nicht erkenn­ba­re und nicht abwend­ba­re Über­wa- chung stellt einen erheb­li­chen Ein­griff in das Daten- schutz­recht des Beschäf­tig­ten dar.42 Sie ist grund­sätz­lich unzu­läs­sig, § 26 Abs. 1 S. 2 BDSG reicht hier­für nicht.43

Eine „per­ma­nen­te, heim­li­che und in ihrem Volu­men nicht ein­schätz­ba­re Total­über­wa­chung des Umgangs mit dienst­lich zu ver­wen­den­den IT-Sys­te­men“ kann „allen­falls dann zuläs­sig sein, wenn ein auf den ein­zel- nen Arbeit­neh­mer bezo­ge­ner begrün­de­ter Ver­dacht für eine Straf­tat oder für eine schwer­wie­gen­de Pflicht­ver- let­zung besteht“.44

Der dau­er­haf­te Ein­satz von Key­log­gern ist vor die- sem Hin­ter­grund nicht mehr verhältnismäßig.45 In aller Regel nicht mehr ver­hält­nis­mä­ßig ist auch eine offe­ne prä­ven­ti­ve Video­über­wa­chung am Arbeitsplatz.46 Das- sel­be gilt für Video­über­wa­chun­gen, die die Intim­sphä­re berühren.47

Der flä­chen­de­cken­de Ein­satz von GPS-Ortungs­sys­te- men ist nach Auf­fas­sung des Lan­des­be­auf­trag­ten für Da- ten­schutz und Infor­ma­ti­ons­frei­heit Baden-Würt­tem­berg i.d.R. nicht erfor­der­lich, wenn der Auf­ent­halts­ort des

ten durch KI-Soft­ware zuläs­sig, juris­PR-ArbR 17/2021 Anm. 6. 42 Paal/Pauly/Pau­ly, 3. Aufl. 2021, DSGVO Art. 88 Rn. 16.
43 EGMR 7.12.2017, C‑329/16, EuZW 2018, 169 Rn. 121; Masch-

mann, Füh­rung und Mit­ar­bei­ter­kon­trol­le nach neu­em Daten-

schutz­recht, NZA-Bei­la­ge 2018, 115, 121.
44 Wed­de, Streit um Eini­gungs­stel­len­spruch zur Ein­füh­rung eines

IT-Sicher­heits­sys­tems: Anlass­lo­se prä­ven­ti­ve Ver­ar­bei­tung von Beschäf­tig­ten­da­ten durch KI-Soft­ware zuläs­sig, juris­PR-ArbR 17/2021 Anm. 6.; vgl. auch BAG 27.7.2017, 2 AZR 681/16, NZA 2017, 1327.

45 Stück, Daten­schutz = Taten­schutz? Aus­ge­wähl­te daten­schutz- und arbeits­recht­li­che Aspek­te nach DSGVO sowie BDSG 2018 bei prä­ven­ti­ver und repres­si­ver Com­pli­ance, CCZ 2020, 77, 81; vgl. auch BAG 27.7.2017, 2 AZR 681/16, NZA 2017, 1327.

46 Vgl. hier­zu im Detail Stück, Daten­schutz = Taten­schutz? Aus­ge- wähl­te daten­schutz- und arbeits­recht­li­che Aspek­te nach DSGVO sowie BDSG 2018 bei prä­ven­ti­ver und repres­si­ver Com­pli­ance, CCZ 2020, 77, 81 f.

47 Maschmann, Füh­rung und Mit­ar­bei­ter­kon­trol­le nach neu­em Daten­schutz­recht, NZA-Bei­la­ge 2018, 115, 121.

68 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 63–70

Beschäf­tig­ten auch direkt bei die­sem (etwa durch einen Anruf) erho­ben wer­den kann. Eine sol­che dau­er­haf­te Ortung kann i.d.R. nicht auf eine Ein­wil­li­gung gestützt wer­den. Sie erzeugt zudem einen per­ma­nen­ten Kon­troll- druck und ist daher unzulässig.48

Bei allem sind all­ge­mein die Betrof­fe­nen­rech­te und die Infor­ma­ti­ons­pflich­ten zu wahren.49 Bemer­kens­wert ist inso­weit der bereits erwähn­te Beschluss des LArbG Mün­chen v. 23.07.2020.50 Das Gericht äußer­te sich zu ei- nem KI-IT-Sicher­heits­sys­tem, das einen umfas­sen­den Daten­zu­griff ermög­licht und des­sen Abläu­fe für Be- schäf­tig­te intrans­pa­rent sind. Nach Ansicht des Gerichts bestün­den sach­li­che Grün­de dafür, sicher­heits­tech­ni- sche Details des Sys­tems nicht voll­stän­dig offenzulegen.51

2. Der Ein­satz von KI zur Leis­tungs­kon­trol­le: Ver­schär- fung der Über­wa­chung oder legi­ti­mes „Fein­tu­ning“?

KI-Ein­satz und Daten­schutz­recht ste­hen in einem Span- nungs­ver­hält­nis.52 Alle­mal defi­niert das Daten­schutz- recht — auf­grund noch feh­len­der hori­zon­ta­ler Regu­lie- rung von KI-Tools – ein Min­dest­maß an Grund­re­geln für den Ein­satz von KI-Systemen.53

Beim Ein­satz von KI-Sys­te­men zur Leis­tungs­kon­trol- le han­delt es sich in der Regel um Pro­fil­ing i.S.v. Art. 4 Nr. 4 DSGVO,54 dort ist als Regel­bei­spiel gera­de die Arbeits­leis­tung genannt, die ana­ly­siert oder vor­her- gesagt wer­den soll. Aus­schließ­lich auf Auto­ma­ti­sie­rung beru­hen­de Ent­schei­dun­gen auf der Grund­la­ge von Pro- fil­ing sind grund­sätz­lich aber nicht zuläs­sig, Art. 22 Abs. 1 DSGVO. Soweit dies gilt, setzt die Ver­wer- tung des KI-Ergeb­nis­ses vor­aus, dass ein Mensch mit

  1. 48  Rat­ge­ber Beschäf­tig­ten­da­ten­schutz, Lan­des­be­auf­trag­ter für Da- ten­schutz und Infor­ma­ti­ons­frei­heit Baden- Würt­tem­berg, 4. Aufl. 2020, S. 37 f., auch zu den Anfor­de­run­gen, die an eine zuläs­si­ge GPS-Über­wa­chung zu stel­len sind.
  2. 49  Dies ist ein all­ge­mei­nes Pro­blem und hängt nicht spe­zi­ell mit dem Arbeit­neh­mer­da­ten­schutz zusam­men, hier­zu bspw. Con­rad, DSGVO 2.0 – Effizienter(er) Schutz durch KI?, DSRITB 2019, 391, 401 ff.
  3. 50  LArbG Mün­chen 23.7.2020, 2 TaBV 126/19; hier­zu Wed­de, Streit um Eini­gungs­stel­len­spruch zur Ein­füh­rung eines IT-Sicher­heits- sys­tems: Anlass­lo­se prä­ven­ti­ve Ver­ar­bei­tung von Beschäf­tig­ten­da- ten durch KI-Soft­ware zuläs­sig, juris­PR-ArbR 17/2021 Anm. 6.
  4. 51  Vgl. Wed­de, Streit um Eini­gungs­stel­len­spruch zur Ein­füh­rung eines IT-Sicher­heits­sys­tems: Anlass­lo­se prä­ven­ti­ve Ver­ar­bei­tung von Beschäf­tig­ten­da­ten durch KI-Soft­ware zuläs­sig, juris­PR-ArbR 17/2021 Anm. 6.
  5. 52  Kaulartz/Braegelmann/Paal, Arti­fi­ci­al Intel­li­gence und Machi­ne Lear­ning, Kap. 8.7 Rn. 38.
  6. 53  Hier­zu Schef­zig, Asi­mov 2.0 – Daten­schutz­recht­li­che KI-Grund- regeln, DSRITB 2018, 491, 496 ff; i.E. auch Joos, Ein­satz von

Ent­schei­dungs­spiel­raum die Ent­schei­dung in einem ge- wis­sen Umfang nachprüft.55

Eine Recht­fer­ti­gungs­mög­lich­keit auf­grund von Ein- wil­li­gung dürf­te auf­grund des struk­tu­rel­lem Mach­tun- gleich­ge­wichts typi­scher­wei­se ent­fal­len. Gege­be­nen­falls kön­nen hier in gewis­sem Rah­men Betriebs­ver­ein­ba­run- gen her­an­ge­zo­gen werden.56

Aus daten­schutz­recht­li­cher Sicht ist des­halb fest­zu- hal­ten, dass „KI-basier­te Gesamt­lö­sun­gen“ in den sel­tens- ten Fäl­len DSGVO-kon­form zu gestal­ten sind. Denk­bar sind jedoch „KI-basier­te Ein­zel­lö­sun­gen“, die in einen kom­ple­xe­ren Daten­ver­ar­bei­tungs­pro­zess ein­ge­bet­tet sind und ins­be­son­de­re Raum für nicht aus­schließ­lich auto­ma­ti­siert erfol­gen­de Letzt­ent­schei­dun­gen ein­räu- men.57 Hinz bringt die­sen Ansatz mit fol­gen­dem Bei­spiel prä­gnant auf den Punkt:

„So darf etwa das KI-Sys­tem den als unzu­ver­läs­sig ein- geord­ne­ten Arbeit­neh­mer nicht selbst­tä­tig zu einer Com- pli­ance-Schu­lung ver­pflich­ten oder ihn ver­set­zen. Hin­ge- gen kann der Arbeit­ge­ber auf Grund­la­ge des Pre­dic­ti­ve Po- licing [Unter­fall des Pro­filings] den Arbeit­neh­mer zur Schu­lungs­teil­nah­me anwei­sen.“58

Die­ser Ansatz kann eben­so auf Beschäf­tig­te von Hoch­schu­len und For­schungs­ein­rich­tun­gen ange­wen­det werden.

In jedem Fall erfor­dert der Grund­satz der Trans­pa- renz (Art. 13–15 DSGVO), dass die Betrof­fe­nen über den Ein­satz des KI-Tools und die Fol­gen unter­rich­tet wer- den.59 Es sind geeig­ne­te tech­nisch-orga­ni­sa­to­ri­sche Maß­nah­men zu tref­fen, die ins­be­son­de­re Erklärbarkeit

künst­li­cher Intel­li­genz im Per­so­nal­we­sen unter Beach­tung der

DS-GVO und des BDSG, NZA 2020, 1216, 1217.
54 Joos, Ein­satz von künst­li­cher Intel­li­genz im Per­so­nal­we­sen unter Beach­tung der DS-GVO und des BDSG, NZA 2020, 1216, 1217. 55 Beck­OK DatenschutzR/von Lewin­ski, 42. Ed. 1.11.2022, DSGVO

Art. 22 Rn. 24a f.
56 Hier­zu Holt­hau­sen, Big Data, Peo­p­le Ana­ly­tics, KI und Ge-

stal­tung von Betriebs­ver­ein­ba­run­gen – Grund‑, arbeits- und daten­schutz­recht­li­che An- und Her­aus­for­de­run­gen, RdA 2021, 19, 28 ff.

57 Kaulartz/Braegelmann/Meents, Arti­fi­ci­al Intel­li­gence und Machi- ne Lear­ning, Kap. 8.8 Rn. 65 f.

58 Kaulartz/Braegelmann/Hinz, Arti­fi­ci­al Intel­li­gence und Machi­ne Lear­ning, Kap. 11 Rn. 25.

59 Beck­OK DatenschutzR/Schild, 42. Ed. 1.11.2022, DSGVO
Art. 4 Rn. 67; Maschmann, Füh­rung und Mit­ar­bei­ter­kon­trol­le nach neu­em Daten­schutz­recht, NZA-Bei­la­ge 2018, 115, 118; Dies gibt bereits der Uni­ons­ge­setz­ge­ber in Art. 88 Abs. 2 DSGVO
vor, vgl. Sydow/Marsch/Tie­de­mann, 3. Aufl. 2022, DSGVO
Art. 88 Rn. 18 f.

Heckmann/Marx · KI-Ein­satz zur Leis­tungs­kon­trol­le am (Hochschul-)Arbeitsplatz 6 9

und Trans­pa­renz gewähr­leis­ten müssen.60 Nicht end­gül- tig geklärt ist dabei, ob die Betrof­fe­nen auch Ein­sicht in den Algo­rith­mus selbst erlan­gen müssen;61 dies wird oft- mals tech­nisch nicht mög­lich sein, wes­halb zumin­dest über die Ein­gangs­da­ten und die Her­kunft der Daten in- for­miert wer­den muss.62

V. Aus­blick auf den KI-Ein­satz zur Leis­tungs­kon­trol- le im Beschäf­ti­gungs­kon­text im Jahr 2030

Im kom­men­den Jahr­zehnt ist zu erwar­ten, dass der Ein- satz von KI ‑Tools zur Leis­tungs­kon­trol­le und damit ver- bun­den die Fra­ge nach der daten­schutz­recht­li­chen Zuläs­sig­keit an Bedeu­tung gewin­nen wird. Dies betrifft Beschäf­tig­te in der Pri­vat­wirt­schaft sowie in Hoch­schu- len und For­schungs­ein­rich­tun­gen glei­cher­ma­ßen. Gleich­zei­tig soll­ten die hier skiz­zier­ten daten­schutz- recht­li­chen Anfor­de­run­gen nicht allein als „Hemm- schuh“, son­dern viel­mehr als „Gestal­tungs­kor­ri­dor“ ver- stan­den wer­den. Auch der Bun­des­be­auf­trag­te für den Daten­schutz und die Infor­ma­ti­ons­frei­heit hat dar­auf hingewiesen,

„dass in den nächs­ten Jah­ren ent­schei­den­de Wei­chen- stel­lun­gen für die KI getrof­fen wer­den und der Daten- schutz nicht zwangs­läu­fig die Ent­wick­lung beein­träch- tigen muss.“63

Per­spek­ti­visch soll daher die fol­gen­de The­se auf­ge- stellt wer­den: Rich­tig ein­ge­setzt (d.h. ins­be­son­de­re unter Aus­schluss von auto­ma­ti­sier­ten beein­träch­ti­gen­den Ent- schei­dun­gen allein auf Grund­la­ge des ver­wen­de­ten KI- Tools) kön­nen „KI-basier­te Ein­zel­lö­sun­gen“ zur Leis-

  1. 60  Joos/Meding, Künst­li­che Intel­li­genz und Daten­schutz im Human Resour­ce Manage­ment, CR 2020, 834, 837 ff.
  2. 61  Huff/Götz, Evi­denz statt Bauch­ge­fühl? – Mög­lich­kei­ten und recht- liche Gren­zen von Big Data im HR-Bereich, NZA-Bei­la­ge 2019, 73, 76.
  3. 62  Huff/Götz, Evi­denz statt Bauch­ge­fühl? – Mög­lich­kei­ten und recht- liche Gren­zen von Big Data im HR-Bereich, NZA-Bei­la­ge 2019, 73, 77.
  4. 63  BfDI for­dert daten­schutz­ge­rech­ten Ein­satz von KI, ZD-Aktu­ell 2019, 06806.
  5. 64  Bis­wei­len wird gar eine „Pflicht“ zum Ein­satz von KI dis­ku­tiert, vgl. Kaulartz/Braegelmann/Meents, Arti­fi­ci­al Intel­li­gence und Machi­ne Lear­ning, Kap. 8.8 Rn. 4, der jeden­falls KI-basier­te Ge- samt­lö­sun­gen aber i.E. als kaum bis unver­ein­bar mit der DSGVO ein­stuft, Rn. 65.
  6. 65  Eben­so Kaulartz/Braegelmann/Meents, Arti­fi­ci­al Intel­li­gence und Machi­ne Lear­ning, Kap. 8.8 Rn. 66.

tungs­kon­trol­le nicht etwa zu einem Mehr an (Total-) Über­wa­chung füh­ren, son­dern im Gegen­teil der Wah- rung der Anfor­de­run­gen des Daten­schutz­rechts dienen:64

Der Ein­satz von KI kann etwa zur Wah­rung des Grund­sat­zes der Spei­cher­be­gren­zung (Art. 5 Abs. 1 lit. e DSGVO) frucht­bar gemacht werden,65 denn eine KI kann die erho­be­nen Daten (zum Vor­teil der betrof­fe­nen Per­son) unmit­tel­bar prü­fen, wäh­rend eine mensch­li­che Prü­fung eine län­ge­re Spei­che­rung der Daten erfor­der­lich machen kann. Der Ein­satz von KI kann zudem dem Gebot der Daten­mi­ni­mie­rung (Art. 5 Abs. 1 lit. c DSGVO) die­nen, etwa durch ver­läss­li- che Tech­ni­ken der Anonymisierung.66 Denn wäh­rend etwa im Fal­le der Video­über­wa­chung ein Mensch den Beschäf­tig­ten beob­ach­ten müss­te, wür­de eine KI an des- sen Stel­le tre­ten, die daten­schutz­wid­ri­ge Inhal­te sogleich löschen wür­de. Die Pri­vat­sphä­re wür­de so also weni­ger tan­giert. Es ent­fällt ins­be­son­de­re das dau­er­haf­te „Beob­ach­tet­sein“.

Per­spek­ti­visch gedacht könn­te der Ein­satz von „KI- basier­ten Ein­zel­lö­sun­gen“ sogar eines Tages dem Stand der Tech­nik nach Art. 25 Abs. 1 DSGVO (Stich­wort „Pri- vacy by Design“) ent­spre­chen und wären daher sogar verpflichtend.67 Dies betrifft insb. die Anony­mi­sie­rung. Wei­ter­ge­hen­der Schutz von Betrof­fe­nen ist auch durch den AI Act68 der Euro­päi­schen Uni­on zu erwar­ten, der sich der­zeit noch im Gesetz­ge­bungs­ver­fah­ren befindet.69 Der Ver­ord­nungs­ent­wurf der EU-Kom­mis­si­on stuft in sei­nem risi­ko­ba­sier­ten Regu­lie­rungs­an­satz sol­che Sys­te- me als „Hoch­ri­si­ko-KI-Sys­te­me“ ein, die grund­sätz­lich mit einem hohen Risi­ko für die Grund­rech­te von natür­li- chen Per­so­nen ver­bun­den sind.70 Sol­che Sys­te­me, zu

66 Kaulartz/Braegelmann/Meents, Arti­fi­ci­al Intel­li­gence und Machi- ne Lear­ning, Kap. 8.8 Rn. 58 ff.

67 Kaulartz/Braegelmann/Meents, Arti­fi­ci­al Intel­li­gence und Machi- ne Lear­ning, Kap. 8.8 Rn. 67.

68 Vor­schlag für eine Ver­ord­nung des Euro­päi­schen Par­la­men­tes und des Rates zur Fest­le­gung har­mo­ni­sier­ter Vor­schrif­ten für Künst­li­che Intel­li­genz (Gesetz über Künst­li­che Intel­li­genz) und zur Ände­rung bestimm­ter Rechts­ak­te der Uni­on (Ent­wurf zum AI Act), COM (2021) 206 final.

69 Sie­he zum aktu­el­len Stand des Gesetz­ge­bungs­ver-
fah­rens https://eur-lex.europa.eu/legal- content/EN/ HIS/?uri=CELEX:52021PC0206 (letz­ter Zugriff am 27.02.2022).

70 Vor­schlag für eine Ver­ord­nung des Euro­päi­schen Par­la­men­tes und des Rates zur Fest­le­gung har­mo­ni­sier­ter Vor­schrif­ten für Künst­li­che Intel­li­genz (Gesetz über Künst­li­che Intel­li­genz) und zur Ände­rung bestimm­ter Rechts­ak­te der Uni­on (Ent­wurf zum AI Act), COM (2021) 206 final, S. 11, 13.

70 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 63–70

denen auf­grund der poten­zi­el­len Ein­griffs­in­ten­si­tät in die infor­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung betrof­fe­ner Beschäf- tig­ter auch KI-Tools zur Ver­hal­tens- und Leis­tungs­kont- rol­le gehö­ren, müs­sen künf­tig eine Viel­zahl von orga­ni­sa- tori­schen und tech­ni­schen Anfor­de­run­gen erfül­len, wozu auch eine erhöh­te Trans­pa­renz im Sin­ne eines inter­pre­tier­ba­ren Out­puts (Art. 13 AIA‑E) sowie eine mög­li­che mensch­li­che Über­wa­chung (Art. 14 AIA‑E) gehören.

VI. Hand­lungs­emp­feh­lun­gen

Nach rich­ti­ger Auf­fas­sung stellt das Daten­schutz­recht kei­ne unüber­wind­ba­ren Hür­den für den Ein­satz von KI- Sys­te­men zur Leis­tungs­kon­trol­le am Arbeits­platz auf. Viel­mehr setzt es den äuße­ren Rah­men für die Ges­tal- tung des Ein­sat­zes sol­cher Tools.

Danach sind zumin­dest „KI-basier­te Ein­zel­lö­sun­gen“ zur Leis­tungs­kon­trol­le denk­bar, die in einen kom­ple­xe- ren Daten­ver­ar­bei­tungs­pro­zess ein­ge­bet­tet sind und ins- beson­de­re Raum für nicht aus­schließ­lich auto­ma­ti­siert erfol­gen­de Letzt­ent­schei­dun­gen bieten.71

Hier­zu ist es auch erfor­der­lich, bereits in der Ent- wick­lungs­pha­se (Stich­wort „Pri­va­cy by Design“, Art. 25 Abs. 1 DSGVO) über eine Begren­zung des KI- Ein­sat­zes zur Leis­tungs­kon­trol­le nachzudenken,72 auch in zeit­li­cher Hin­sicht oder begrenzt auf Stich­pro­ben, wo- bei KI wie­der­um hel­fen kann, ein ange­mes­se­nes Maß zu finden.

VII. Zusam­men­fas­sung

Eine Leis­tungs­kon­trol­le am Arbeits­platz ist aus Sicht des Arbeit­ge­bers bzw. Dienst­herrn grund­sätz­lich legi­tim, beson­ders weil und soweit es um die Erfül­lung von Com-

pli­ance-Anfor­de­run­gen in Betrie­ben und Dienst­stel­len geht (Unter­bin­dung von Betrug, Kor­rup­ti­on, Spio­na­ge etc.). Dabei sind die Inter­es­sen der über­wach­ten Beschäf- tig­ten, ins­be­son­de­re deren Pri­vat­heit und Per­sön­lich- keits­rech­te, eben­so schutz­wür­dig. Dies gilt in beson­de- rem Maße beim Ein­satz von KI-basier­ten Kon­troll­sys­te- men, mit und ohne auto­ma­ti­sier­te Ein­zel­fall­ent­schei­dung. Solan­ge es hier aber nicht zu einer „Total­über­wa­chung“ kommt, ist eine daten­schutz­kon­for­me Gestal­tung der Leis­tungs­kon­trol­le denk­bar, zumal der IT-Ein­satz hel­fen kann, die Kon­trol­le auf das erfor­der­li­che und ver­hält­nis- mäßi­ge Maß zu redu­zie­ren. Bei der Ent­wick­lung ent- spre­chen­der Sys­te­me soll­ten Juris­ten und Infor­ma­ti­ker zusam­men­wir­ken, ihr Ein­satz muss zudem trans­pa­rent und für alle Betrof­fe­nen (not­falls gericht­lich) über­prüf- bar sein. Eine Ver­hal­tens- und Leis­tungs­kon­trol­le von wis­sen­schaft­li­chem Per­so­nal an Hoch­schu­len und in For­schungs­ein­rich­tun­gen ist im Hin­blick auf die Wis- sen­schafts­frei­heit nur sehr ein­ge­schränkt mög­lich und zuläs­sig. Auch hier kön­nen KI- Sys­te­me aber künf­tig sinn­voll ein­ge­setzt wer­den, um miss­bräuch­li­chem Ver- hal­ten Ein­halt zu gebieten.

Prof. Dr. Dirk Heck­mann ist Inha­ber des Lehr­stuhls für Recht und Sicher­heit der Digi­ta­li­sie­rung an der Tech­ni- schen Uni­ver­si­tät Mün­chen. Neben­amt­lich wirkt er als Direk­tor am Baye­ri­schen For­schungs­in­sti­tut für Digi­ta- le Trans­for­ma­ti­on (www.bidt.digital) und als Ver­fas- sungs­rich­ter am Baye­ri­schen Verfassungsgerichtshof.

Dr. Lorenz Marx ist Cor­po­ra­te Coun­sel bei Ama­zon. Zuvor war er Rechts­an­walt bei ver­schie­de­nen Groß- kanz­lei­en. Von 2019–2021 hat er als Post­Doc und geschäfts­füh­ren­der Assis­tent maß­geb­lich den neu­en Lehr­stuhl von Pro­fes­sor Heck­mann an der TU Mün- chen mit aufgebaut.

  1. 71  Kaulartz/Braegelmann/Meents, Arti­fi­ci­al Intel­li­gence und Machi- ne Lear­ning, Kap. 8.8 Rn. 65 f.
  2. 72  Prak­ti­sche Schwie­rig­kei­ten könn­te eine sol­che Begren­zung des KI-Ein­sat­zes ins­be­son­de­re im Hin­blick auf die fort­schrei­ten­de Ver­brei­tung von Big Data-Ana­ly­sen und die immer tiefgrei-

fen­de­re Ver­net­zung i.R.v. Indus­trie 4.0 berei­ten; hier ist es ggf. kaum mehr mög­lich, ein­zel­ne Use Cases/Beschäftigte/Zeitpunkte „her­aus­zu­fil­tern“, vgl. Pusch­ky, Daten­schutz­recht­li­che Impli­ka­tio- nen in der Indus­trie 4.0 am Bei­spiel des For­schungs­pro­jekts „IIP- Ecos­phe­re“, ZD-Aktu­ell 2021, 05101.

Die­ser Auf­satz wird nicht in der Lage sein, das The­ma umfas­send zu behandeln,1 viel­mehr wer­den wesent­li­che Gedan­ken­an­sät­ze der Künst­li­chen Intel­li­genz (KI) beleuch­tet und erläu­tert. Auf Mathe­ma­tik wird weit­ge- hend ver­zich­tet. Der Bei­trag zeigt die ele­men­ta­ren Wirk- prin­zi­pi­en heu­ti­ger KI auf, ver­weist auf eine Rei­he erfolg­rei­cher Anwen­dun­gen und zeigt Per­spek­ti­ven für die Zukunft auf.

I. Was ist künst­li­che Intelligenz?

Die Visi­on, dass Maschi­nen eines Tages spre­chen, abs- trak­te Kon­zep­te bil­den, die glei­chen Pro­ble­me wie Men- schen lösen und sich stän­dig ver­bes­sern, führ­te 1956 zur Grün­dung des For­schungs­ge­biets Künst­li­che Intel­li­genz (KI). Es war schon immer ein Traum der Infor­ma­ti­ker, dass man mit einem Com­pu­ter intel­li­gen­te­re Din­ge tun kann als nur Zah­len zu addie­ren und zu multiplizieren.

Künst­li­che Intel­li­genz (KI, engl. arti­fi­ci­al intel­li­gence oder AI) defi­niert man heu­te als Teil­ge­biet der Infor­ma- tik, das sich mit der Auto­ma­ti­sie­rung intel­li­gen­ten Ver- hal­tens und dem maschi­nel­len Ler­nen befasst. Der Be- griff, ist schwie­rig zu defi­nie­ren, da es bereits an einer ge- nau­en Defi­ni­ti­on von „Intel­li­genz“ man­gelt. Den­noch wird er in For­schung und Ent­wick­lung verwendet.2

Im All­ge­mei­nen bezeich­net Künst­li­che Intel­li­genz (KI) den Ver­such, bestimm­te Ent­schei­dungs­struk­tu­ren des Men­schen nach­zu­bil­den, indem z. B. ein Com­pu­ter so gebaut und pro­gram­miert wird, dass er von Daten ler- nen und rela­tiv eigen­stän­dig Pro­ble­me bear­bei­ten kann. Künst­li­che Intel­li­genz gilt als die wich­tigs­te Basis­tech­no- logie unse­rer Zeit, ver­bun­den mit der Aus­sicht auf subs- tan­zi­el­le Pro­duk­ti­vi­täts- und Wachs­tums­ef­fek­te quer durch alle Bran­chen. Nach vie­len Miss­erfol­gen dau­er­te es über 55 Jah­re bis die KI leis­tungs­fä­hi­ge Ergeb­nis­se vor­wei­sen konn­te. Vor etwa 10–12 Jah­ren hat­te die KI letzt­end­lich ihren Durchbruch.

1 2021 Stu­dy Panel Report der Stan­ford Uni­ver­si­ty „The One Hundred Year Stu­dy on Arti­fi­ci­al Intel­li­gence (AI100)”, umfasst 82 Seiten.

II. Para­dig­men­wech­sel: vom modell­ba­sier­ten Ansatz zum Lernen

Die frü­hen Jah­re der Künst­li­chen Intel­li­genz (ers­te Ansät­ze schon 1956) waren ein ziem­li­cher Miss­erfolg (syn­tax­ori­en­tier­te, graph- und regel­ba­sier­te Ansätze).

Der klas­si­sche Ansatz der KI zur Lösung von Pro­ble- men, wie auch in vie­len ande­ren Berei­chen sieht fol­gen- der­ma­ßen aus: Man macht sich ein deter­mi­nis­ti­sches oder auch sto­chas­ti­sches mathe­ma­ti­sches Modell von ei- ner Pro­blem­stel­lung und mit nume­ri­schen Opti­mie- rungs­me­tho­den ermit­telt man die Para­me­ter des Mo- dells, wel­che eine Ziel­funk­ti­on oder ein Güte­kri­te­ri­um opti­mal erfül­len. Dabei sind i. Allg. sehr schwie­ri­ge ma- the­ma­ti­sche Glei­chun­gen zu bewältigen.

Mit die­sem Ansatz war die KI jedoch über eini­ge Jahr­zehn­te sehr wenig erfolgreich.

1. Künst­li­che Neu­ro­na­le Netze

Mit dem Ein­satz von künst­li­chen Neu­ro­na­len Net­zen (KNN) voll­zog man einen radi­ka­len Para­dig­men­wech- sel.

Anstatt für ein Pro­blem ein Modell zu ent­wi­ckeln, die Para­me­ter eines Lösungs­an­sat­zes zu opti­mie­ren und einen Algo­rith­mus zu schrei­ben (pro­ze­du­ra­le schritt- wei­se Anwei­sun­gen) trai­niert man ganz ein­fach ein Neu- rona­les Netz mit Daten oder Ergeb­nis­sen von einem Ex- peri­ment, um eine opti­ma­le Lösung durch sys­te­ma­ti­sche Suche über dem gesam­ten Ereig­nis­raum zu finden.

In Anleh­nung an das mensch­li­che Gehirn schuf man ein mathe­ma­ti­sches Modell von einem NN. Solch ein Netz lernt, ohne dass man auch nur eine ein­zi­ge Zei­le Pro­gramm­code schrei­ben muss. Den Code für ein Netz schreibt man nur ein­mal für die Netz­op­ti­mie­rung und dann kann es für unter­schied­li­che Auf­ga­ben i. Allg. un- ver­än­dert über­nom­men werden.

Hans Burk­hardt

Ein Bei­trag zur Künst­li­chen Intelligenz

2 Wiki­pe­dia: „Künst­li­che Intel­li­genz“. Ord­nung der Wis­sen­schaft 2023, ISSN 2197–9197

72 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 71–78

Für ein ein­zel­nes natür­li­ches Neu­ron (Abb. 1) wur­de 1943 ein mathe­ma­ti­sches Modell ver­öf­fent­lich, wel­ches heu­te noch Ver­wen­dung fin­det (Abb. 2).

Die neu­ro­na­le Akti­vi­tät wird durch ein Ska­lar­pro- dukt zwi­schen dem Gewichts­vek­tor w und den Ein- gangs­ka­nä­len xi mit einer sich anschlie­ßen­den nicht­li- nea­ren Akti­vie­rungs-Funk­ti­on f(s) beschrie­ben. Die Ein­gangs­ka­nä­le wer­den gespeist von Sen­so­ren wie das Auge oder das Ohr. Dabei kön­nen die Erre­gun­gen xi ver- stär­kend oder hem­mend wir­ken, was zu posi­ti­ven oder nega­ti­ven Gewichts­wer­ten wi kor­re­spon­diert. Ein hoher Gewichts­wert bedeu­tet, dass ein Neu­ron sei­ne Infor­ma- tion mit hohem Ein­fluss an ein Neu­ron der nächs­ten Schicht wei­ter­gibt, ein nied­ri­ger Gewichts­wert bedeu­tet, dass das Vor­gän­ger­neu­ron kei­nen gro­ßen Ein­fluss auf das nach­fol­gen­de Neu­ron besitzt.

Ein ein­zel­nes Neu­ron kann bis zu 10.000 Syn­ap­sen besit­zen und damit von so vie­len Neu­ro­nen der vor­her- gehen­den Schicht beein­flusst werden.

Das gesam­te Gehirn besteht nun aus sehr vie­len La- gen sol­cher Neu­ro­nen, wobei ein Neu­ron einer Schicht

sei­ne Infor­ma­ti­on an die Neu­ro­nen der nach­fol­gen­den Schich­ten wei­ter­gibt. Damit erhält man das Modell des Multilagen-Perceptrons.

Die Ein-Aus­gangs­ab­bil­dung oder die Funk­ti­on des Net­zes wird allein durch die Gewich­te der Syn­ap­sen in Abb. 2 fest­ge­legt. Ler­nen bedeu­tet die­se Gewich­te opti- mal an die Bedürf­nis­se des Net­zes anzu­pas­sen. Stark ver- ein­facht geschieht dies, indem man die Gewich­te gering- fügig ver­än­dert und den Wert bei­be­hält, falls das Ergeb- nis sich dadurch ver­bes­sert hat. Das Netz wird durch das Ergeb­nis einer Ziel­funk­ti­on belohnt oder bestraft, falls man eine rich­ti­ge oder fal­sche Anpas­sung eines Gewich- tes durch­ge­führt hat. Die­ses ver­stär­ken­de Ler­nen („Re- inforce­ment Lear­ning“) nutzt ein ähn­li­ches Prin­zip wie das mensch­li­che Gehirn. Eine Ziel­funk­ti­on ist z. B. beim Schach­spie­len die Anzahl der gewon­ne­nen Partien.

Genau­er gesagt beinhal­tet Ler­nen den Ein­satz von nume­ri­schen Opti­mie­rungs­ver­fah­ren für die Berech- nung der Gewich­te. Beliebt sind Gra­di­en­ten­al­go­rith­men (z.B. Back­pro­pa­ga­ti­on-Algo­rith­mus) zur Maxi­mie­rung einer Ziel­funk­ti­on. Wenn man auf den höchs­ten Berg im

Abb. 2: Mathe­ma­ti­sches Modell eines Neu- rons mit sei­nen Ver­bin­dun­gen von 19433

page12image55094864 page12image55092992

Abb. 1: Natür­li­ches Neuron

page12image55098816

Abb. 3: Das Mul­ti­la­gen-Per­cep­tron mit 3 Schichten4

W. S. McCul­loch and W. Pitts: “A logi­cal cal­cu­lus of the ide­as imma– Rosen­blatt, in: The per­cep­tron: a pro­ba­li­stic model for infor­ma­ti­on nent in neu­rons acti­vi­ty”, Bull. Math. Bio­phys., vol. 5, pp. 115–133, sto­rage and orga­niza­ti­on in the brain“, Psy­cho­lo­gi­cal Review, 1958. 1943.

Burk­hardt · Ein Bei­trag zur Künst­li­chen Intel­li­genz 7 3

Schwarz­wald möch­te, so erreicht man das, indem man immer den Weg des steils­ten Anstiegs folgt (Gra­di­en- ten­al­go­rith­mus). Sucht man die xy-Koor­di­na­ten des Feld­bergs und star­tet man mit den Koor­di­na­ten von Bä- ren­thal, so wird man damit aller Vor­aus­sicht nach am Feld­berg raus­kom­men. Der Feld­berg ist das glo­ba­le Ma- ximum im gan­zen Schwarz­wald mit 1493 m. Star­tet man hin­ge­gen in Men­zen­schwand und folgt immer dem Weg des steils­ten Anstiegs, so wird man vor­aus­sicht­lich am Her­zo­gen­horn raus­kom­men. Dies ist nur ein loka­les Maxi­mum mit nur 1414 m Höhe und damit ledig­lich eine sub­op­ti­ma­le Lösung.

Uni­ver­sa­li­tät eines KNNs: Es gibt einen schö­nen Be- weis, dass man mit nur 3 Lagen eines Per­cep­trons jede belie­bi­ge mathe­ma­ti­sche Abbil­dung rea­li­sie­ren kann. Aber mit immer mehr Lagen erhöht man die Fle­xi­bi­li­tät und damit die Leis­tungs­fä­hig­keit eines KNNs.

Gene­ra­li­sie­rungs­fä­hig­keit eines NN: Wich­tig zu wis­sen ist, wie sich das Netz in nicht gelern­ten Situa­tio- nen ver­hält. KNNs sind im All­ge­mei­nen in der Lage zu

inter­po­lie­ren oder auch zu extra­po­lie­ren und damit auch auf nicht gelern­te Situa­tio­nen zu reagieren.

Die­ser Lern­an­satz mit Künst­li­chen Neu­ro­na­len Net- zen war revo­lu­tio­när in der KI, aber die Net­ze waren für die Pra­xis weit­ge­hend untaug­lich. KNNs erfüll­ten vor 20 Jah­ren noch nicht die an sie gesetz­ten Hoff­nun­gen und wur­den ad acta gelegt. Man konn­te ledig­lich rela­tiv klei- ne Net­ze bis etwa 1.000 — 10.000 Neu­ro­nen nume­risch sta­bil beherr­schen. Dies reich­te wegen der gerin­gen Va- ria­bi­li­tät nicht aus, um rea­le gro­ße Pro­ble­me zu lösen. Wähl­te man grö­ße­re Net­ze, so erziel­te die Opti­mie­rung i. Allg. nur sub­op­ti­ma­le und weit­ge­hend unbrauch­ba­re Ergeb­nis­se und man hat des­halb den KNNs kei­ne Zu- kunft gegeben.

Sie waren zu die­sem Zeit­punkt ledig­lich eine aka­de- mische Spiel­wie­se, aber kein rea­les Instru­ment für har­te Anwen­dun­gen. Ande­re mathe­ma­ti­sche Metho­den wa- ren wesent­lich leis­tungs­fä­hi­ger (z.B. Sup­port Vec­tor Machines).

page13image54953392

Abb. 4: Ein künst­li­ches Neu­ro­na­les Netz mit meh­re­ren Lagen zur Mus­teer­ken­nung von hand­ge­schrie­be­nen Ziffern

Abb. 5a: Über­kopf­pen­del Abb. 5b: Über­kopf­pen­del mit einem zwei­ten Gelenk

page13image54954848

74 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 71–78

III. Über­kopf­pen­del

Ein sehr frü­hes Expe­ri­ment in der KI war das Über­kopf- pen­del, wobei damit ins­be­son­de­re der Para­dig­men­wech- sel ver­deut­licht wer­den kann.

Ein klei­ner Wagen muss so bewegt wer­de, dass ein Stab mit einem Gelenk auf dem Wagen nicht umfällt (Abb. 5). Selbst wenn man den Stab antippt (Stö­rung), muss er wie­der aus­ge­re­gelt wer­den und darf nicht umfallen.

Die­ses Pro­blem wur­de schon vor län­ge­rer Zeit ana­ly- tisch gelöst. Man hat eine Dif­fe­ren­ti­al­glei­chung für die Bewe­gung und die Dyna­mik des Sta­bes auf­ge­stellt und dann mit Metho­den der Rege­lungs­theo­rie einen Reg­ler ent­wi­ckelt. Dies gelingt auch für den schwie­ri­ge­ren Fall, dass der Stab noch ein zwei­tes Gelenk hat (theo­re­tisch wur­de auch der Fall mit n Gelen­ken gelöst); auch die­ser Stab wird senk­recht gehalten.

Die glei­che Rege­lung wird z.B. beim Start einer Rake- te benö­tigt. Ohne Rege­lung wür­de die Rake­te nach kur- zer Zeit umkippen.

Man kann nun aber ein­wen­den, dass es auch einem Kind nach eini­ger Zeit Übung gelingt, einen Stab auf der Hand zu balan­cie­ren, ohne etwas von Dif­fe­ren­ti­al­glei- chun­gen und Reg­ler­ent­wurf zu ver­ste­hen. Das Kind lernt die Lösung durch Experimentieren.

Dies hat KI-Wis­sen­schaft­ler moti­viert, das Pro­blem des Über­kopf­pen­dels mit einem KNN zu lösen, was mit gro­ßem Erfolg gelang und mit einem wesent­lich gerin- gerem Ent­wick­lungs­auf­wand ver­bun­den war als die ana- lyti­sche Lösung. Ein schö­nes Video für die Rege­lung ei- nes Über­kopf­pen­dels mit einem zwei­ten Gelenk fin­det man unter der Internet-Adresse.5

Ein sehr ähn­li­ches Bei­spiel, aber noch wesent­lich kom­ple­xer, ist die Auf­ga­be, einem huma­no­iden Robo­ter den auf­rech­ten Gang oder Trep­pen stei­gen bei­zu­brin- gen. Die Robo­tik hat erstaun­lich lan­ge gebraucht, um wirk­lich funk­tio­nie­ren­de huma­no­ide Zwei­bei­ner zu ent- wickeln. Denn Gehen ist kei­ne ein­fa­che Auf­ga­be, vor al- lem auf zwei Bei­nen. Man muss die Vor­wärts­be­we­gung kon­trol­lie­ren und sich gleich­zei­tig auf­recht hal­ten. Es ge- lang mit Hil­fe eines Neu­ro­na­les Net­zes und Rein­force- ment Ler­nen erfolg­reich eine recht flüs­sig aus­se­hen­de huma­no­ide Geh­be­we­gung nachzuahmen.6 Ein ein- drucks­vol­les Video fin­det man unter.7

5 Video Über­kopf­pen­del: https://blog.otoro.net/2015/02/11/cne-algorithm-to-train-self- balan­cing-dou­ble-inver­ted-pen­dulum/ (letz­ter Zugriff am 08.03.2023)
https://otoro.net/ml/pendulum-cne/ (letz­ter Zugriff am 08.03.2023)

IV. Deep Blue

Ein ers­ter Durch­bruch der KI gelang 1996 als mit dem von IBM ent­wi­ckel­ten Sys­tem Deep Blue, mit der Schach-Welt­meis­ter Gar­ri Kas­pa­rov in sechs Par­tien geschla­gen wur­de. Die Soft­ware dazu war klas­sisch regel- basiert geschrie­ben und der Ent­wick­lungs­auf­wand dafür war erheb­lich. Schach­com­pu­ter im Stil von Deep Blue ver­rich­ten ihre Arbeit mit­hil­fe des soge­nann­ten Alpha- Beta-Algo­rith­mus. Dahin­ter steckt im wesent­li­chen bru- tale Rechen­ge­walt („bru­te force“-Ansatz), wobei alle mög­li­chen Züge bis zu einer gewis­sen Spiel­tie­fe durch­ge- rech­net wer­den. Außer­dem war der Ansatz zwar adap­tiv, aber nicht lernend.

Das Pro­jekt Deep-Blue kos­te­te IBM ins­ge­samt etwa 5 Mil­lio­nen US-Dol­lar. Zudem muss­te ein sehr leis­tungs- fähi­ger gro­ßer Rech­ner ver­wen­det werden.

Im Vor­griff auf die nächs­ten Kapi­tel: Alpha Zero lern­te Schach in nur 4 Stun­den und erreich­te einen Elo- Wert von ca. 3300. Der Elo-Wert ist eine Maß­zahl für die Spiel­stär­ke einer Per­son oder einer Maschi­ne. Der am- tie­ren­de Welt­meis­ter Magnus Carlsen hat einen Elo- Wert von etwa 2.850. Ein Mensch braucht in der Regel min­des­tens 15 Jah­re um auf Welt­ni­veau Schach zu spielen.

V. Der Durch­bruch: Deep Lear­ning mit Fal­tungs­net- zen.

Es gab einen his­to­ri­schen Durch­bruch der künst­li­chen Intel­li­genz in den Jah­ren 2008–2016 mit Hil­fe sehr gro- ßer künst­li­cher Neu­ro­na­ler Fal­tungs­net­ze (con­vo­lu­tio- nal net­works) mit vie­len Lagen (Deep Lear­ning). Damit ist man in der Lage sehr gro­ße Daten­men­gen zu verar- bei­ten. Wir kön­nen Maschi­nen ent­wi­ckeln, wel­che intel- ligen­tes Han­deln direkt aus den vor­lie­gen­den Daten ler- nen kön­nen, anstatt pro­gram­miert zu werden.

Heu­te beherrscht man durch­aus Net­ze mit 108 – 1011 Neu­ro­nen mit sta­bi­len nume­ri­schen Ergeb­nis­sen. Das mensch­li­che Gehirn zum Ver­gleich, besitzt 1011 = 100 Mil­li­ar­den Neuronen.

Bei Fal­tungs­net­zen (con­vo­lu­tio­nal net­works, CNN) sind lokal benach­bar­te Neu­ro­nen mit­ein­an­der gekop- pelt. Dies kann als mathe­ma­ti­sche Regu­la­ri­sie­rung des KNNs inter­pre­tiert wer­den und des­halb konvergieren

Haar­no­jaTuo­mas, et al. „Lear­ning to walk via deep rein­force­ment lear­ning.“ arXiv pre­print arXiv:1812.11103 (2018).

7 Video zum The­ma Lau­fen ler­nen: https://youtu.be/WmN7zq-D3cg (letz­ter Zugriff am 08.03.2023)

Burk­hardt · Ein Bei­trag zur Künst­li­chen Intel­li­genz 7 5

damit auch sehr gro­ße und tie­fe Net­ze mit vie­len Lagen, wie sie in rea­len Anwen­dun­gen benö­tigt werden.

Es gab glück­li­cher­wei­se ein paar weni­ge Wis­sen- schaft­ler, wel­che den Glau­ben an das Poten­ti­al der KNNs trotz der frü­hen Miss­erfol­ge nicht ver­lo­ren. Ihnen ist es zu ver­dan­ken, dass KNNs heu­te auch für sehr gro­ße Net- ze in rea­len Anwen­dun­gen ein­ge­setzt wer­den kön­nen. Yoshua Ben­gioGeoffrey Hin­ton und Yann LeCun, wur­de 2018 der Turing Award ver­lie­hen; die­se Aus­zeich­nung gilt als der Nobel­preis der Infor­ma­tik. Alle drei wer­den durch ihre zum Teil gemein­sa­men Arbei­ten als „Väter der Deep-Lear­ning-Revo­lu­ti­on“ ange­se­hen (sie­he dazu auch8,9). Yan LeCun gilt als Schöp­fer der Con­vo­lu­tio­nal Neu­ral Networks.

VI. Alpha­Go Zero und Alpha Zero von Deep Mind (Goog­le)

1. Alpha­Go Zero (Okt 2017)10

Das Chi­ne­si­sche Brett­spiel Go besteht aus nur vier Grund­re­geln, gilt aber als eines der kom­ple­xes­ten Brett- spie­le der Welt, wesent­lich kom­ple­xer als Schach.

Vier Ver­sio­nen von Alpha­Go zählt Deep­Mind mitt- ler­wei­le. Sie alle beru­hen auf einer Kom­bi­na­ti­on von neu­ro­na­len Net­zen und der Baum­such­tech­nik Mon­te Car­lo Tree Search (MCTS).

Die ursprüng­li­che Alpha­Go-Ver­si­on, besieg­te 2016 den 18-fachen Go-Welt­meis­ter Lee Sedol mit 4:1. Alpha Go trai­nier­te ein KNN zunächst mit allen je inter­na­tio- nal auf­ge­zeich­ne­ten Go-Wett­be­wer­ben. Danach spiel­ten zwei Alpha­Go-Maschi­nen gegen­ein­an­der und ver­bes- ser­ten ihre Spiel­stär­ke noch ein­mal um einen deut­li­chen Prozentsatz.

Der Nach­fol­ger Alpha­Go Zero, lernt durch Mil­lio­nen von Par­tien gegen sich selbst, vor­ge­ge­ben wer­den ledig- lich die Spiel­re­geln.
Ein neu­es Para­dig­ma: Ler­nen ohne jeg­li­ches Vor­wis­sen und Ver­zicht auf mensch­li­ches Wis­sen! Vor­her­ge­hen­de Ver­sio­nen lern­ten zunächst tau­sen­de von Men­schen auf Tur­nie­ren gespiel­te Par­tien. Der Lern­vor­gang funk­tio- niert allei­ne nach dem Prin­zip des „Rein­force­ment-Lear- ning”, indem das Pro­gramm gegen sich selbst spiel­te und ohne das mensch­li­che Vor­wis­sen über Eröff­nun­gen und End­spie­le zu ver­wen­den und ohne die kom­ple­xe Theo­rie der Spie­le zu stu­die­ren. Es stell­te sich her­aus, dass die Ver­wen­dung von mensch­li­chem Wis­sen eher hin­der­lich war und zu einer schlech­te­ren Kon­ver­genz des Lern­vor- gangs führte.

Ein mensch­li­cher Spie­ler hät­te inzwi­schen kei­ne Chan­ce mehr gegen die Maschi­ne zu gewin­nen (Abb. 6). Sehr inter­es­sant ist auch, dass die KI voll­kom­men neue Spiel­stra­te­gien her­aus­fand, welch zuvor noch von

kei­nem mensch­li­chen Spie­ler gespielt wurden.

2. Alpha Zero von Deep­Mind (Dez 2017)11

Alpha Zero zeigt eine völ­lig neue Ent­wick­lung auf, näm- lich hin zur uni­ver­sel­len Lernmaschine.

Alpha­Ze­ro ist eben­falls eine Soft­ware der Goog­le- Toch­ter Deep­Mind. Der Nach­fol­ger von Alpha­Go lernt durch Mil­lio­nen von Par­tien gegen sich selbst, vor­ge­ge- ben wer­den ledig­lich die Spielregeln.

Ein selbst­ler­nen­der Algo­rith­mus hat 3 kom­ple­xe stra- tegi­sche Spie­le gelernt, ohne die kom­pli­zier­te Theo­rie, wel­che sich dahin­ter ver­birgt, zu stu­die­ren. Alpha­Ze­ro war in der Lage, mit einem ein­zi­gen KNN gleich­zei­tig GoSchach und Sho­gi (Japa­ni­sches Schach) zu lernen.

page15image55090912

Abb. 6: Fort­schritt in der

  1. 8  Sze, Y. H. Chen, T. J. Yang and J. S. Emer: „Effi­ci­ent Pro­ces­sing of Deep Neu­ral Net­works: A Tuto­ri­al and Sur­vey“, In Pro­cee­dings of the IEEE, vol. 105, no. 12, pp. 2295–2329, Dec. 2017
  2. 9  Jason Mayes„Machi­ne Lear­ning 101“, https://docs.google.com/ presentation/d/1kSuQyW5DTnkVaZEjGYCkfOxvzCqGEFzWB y4e9Uedd9k/edit#slide=id.g168a3288f7_0_58 (letz­ter Zugriff am

Spiel­stär­ke von AlphaG0

(08.03.2023).
10 David Sil­ver et al.: „Mas­te­ring the game of Go wit­hout human know-

ledge”, Natu­re 550, 354–359 (19. Octo­ber 2017).
11 David Sil­ver et al.: „Mas­te­ring Chess and Sho­gi by Self-Play with a

Gene­ral Rein­force­ment Lear­ning Algo­rithm”, arXiv:1712.01815 [cs. AI], Cor­nell University.

76 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 71–78

Ohne jeg­li­ches Vor­wis­sen, außer den Spiel­re­geln, er- reich­te das Sys­tem nach 24 Stun­den über­mensch­li­che Spiel­stär­ke in allen drei Spie­len.
Das Sys­tem lernte:

– Sho­gun in nur 2 Stun­den – Schach in 4 Stun­den
– Go in 8 Stunden

Die ursprüng­li­che Alpha­Go-Ver­si­on, muss­te noch meh- rere Mona­te lang trai­niert werden!

Bei der hohen Über­le­gen­heit des Ansat­zes gegen­über Men­schen macht es kei­nen Sinn mehr KI-Lösun­gen durch Test­spie­le gegen die bes­ten Spie­ler der Welt zu be- wei­sen. „Com­pu­ter­schach­pro­gram­me sind mitt­ler­wei­le so gut, dass es illu­so­risch ist, dage­gen zu spie­len“, sagt der Welt­klas­se­spie­ler Johan­nes Zwanzger.

Des­halb hat man Alpha Zero gegen die bis­her bes­ten klas­sisch ent­wor­fe­nen Brett­spiel­pro­gram­me antre­ten las­sen. Es spiel­te stär­ker als Stock­fi­sh (Schach) und Elmo (Sho­gi) und bewies damit ein­drucks­voll die Über­le­gen- heit des selbst­ler­nen­den Ansat­zes der KI, bei gleich­zei­tig wesent­lich gerin­ge­rem Ent­wick­lungs­auf­wand. Außer- dem war es stär­ker als das zuvor nur für Go ent­wi­ckel­te Alpha­Go Zero.

In 100 Spie­len hat Alpha­Ze­ro kein ein­zi­ges Spiel in Schach ver­lo­ren, es ver­lor 8 bei Sho­gi und 40 bei Go. Der Algo­rith­mus lief auf einem ein­zi­gen PC mit 4 TPUs. Stock­fi­sh und Elmo ver­wen­de­ten 64 CPU-Kerne.

3. Fort­schrit­te bei der Hard­ware und dem Ener­gie­ver- brauch beim Spielen

Die Fort­schrit­te beim Ener­gie­ver­brauch und bei der Kom­ple­xi­tät der ver­wen­de­ten Hard­ware sind enorm. Nur noch eine Maschi­ne mit 4 TPUs braucht Alpha­Go Zero; bei der ers­ten Ver­si­on war es noch ein Clus­ter mit

über 1000 CPU-Ker­nen und 176 GPUs. Ten­sor Pro­ces- sing Units (TPUs), auch Ten­sor-Pro­zes­so­ren, sind von Goog­le ent­wi­ckel­te anwen­dungs­spe­zi­fi­sche Chips um Anwen­dun­gen im Rah­men des maschi­nel­len Ler­nens zu beschleunigen.

Es wird vor­aus­sicht­lich nicht lan­ge dau­ern, bis die­se Spiel­leis­tung auch auf Mobil­te­le­fo­nen ver­füg­bar sein wird.

VII. Bes­ser als der Mensch

Der Grad­mes­ser für Leis­tungs­mes­sun­gen bei Künst­li- cher Intel­li­genz war immer der Mensch

Inzwi­schen sind vie­le KI-Lösun­gen in unter­schied- lichs­ten Anwen­dun­gen wesent­lich bes­ser gewor­den als der Mensch und sie ler­nen auch wesent­lich schnel­ler. Man darf gespannt sein, was von die­ser Ent­wick­lung noch zu erwar­ten ist. Neu­ro­chips ler­nen 10.000-mal schnel­ler als unser Gehirn und sie fin­den häu­fig neue Lösun­gen für Pro­ble­me, wel­che Men­schen zuvor noch nie ent­deckt haben.

Wei­te­re Anwen­dungs­bei­spie­le der KI:
– Kla­rer Sieg für die künst­li­che Intel­li­genz: Beim

US-Game­show-Klas­si­ker „Jeo­par­dy“ hat der IBM- Com­pu­ter „Wat­son“ (seman­ti­sche Such­ma­schi­ne) zwei mensch­li­che Cham­pi­ons besiegt (2011).

– Ler­nen von Ata­ri-Spie­len mit KI basie­rend allei­ne auf Video­auf­nah­men des Com­pu­ter-Bild­schirms. Ers­ten Ansät­zen mit Rein­force­ment Ler­nen gelang es sehr erfolg­reich eine Anzahl von Ata­ri-Spie­len zu ler­nen. Man schei­ter­te jedoch bei bestimm­ten Spie- len. Die Autoren von „Go-Explo­re“12 erziel­ten erheb- liche Fort­schrit­te durch eine Kom­bi­na­ti­on von CNNs mit stra­te­gi­schen Entscheidungsstrategien

page16image55095904

Abb. 7: Fort­schrit­te bei der Hard­ware und dem Ener­gie­ver­brauch beim Spie­len
12 Ecof­fet, A., Hui­zin­ga, J., Leh­man, J., Stan­ley, K. O., & Clune, J. (2021). „First return, then explo­re“, Natu­re, 590(7847), 580–586.

Burk­hardt · Ein Bei­trag zur Künst­li­chen Intel­li­genz 7 7

und Domä­nen­wis­sen. Go-Explo­re merkt sich kon- kre­te Zustän­de der Lösungs­do­mä­ne und geht immer wie­der zum letz­ten erfolg­rei­chen Punkt zurück, um von dort aus erneut alles zu erkun­den. In allen 55 getes­te­ten Titeln spiel­te Go-Explo­re ins­ge­samt über- mensch­lich, selbst im Erkun­dungs­spiel „Pit­fall!“, in dem älte­re KIs bis­lang über­haupt kei­ne Punk­te erzie­len konn­ten. Das Pro­gramm setz­te einen Rekord indem es den mensch­li­chen Welt­re­kord brach.

– Hand­schrift­er­ken­nung:
Hand­schrift­er­ken­nung war schon immer eine Domä­ne des Men­schen, wel­che man von Kind auf trai­niert hat. Maschi­nel­le Lösun­gen taten sich zunächst schwer, ver­gleich­ba­re Lösun­gen zu fin­den. Klas­si­sche Ansät­ze der Mus­ter­er­ken­nung erreich­ten dann doch bemer­kens­wer­te Ergeb­nis­se mit einer Feh­ler­ra­te von nur 0,6%. Getes­tet wur­den die Lösun- gen anhand der MNIST-Daten­bank, wel­che tau­sen- de von hand­ge­schrie­be­nen Buch­sta­ben und Zif­fern ent­hält. Men­schen errei­chen bei die­ser Daten­bank eine Feh­ler­ra­te von 1,4%. Die bes­ten Ergeb­nis­se mit Deep Lear­ning lie­gen inzwi­schen bei einer Feh­ler­ra- te von 0,21% und damit fast 7‑mal bes­ser als der Mensch.13

– Ankün­di­gung von Deep­Mind Health durch Goog- le (24. Febr. 2016)

– Goog­le: Deep­Mind redu­zier­te mit maschi­nel­lem Ler­nen den Ener­gie­ver­brauch der Kühl­sys­te­me in ihren For­schungs­zen­tren um erstaun­li­che 40%.

– Goog­le trai­niert ein ein­zi­ges Neu­ro­na­les Netz wel­ches 100 Spra­chen über­set­zen kann.

– Luft­kampf (Dog Fight) gegen einen der erfah­rens- ten Pilo­ten der US-Air Force. Der Pilot hat­te kei­ne Chan­ce gegen die KI.

– Sieg beim Poker­spiel: Die sieg­rei­che KI-Soft­ware mit Namen Libra­tus wur­de von zwei For­schern der

Car­ne­gie Mel­lon-Uni­ver­si­tät ent­wi­ckelt und strich bei dem Match gegen vier der welt­bes­ten Poker­spie- ler mit deut­li­chem Vor­sprung den angeb­li­chen Mil- lio­nen-Pot ein. Dies ist inso­fern bemer­kens­wert, weil man der KI kei­nen so gro­ßen Erfolg pro­phe­zeit hat, wo die mensch­li­che Intui­ti­on oder das „Bauch- gefühl“ benö­tigt wird.

– ImageN­et ist ein jähr­li­cher Bil­der­ken­nungs­wett­be- werb, also z.B. die Fra­ge ist in einem Bild eine Kat­ze zu fin­den. 2015 unter­bot ein Deep-Lear­ning-Sys­tem von Micro­soft in einer Kate­go­rie mit 4,9 Pro­zent die mensch­li­che Feh­ler­ra­te von 5,1 Prozent.

– Goog­le Musik­su­che; die Musik­erken­nungs­soft­ware von Goog­le erkennt in weni­gen Sekun­den, wel­ches Musik­stück gera­de zu hören ist; viel­mehr ist das Pro­gramm jetzt auch in der Lage, Musik­stü­cke durch blo­ßes Vor­sum­men, Pfei­fen oder Sin­gen zu erkennen.

VIII. Com­pu­ter-Hard­ware

Der Erfolg beim Maschi­nel­len Ler­nen ist nur mög­lich mit enor­mer Rechen­leis­tung. Eine zen­tra­le Rol­le spie­len dabei GPUs. Eine „GPU“ ist die Gra­phic Pro­ces­sing Unit, also der Pro­zes­sor der Gra­fik­kar­te eines PCs. Mit sol- chen Gra­phik­kar­ten las­sen sich Lern­vor­gän­ge bei gro- ßen KNNs erheb­lich beschleunigen.

Leis­tungs­da­ten der Gra­fik­kar­te NVIDIA GeForce GTX 1080:

– 2.560 Ker­ne, Takt: 2 GHz
– 7,2 Mil­li­ar­den Tran­sis­to­ren
– 10 Tera­FLOPS = 1013 FLOPS = 10.000.000.000.000

FLOPS
– (1 FLOP ist eine Floa­ting-Point-Ope­ra­ti­on wie z.B.

eine Addi­ti­on oder eine Mul­ti­pli­ka­ti­on zwei­er Gleit- kommazahlen)

page17image54960672

13

Abb. 8: Gra­fik­kar­te NVIDIA GeForce GTX 1080

A. Bal­do­mi­nos, Y. Saez, P. Isa­si“A sur­vey of hand­writ­ten cha­rac­ter reco­gni­ti­on with MNIST and EMNIST” Appli­ed Sci­en­ces, 2019 — mdpi.com (letz­ter Zugriff am 08.03.2023).

78 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 71–78

  • –  Etwa 100-mal schnel­ler als ein PC
  • –  Ener­gie­ver­brauch: ca. 150 Watt
  • –  Kos­ten: ca. 800,-€Zum Vergleich:
  • –  2002 erreich­te der welt­weit schnells­te Super­com­pu- ter 10 TFLOPS,
  • –  Ener­gie­ver­brauch: 3,2 MWatt
  • –  Kos­ten: 50 Mio$ –Dass man heu­te alles auf einem PC rech­nen kann und kei­nen Super­com­pu­ter für 50 Mil­lio­nen braucht, hat ganz wich­tig dazu bei­getra­gen, dass vie­le tau­send Wis- sen­schaft­ler und Ent­wick­ler auf der gan­zen Welt heu­te an sol­chen Pro­ble­men arbei­ten und die Sys­te­me wei­ter- ent­wi­ckeln kön­nen.XI. Aus­blickIn den letz­ten 5 Jah­ren hat die KI gro­ße Fort­schrit­te ins- beson­de­re auf fol­gen­den Gebie­ten gemacht: Com­pu­ter Visi­on, Sprach­er­ken­nung und Sprach­syn­the­se, natür­li- ches Sprach­ver­ste­hen, Bild- und Video Gene­rie­rung, Mul­ti­agen­ten­sys­te­me, Pla­nungs­stra­te­gien, Robo­tik, Spie­le, medi­zi­ni­sche Dia­gno­se, Logis­tik, auto­no­mes Fah­ren, Über­set­zer, Arz­nei­mit­tel­syn­the­se. Fort­schrit­te wur­den erzielt in Bezug auf: Ler­nen, Leis­tungs­fä­hig­keit, Hard­ware und Energieverbrauch.Es ist zu erwar­ten, dass in naher Zukunft vie­le wei­te- re Anwen­dungs­ge­bie­te hin­zu­kom­men. Z.B. wer­den Such­ma­schi­nen in der Lage sein, wesent­lich prä­zi­se­re se- man­ti­sche Anfra­gen zu beant­wor­ten und nicht nur eine Ansamm­lung von Stich­wör­tern aus­zu­wer­ten. Auf Mo- bil­te­le­fo­nen wird die KI bereits inten­siv eingesetzt.Google ist über­zeugt vom gro­ßen Poten­ti­al von Deep Lear­ning und hat des­halb mit einer Erst­in­ves­ti­ti­on von

600 Mio US$ die Toch­ter­fir­ma Deep Mind gegrün­det. Apple, IBM und Micro­soft zie­hen nach und stel­len vie­le neue Mit­ar­bei­ter für die­ses Gebiet ein.

Chi­na strebt nach welt­wei­ter Domi­nanz bei Künst­li- cher Intel­li­genz. Der Staats­rat der Volks­re­pu­blik Chi­na hat im Juli 2017 die Künst­li­che Intel­li­genz zur wich­tigs- ten Schlüs­sel­tech­no­lo­gie erklärt und einen Plan zu deren Wei­ter­ent­wick­lung beschlos­sen mit enor­men Inves­ti­tio- nen. Schon 2030 soll die chi­ne­si­sche KI-Indus­trie min- des­tens 150 Mil­li­ar­den US$ auf die­sem Gebiet umsetzen.

Trotz der groß­ar­ti­gen Erfol­ge der KI im letz­ten Jahr- zehnt, müs­sen die Ergeb­nis­se jedoch auch etwas rela­ti- viert wer­den, da alle damit gelös­ten Pro­ble­me wie etwa typi­scher­wei­se das Schach­spiel, einer gewis­sen Klas­se von Intel­li­genz zuzu­ord­nen sind, wel­che man als „me- cha­nis­ti­sche Intel­li­genz“ bezeich­nen könn­te und wel­che alle eine klar for­mu­lier­ba­re Ein-/Aus­gangs­funk­tio­na­li­tät auf­wei­sen. Wenn es hin­ge­gen um Gebie­te der Intel­li­genz geht, wo Eigen­schaf­ten wie etwa Krea­ti­vi­tät, Intui­ti­on oder Asso­zia­ti­vi­tät gefragt sind, dann kann die KI noch kei­ne so gro­ßen Erfol­ge im Ver­gleich zum Men­schen vor­wei­sen. Hier ist der Mensch der Maschi­ne noch deut- lich über­le­gen; aber es wird dar­an gearbeitet.

Man kann jedoch fest­stel­len, dass der Traum der In- for­ma­ti­ker, mensch­li­che Intel­li­genz mit Com­pu­tern nach­zu­bil­den, in den letz­ten 10 Jah­ren zu einem bemer- kens­wer­ten Teil in Erfül­lung gegan­gen ist.

Der Autor ist Pro­fes­sor am Insti­tut für Infor­ma­tik an der Albert-Lud­wigs-Uni­ver­si­tät Frei­burg. Sei­ne For- schungs­schwer­punk­te lie­gen in den Berei­chen Com- puter Visi­on, Künst­li­che Intel­li­genz und Mus­ter­er­ken- nung.

Über­sicht*

I. Ver­bot der Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung an Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten durch § 9 Abs. 1 Psy­cho­the­ra­peu- ten­ge­setz – PsychThG

1. Zugang zum Psy­cho­the­ra­pie­stu­di­um
2. Ziel­set­zun­gen der refor­mier­ten Psychotherapeutenausbildung

II. Zum Schutz der Lehr­frei­heit von Hoch­schu­len für Ange- wand­te Wissenschaften

1. Zum Ein­griff in die Lehrfreiheit

2. Zur Ver­fas­sungs­wid­rig­keit der Prä­mis­sen des Psy­cho­the­ra- peutengesetzes

a) Len­kung und Begren­zung der Ausbildungskapazität

b) Zur Fähig­keit der Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf- ten zur Orga­ni­sa­ti­on der Aus­bil­dung von Psychotherapeuten

3. Kei­ne Recht­fer­ti­gungs­mög­lich­keit des Aus­schlus­ses der Hoch- schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten aus der Psy­cho­the­ra- peutenausbildung

a) Zu den Grund­rech­ten Drit­ter als ver­fas­sungs­im­ma­nen­te Schran­ke des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG

aa) Schutz der Studierenden

bb) Schutz der Gesund­heit der psy­cho­the­ra­peu­tisch zu behan- deln­den Personen

b) Aus­schluss der Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung an Hoch­schu- len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten verfassungswidrig

aa) Ver­ken­nung des Pro­fils der Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wissenschaften

bb) Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung auch ohne Grund­la­gen­for- schung

c) Ins­be­son­de­re zur Gleich­wer­tig­keit des Psy­cho­the­ra­pie-Bache- lors an einer Hoch­schu­le für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten mit einem ent­spre­chen­den uni­ver­si­tä­ren Bachelor

III. Ergeb­nis

Nach dem „Arti­kel­ge­setz zur Reform der Psy­cho­the­ra­peu- ten­aus­bil­dung vom 15.11.2019“1 fin­det die Psy­cho­the­ra- peu­ten­aus­bil­dung mit einem drei­jäh­ri­gen Bache­lor- und zwei­jäh­ri­gen Mas­ter-Stu­di­um nur an Uni­ver­si­tä­ten statt.

* Die Aus­füh­run­gen beru­hen zum Teil auf einem Rechts­gut­ach­ten.
1 BGBl 2019 I, S. 1604.
2 §§ 5, 6 Psy­cho­the­ra­peu­ten­ge­setz vom 16. 6. 1998, BGBl. I, S. 1311

Der zuvor mög­li­che Aus­bil­dungs­weg unter Betei­li­gung der Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wissenschaften2 wur- de ver­schlos­sen. Der fol­gen­de Bei­trag befasst sich mit der Fra­ge: Ist die­ser voll­stän­di­ge Aus­schluss der Hoch- schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten von der Psy- cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung mit ihrer von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG geschütz­ten Lehr­frei­heit vereinbar?

I. Ver­bot der Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung an Hoch- schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten durch
§ 9 Abs. 1 Psy­cho­the­ra­peu­ten­ge­setz – PsychThG

Die Psy­cho­the­ra­pie befasst sich mit der Behand­lung von psy­chi­schen Erkran­kun­gen mit inter­ak­ti­ven psy­cho­lo­gi- schen Mit­teln. Im Psy­cho­lo­gie-Stu­di­um, des­sen beson- dere Spe­zia­li­sie­rung sich der Aus­bil­dung zum Psycho- the­ra­peu­ten wid­met, wer­den Metho­den und Pra­xis der Ver­fah­ren psy­cho­lo­gi­scher Kran­ken­be­hand­lung ver­mit- telt.

1. Zugang zum Psychotherapiestudium

Nach § 9 Abs. 1 PsychThG ist für Stu­die­ren­de, die nach dem 1. 9. 2020 eine Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung absol- vie­ren wol­len, nur das Stu­di­um an einer Uni­ver­si­tät oder an einer ver­gleich­ba­ren Hoch­schu­le mög­lich. Als ver- gleich­bar wird eine Hoch­schu­le erach­tet, der das Pro­mo- tions­recht ver­lie­hen ist.3 Soweit Hoch­schu­len für Ange- wand­te Wis­sen­schaf­ten kein Pro­mo­ti­ons­recht haben, was in der Regel der Fall ist, sind sie nicht berech­tigt, ein Stu­di­um der Psy­cho­the­ra­pie anzubieten.

Damit ist ein uni­ver­si­tä­res Stu­di­um Vor­aus­set­zung für die Ertei­lung der für die Berufs­auf­nah­me erfor­der­li- chen Appro­ba­ti­on (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 in Ver­bin­dung mit § 1 Abs. 1 S. 1 PsychThG). Das Psy­cho­the­ra­pie­stu­di­um er- folgt in einem Bache­lor­stu­di­en­gang, der poly­va­lent aus- gestal­tet sein kann, sowie in einem dar­auf auf­bau­en­den Masterstudiengang(§9Abs.3S.1PsychThG).DieStudi- engän­ge müs­sen nach dem Hoch­schul­recht der Län­der akkre­di­tiert sein (§ 9 Abs. 4 S. 1 PsychThG).

3 Hier­zu Sand­ber­ger, Abschlüs­se, Pro­mo­ti­on, Habi­li­ta­ti­on, in Haug (Hg.), Das Hoch­schul­recht in Baden- Würt­tem­berg, 3. Aufl. 2020, Teil 3, Rn. 728 f.

Tho­mas Würtenberger

Stu­di­um der Psy­cho­the­ra­pie – auch an Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wissenschaften?

Ord­nung der Wis­sen­schaft 2023, ISSN 2197–9197

80 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 79–88

Die­se Anfor­de­run­gen an eine uni­ver­si­tä­re Psycho- the­ra­peu­ten­aus­bil­dung haben zur Fol­ge, dass Hoch­schu- len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten ab dem Stu­di­en­be- ginn zum 1. 9. 2020 nicht mehr an einem Stu­di­um, das zur Appro­ba­ti­on in Psy­cho­the­ra­pie führt, betei­ligt sein kön­nen. Die­ses Ver­bot einer Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus­bil- dung an Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten wird mit den Ziel­set­zun­gen der Aus­bil­dung nach dem neu­en Psy­cho­the­ra­peu­ten­ge­setz begründet:

2. Ziel­set­zun­gen der refor­mier­ten Psy­cho­the­ra­peu­ten- ausbildung

Die Ziel­set­zun­gen der refor­mier­ten Psy­cho­the­ra­pie­aus- bil­dung sind in der Geset­zes­be­grün­dung auf­ge­lis­tet. Zu den wich­tigs­ten Reform­an­lie­gen gehören:4

  • –  eine qua­li­fi­zier­te, pati­en­ten­ori­en­tier­te, bedarfs­ge- rech­te und flä­chen­de­cken­de psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Ver­sor­gung auf dem „aktu­el­len Stand wis­sen­schaft­li- cher Erkennt­nis­se“ (S. 1, 70, 74)
  • –  Berück­sich­ti­gung der ver­än­der­ten Struk­tu­ren in der Hoch­schul­aus­bil­dung (S. 78, 92)
  • –  wis­sen­schaft­li­ches Mas­ter­stu­di­um an einer Uni­ver- sität als Vor­aus­set­zung für die Approbation
  • –  uni­ver­si­tä­re Aus­bil­dung, um „wis­sen­schaft­li­che Qua- lifi­ka­ti­on auf höchs­tem wis­sen­schaft­li­chen Niveau zu ermög­li­chen“ (S. 52)
  • –  Gleich­stel­lung des psy­cho­the­ra­peu­ti­schen Heil­be- rufs mit dem medi­zi­ni­schen oder phar­ma­zeu­ti­schen Heil­be­ruf (S. 52)
  • –  Fähig­keit zur Wei­ter­ent­wick­lung des Berufs und Berufs­fel­des (S. 52)
  • –  „Aus­wei­tung der Stu­di­en­ka­pa­zi­tä­ten und eine Ein- bin­dung der Fach­hoch­schu­len zur Siche­rung des Fach­kräf­te­be­darfs … nicht erfor­der­lich“ (S. 53)Bei den fol­gen­den Über­le­gun­gen zum Schutz der Lehr­frei­heit geht es in der Sache um die Fra­ge, ob der Gesetz­ge­ber das Pro­fil der Hoch­schu­len für Ange­wand- te Wis­sen­schaf­ten zutref­fend gewür­digt hat und ob sie, eben­so wie Uni­ver­si­tä­ten, eine Psychotherapeutenaus-
  1. 4  BT-Drs. 19/9770, S. 1 ff.
  2. 5  BVerfGE 126, 1 Rn. 40 ff.; Hufen, Staats­recht II – Grund­rech­te, 7.Aufl. 2018, § 34 Rn. 595.
  3. 6  Heidt­mann, Grund­la­gen der Pri­vat­hoch­schul­frei­heit, 1980, S. 285ff.; Steink­em­per, Ver­fas­sungs­recht­li­che Stel­lung der Pri­vat­hoch- schu­le und ihre staat­li­che För­de­rung, 2002, S. 110; Beck­OK GG/ Kem­pen, 50. Ed. 15.2.2022, GG Art. 5 Rn. 185; Feh­ling, in: Bon­ner Kom­men­tar, 2004, Art. 5 Abs. 3 GG Rn. 129; Von Münch/Kunig/ Wendt, 7. Aufl. 2021, GG Art. 5 Rn. 164; Mager, Frei­heit von For­schung und Leh­re, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch

bil­dung anbie­ten kön­nen, die den Ziel­set­zun­gen des Psy- cho­the­ra­peu­ten­ge­set­zes entspricht.

II. Zum Schutz der Lehr­frei­heit von Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wissenschaften

Der Schutz­be­reich der durch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG geschütz­ten Lehr­frei­heit umfasst auch die Leh­re an den Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wissenschaften.5 Die ver- fas­sungs­recht­lich geschütz­te Lehr­frei­heit der Hoch­schu- len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten umfasst das Recht, wie noch zu begrün­den ist, einen Stu­di­en­gang der Psy- cho­the­ra­pie anzu­bie­ten. Auf die­sen Schutz kön­nen sich nicht nur die öffent­li­chen Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten, son­dern auch die­se Hoch­schu­len in pri- vater Trä­ger­schaft und deren Trä­ger­ge­sell­schaf­ten beru- fen.6 Art. 5 Abs. 3 GG schützt mit der Pri­vat­hoch­schul- frei­heit nicht nur die ein­zel­ne Hoch­schu­le, son­dern ergän­zend auch die wis­sen­schafts­af­fi­ne und an beson­de- ren Lehr­kon­zep­ten ori­en­tier­te Grün­dungs- und Betä­ti- gungs­frei­heit ihrer Trägergesellschaften.

1. Zum Ein­griff in die Lehrfreiheit

In die­sen Bereich grund­recht­lich geschütz­ter Lehr­frei- heit greift § 9 Abs. 1 PsychThG ein. Er ver­hin­dert mit sei- nem Uni­ver­si­täts­vor­be­halt, dass Hoch­schu­len für Ange- wand­te Wis­sen­schaf­ten in der Lage sind, Stu­di­en­gän­ge für die Aus­bil­dung von Psy­cho­the­ra­peu­ten anzu­bie­ten. Dies ist ein schwe­rer und tie­fer Ein­griff in die Lehr­frei­heit der Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten. Der Gesetz­ge­ber unter­bin­det die Ein­rich­tung ent­spre­chen- der Bache­lor- und Mas­ter­stu­di­en­gän­ge. Er ver­drängt die Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten aus einer Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung, an der sie bis zum Inkraft­tre­ten des Psy­cho­the­ra­peu­ten­ge­set­zes erfolg­reich betei­ligt waren.

2. Zur Ver­fas­sungs­wid­rig­keit der Prä­mis­sen des Psycho- therapeutengesetzes

Bevor die Ver­fas­sungs­mä­ßig­keit die­ser Rege­lung näher erör­tert wird, sei­en die Bera­tun­gen im Gesetzgebungs-

des Staats­rechts, 3. Aufl., Bd. VII, 2009, § 166 Rn. 16; Kem­pen, Grund­fra­gen des insti­tu­tio­nel­len Hoch­schul­rechts, in Hartmer/ Det­mer (Hg.), Hoch­schul­recht, 4. Aufl. 2022, 1. Kap. Rn. 20, 21 mit Nachw.; v. Mangoldt/Klein/Starck/Starck/Pau­lus, 7. Aufl. 2018, GG Art. 5 Rn. 488; Dreier/Britz, 3. Aufl. 2013, GG Art. 5 Abs. 3 (Wis­sen­schaft) Rn. 24; Wür­ten­ber­ger, Pri­vat­hoch­schul­frei- heit – auch bei der Orga­ni­sa­ti­on der Lei­tungs­ebe­ne?, OdW 2019, 15, 16 f.; Tru­te, Die For­schung zwi­schen grund­recht­li­cher Frei­heit und staat­li­cher Insti­tu­tio­na­li­sie­rung, 1994, S. 120.

ver­fah­ren auf­ge­grif­fen. Im Refe­ren­ten­ent­wurf und sodann in der Geset­zes­be­grün­dung wur­den Grün­de für eine allein uni­ver­si­tä­re Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung ange­führt, denen die Ver­fas­sungs­wid­rig­keit auf die Stir- ne geschrie­ben war. Über die­se zu berich­ten, besteht Anlass. Denn sie zei­gen, dass die Geset­zes­no­vel­lie­rung mit nicht ver­fas­sungs­kon­for­men Ziel­set­zun­gen vor­be- rei­tet wurde.

a) Len­kung und Begren­zung der Ausbildungskapazität

Der Refe­ren­ten­ent­wurf vom 3. 1. 20197 legt offen, dass die

uni­ver­si­tä­re Aus­bil­dung von Psy­cho­the­ra­peu­ten auch daher ein­ge­führt wur­de, um den Zugang zum Beruf des Psy­cho­the­ra­peu­ten zu begren­zen:

„Wei­ter­hin dient die Ansied­lung des Stu­di­ums der Psy- cho­the­ra­pie an Uni­ver­si­tä­ten aber auch der kapa­zi­tä- ren Beschrän­kung von Aus­bil­dungs­plät­zen. Schon heu- te stre­ben die Stu­die­ren­den im Bereich der Psy­cho­lo­gie in hoher Zahl einen Abschluss des Stu­di­ums mit dem aka­de­mi­schen Grad des Mas­ters an. Der Anteil der­je- nigen, die danach eine Tätig­keit in der kli­ni­schen Psy- cho­lo­gie oder eine Aus­bil­dung zum Beruf des Psy­cho­lo- gischen Psy­cho­the­ra­peu­ten oder des Kin­der- und Ju- gend­li­chen­psy­cho­the­ra­peu­ten anstre­ben, liegt nach Aus­sa­gen der Deut­schen Gesell­schaft für Psy­cho­lo­gie bei etwa 70 Pro­zent. Den schrift­li­chen Teil der staat­li- chen Prü­fung nach dem PsychThG 1998 haben nach den sta­tis­ti­schen Erhe­bun­gen des Insti­tuts für medi­zi- nische und phar­ma­zeu­ti­sche Prü­fungs­fra­gen (IMPP) im Jahr 2014 etwa 2300 und im Jahr 2016 bereits 2700 Per­so­nen abge­legt. Damit setzt sich der lang­jäh­ri­ge Pro­zess unbe­grenzt stei­gen­der Aus­bil­dungs­zah­len wei- ter fort. Umge­kehrt geht mit den stei­gen­den Absol­ven- ten­zah­len aber kein unbe­grenzt stei­gen­der Bedarf an Psy­cho­the­ra­peu­tin­nen und Psy­cho­the­ra­peu­ten ein­her. Der­zei­ti­ge Berech­nun­gen zei­gen viel­mehr, dass eine Zahl von etwa 2300 bis 2500 Per­so­nen, die jähr­lich die Aus­bil­dung und in Zukunft das Stu­di­um abschlie­ßen, mehr als aus­rei­chen wird, um gemein­sam mit den psy- cho­the­ra­peu­tisch täti­gen Ärz­tin­nen und Ärz­ten die psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Ver­sor­gung dau­er­haft zu si-

  1. 7  https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/ Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/P/ PsychThG-RefE.pdf (letz­ter Zugriff am 10.03.2023).
  2. 8  BT-Drs. 19/9770, S. 53; Lin­den, Das neue Psy­cho­the­ra­peu­t­en­ge- setz: Gewin­ner und Ver­lie­rer, in: Psy­cho­the­ra­peut, 2021, S. 42, 45: „Ver­ab­schie­det wur­de ein Zugangs- und Men­gen­be­gren­zungs­ge- setz“.
  3. 9  BVerfG NJW 1972, 1561, 1564 mit Ver­weis auf BVerwG JZ 1963, 675.
  4. 10  Inwie­weit der Staat die Berufs­chan­cen der Ausbildungswilligen

chern. Schon heu­te gibt es kapa­zi­tä­re Über­hän­ge bei der Ver­tei­lung von Kas­sen­sit­zen“ (S. 58).

Die­se in der Geset­zes­be­grün­dung eben­falls offen ge- leg­te Ori­en­tie­rung der Aus­bil­dungs­ka­pa­zi­tä­ten an einer (bereits damals feh­ler­haf­ten) Schät­zung des Bedarfs und an der Zahl von Kas­sen­sit­zen und damit ver­bun­den der Aus­schluss der Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen- schaf­ten von der Psychotherapeutenausbildung8 ist eine ver­fas­sungs­wid­ri­ge Ziel­set­zung des neu­en Psy­cho­the­ra- peu­ten­ge­set­zes. In einem frei­heit­li­chen Staat, der mit Art. 12 Abs. 1 GG die Berufs­frei­heit vor staat­li­chen Ein- grif­fen schützt, ist eine Berufs­len­kung durch geziel­te Ver- knap­pung und Kon­tin­gen­tie­rung der Aus­bil­dungs­plät­ze durch eine Rege­lung der Pflicht der Aus­bil­dung an Uni- ver­si­tä­ten ver­fas­sungs­wid­rig. Nach der Recht­spre­chung des BVerfG zu Art. 12 Abs. 1 GG gehö­ren zur recht­li­chen Ord­nung der beruf­li­chen Betä­ti­gung auch Vor­schrif­ten über die Aus­bil­dung und den Zugang zu einem Beruf. Aus die­ser engen Ver­knüp­fung folgt, dass Beschrän­kun- gen bei der Zulas­sung zur Aus­bil­dung nicht einer am ge- sell­schaft­li­chen Bedarf ori­en­tier­ten Berufs­len­kung die- nen dürfen.9 Es über­rascht, dass der­ar­ti­ge Gren­zen ge- setz­ge­be­ri­scher Gestal­tungs­frei­heit bei den Bera­tun­gen des neu­en Psy­cho­the­ra­peu­ten­ge­set­zes über­se­hen wer- den konnten.10

Der Hin­weis im Refe­ren­ten­ent­wurf, es gäbe kapa­zi­tä- re Über­hän­ge bei der Ver­tei­lung von Kas­sen­sit­zen, ist deplat­ziert. Das Minis­te­ri­um ver­hält sich hier nicht bzw. äußerst ein­sei­tig zum gesell­schaft­li­chen Bedarf an Psy- cho­the­ra­peu­ten und zu den hef­ti­gen Aus­ein­an­der­set- zun­gen um die drin­gend nöti­ge Erhö­hung von Kas­sen- sitzen.11 Bei dem der­zei­ti­gen Man­gel an Kas­sen­sitz-Psy- cho­the­ra­peu­ten mit mona­te­lan­gen War­te­zei­ten auf Be- ratungs­mög­lich­kei­ten ist es nicht nach­voll­zieh­bar, die Pla­nung der Aus­bil­dungs­ka­pa­zi­tät an einer Fest­schrei- bung der Zahl an Kas­sen­sit­zen zu ori­en­tie­ren und damit das Aus­bil­dungs­po­ten­ti­al der Hoch­schu­len für Ange- wand­te Wis­sen­schaf­ten zu negie­ren. Davon abge­se­hen for­dert der Gesund­heits­schutz der Bevöl­ke­rung kei­ne Psy­cho­the­ra­peu­ten, die wis­sen­schaft­lich zu for­schen in der Lage sind, wie die Geset­zes­be­grün­dung verlangt.12

Wür­ten­ber­ger · Stu­di­um der Psy­cho­the­ra­pie 8 1

11 12

zu berück­sich­ti­gen berech­tigt ist (Zippelius/Würtenberger, Deut- sches Staats­recht, 33. Aufl. 2018, § 37 Rn. 43), muss nicht wei­ter geprüft wer­den. Es ist jeden­falls ver­fas­sungs­wid­rig, die Zahl der Stu­die­ren­den an den Kas­sen­arzt­sit­zen zu ori­en­tie­ren und damit den gesell­schaft­li­chen Bedarf ein­sei­tig limi­tie­rend fest­zu­le­gen. Vgl. etwa die Pres­se­mit­tei­lung der Bun­des­psy­cho­the­ra­peu­ten- kam­mer https://www.bptk.de/bptk-auswertung-monatelange- war­te­zei­ten-bei-psy­cho­the­ra­peu­tin­nen/ (letz­ter Zugriff am 10.03.2023).

BT-Drs. 19/9770, S. 52.

82 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 79–88

Gefor­dert sind The­ra­peu­ten, wor­auf zurück­zu­kom­men ist, die die wis­sen­schaft­lich fun­dier­ten The­ra­pie­an­ge­bo­te anzu­wen­den in der Lage sind.

b) Zur Fähig­keit der Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis- sen­schaf­ten zur Orga­ni­sa­ti­on der Aus­bil­dung von Psy- chotherapeuten

Außer­dem soll nach Ansicht des Refe­ren­ten­ent­wurfs sowie der Gesetzesbegründung13 gegen ein Stu­di­um der Psy­cho­the­ra­pie an Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis- sen­schaf­ten spre­chen, dass sie nicht fähig sei­en, die neu- en gesetz­lich gere­gel­ten Anfor­de­run­gen an ein Psycho- the­ra­peu­ten­stu­di­um umset­zen zu können:

„Die Ent­schei­dung, das Stu­di­um an Uni­ver­si­tä­ten oder ihnen gleich­ge­stell­ten Hoch­schu­len anzu­sie­deln, be- ruht neben den qua­li­ta­ti­ven Erwä­gun­gen auch auf Über­le­gun­gen zur Mach­bar­keit. Die an den Uni­ver­si- täten und ihnen gleich­ge­stell­ten Hoch­schu­len ange­sie- del­ten psy­cho­lo­gi­schen Fakul­tä­ten wer­den am schnells- ten in der Lage sein, das in die­sem Gesetz und der Ap- pro­ba­ti­ons­ord­nung für Psy­cho­the­ra­peu­tin­nen und Psy­cho­the­ra­peu­ten gere­gel­te Stu­di­um der Psy­cho­the­ra- pie anzu­bie­ten. Sie ver­fü­gen bereits heu­te über Struk- turen, die für die Umset­zung des Aus­bil­dungs­ziels be- nötigt wer­den. So sind an den uni­ver­si­tä­ren psy­cho­lo- gischen Insti­tu­ten Hoch­schul­am­bu­lan­zen ange­sie­delt, die bei den berufs­prak­ti­schen Ein­sät­zen mit­wir­ken kön­nen“ (S. 57 des Refe­ren­ten­ent­wurfs).

Ein der­ar­ti­ges Mach­bar­keits­ar­gu­ment kann bei der Bestim­mung der imma­nen­ten Schran­ken des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG durch­aus zu berück­sich­ti­gen sein. Vor­lie­gend kann es jedoch kei­ne Rol­le spie­len. Es ver- kennt, dass Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf- ten sich in glei­cher Wei­se wie Uni­ver­si­tä­ten auf eine neu gere­gel­te Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung ein­stel­len kön- nen. Davon abge­se­hen gab und gibt es im Bereich der Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung Hoch­schu­len für Ange- wand­te Wis­sen­schaf­ten, die umge­hend in der Lage ge- wesen wären, die neu­en Vor­ga­ben des Psychotherapeu-

  1. 13  BT-Drs. 19/9770, S. 52 f.
  2. 14  Die post­gra­dua­le Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung gehört zurAgen­da der „Hei­del­ber­ger Aka­de­mie für Psy­cho­the­ra­pie“, einem staat­lich aner­kann­ten Aus­bil­dungs­in­sti­tut für Ver­hal­tens­the­ra- pie für Kin­der und Jugend­li­che (https://www.srh-hochschule- heidelberg.de/hochschule/institute/heidelberger-akademie-fuer- psychotherapie/ letz­ter Zugriff am 10.3.2023). Die­se „Hei­del­ber­ger Aka­de­mie für Psy­cho­the­ra­pie“, errich­tet als gemein­nüt­zi­ge Stif­tung mit Sitz in Hei­del­berg, ist ein Aus­bil­dungs­in­sti­tut, das in die Orga­ni­sa­ti­on der SRH Hoch­schu­le Hei­del­berg inte­griert ist.

ten­ge­set­zes umzu­set­zen. Genannt sei nur die SRH Hoch- schu­le Hei­del­berg, die Teil­be­rei­che der Psy­cho­the­ra­peu- ten­aus­bil­dung mit einem eigens ein­ge­rich­te­ten For­schungs- und Aus­bil­dungs­in­sti­tut über vie­le Jah­re hin­weg erfolg­reich ange­bo­ten hat.14 Inso­fern geht der Refe­ren­ten­ent­wurf zum neu­en Psy­cho­the­ra­peu­ten­ge­setz ganz offen­sicht­lich von Annah­men aus, die nicht der Re- ali­tät ent­spre­chen. Die­ses Ermitt­lungs­de­fi­zit des Gesetz- gebers kann zur Ver­fas­sungs­wid­rig­keit des neu­en Psy- cho­the­ra­peu­ten­ge­set­zes füh­ren, wenn zu über­prü­fen ist, ob sich die Grund­la­gen gesetz­ge­be­ri­scher Ent­schei­dun- gen auf Fak­ten und Daten stüt­zen las­sen, die zutref­fend ermit­telt wor­den sind.15

3. Kei­ne Recht­fer­ti­gungs­mög­lich­keit des Aus­schlus­ses der Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten aus der Psychotherapeutenausbildung

Ein­grif­fe in die durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG ohne einen Geset­zes­vor­be­halt geschütz­te Hoch­schul­frei­heit der Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten müs­sen durch Gesetz, wie vor­lie­gend durch das Psy­cho­the­ra­peu- ten­ge­setz, erfol­gen. Die­se gesetz­li­chen Ein­griffs­mög­lich- kei­ten sind begrenzt. Ein­grif­fe in den Schutz­be­reich des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG sind ledig­lich inso­weit gestat­tet, als sie die ver­fas­sungs­im­ma­nen­ten Schran­ken des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG kon­kre­ti­sie­ren. Dies bedeu­tet: In die Lehr­frei- heit der Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten kann vom Gesetz­ge­ber nur mit Rück­sicht auf kol­li­die- ren­des Ver­fas­sungs­recht ein­ge­grif­fen wer­den. Zum kol­li- die­ren­den Ver­fas­sungs­recht zäh­len ent­we­der Grund- rech­te Drit­ter oder ande­re mit Ver­fas­sungs­rang aus­ges­tat- tete Rechts­wer­te.16 Bestehen also ver­fas­sungs­im­ma­nen­te Schran­ken ihrer Lehr­frei­heit, die es recht­fer­ti­gen, dass Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten von der Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung aus­ge­schlos­sen wer­den können?

a) Zu den Grund­rech­ten Drit­ter als ver­fas­sungs­im­ma- nen­te Schran­ke des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG

Zu den Grund­rech­ten Drit­ter, die mit der durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG geschütz­ten Lehr­frei­heit kollidieren

Die­ses Insti­tut ist nach sei­nem Selbst­ver­ständ­nis ein metho- den­über­grei­fen­des, inte­gra­ti­ves Aus­bil­dungs­in­sti­tut mit einem ver­hal­tens­the­ra­peu­ti­schen Schwer­punkt. An ihm sind weit über 80 appro­bier­te Kin­der- und Jugend­li­chen­psy­cho­the­ra­peu­ten aus­ge­bil­det wor­den, 50 Aus­zu­bil­den­de waren zu Ende 2020 dort immatrikuliert.

15 BVerfGE 106, 62, 144, 150; Zippelius/Würtenberger, Deut­sches Staats­recht, 33. Aufl. 2018, § 48 Rn. 43

16 BVerfG NVwZ 2010, 1285 Rn. 54 f. mit zahl­rei­chen Rück­ver­wei- sen; Wür­ten­ber­ger, OdW 2019, 15, 17 f.

und die­se ein­schrän­ken kön­nen, gehö­ren der den Stu- die­ren­den durch Art. 12 Abs. 1 GG gewähr­leis­te­te Grund- rechts­schutz sowie der von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gefor- der­te Gesund­heits­schutz der künf­tig zu behan­deln­den Patienten.

aa) Schutz der Studierenden?

Bli­cken wir zunächst auf den durch Art. 12 Abs. 1 GG ver­bürg­ten Grund­rechts­schutz der Stu­die­ren­den. Ihre von Art. 12 Abs. 1 GG geschütz­te freie Wahl von Aus­bil­dung und Aus­bil­dungs­stät­te schützt ihr Recht auf eine Aus­bil- dung, deren erfolg­rei­cher Abschluss zur Auf­nah­me des gewähl­ten Beru­fes befähigt.17 Zur Rea­li­sie­rung die­ser Aus­bil­dungs­frei­heit haben die Hoch­schu­len für Ange- wand­te Wis­sen­schaf­ten den Stu­die­ren­den eine „anwen- dungs­be­zo­ge­ne Leh­re und Wei­ter­bil­dung“ zu bie­ten, „die zu selbst­stän­di­ger Anwen­dung wis­sen­schaft­li­cher Erkennt- nis­se und Metho­den … in der Berufs­pra­xis“ befähigt.18

Das neue Psy­cho­the­ra­peu­ten­ge­setz dient zwar auch dem Schutz der Stu­die­ren­den. Denn es bezweckt unter ande­rem eine Ver­kür­zung der Aus­bil­dungs­zeit und ei- nen frü­he­ren Berufs­ein­stieg. Dies spielt in vor­lie­gen­dem Zusam­men­hang aber kei­ne Rol­le. Denn der­ar­ti­ge Rege- lun­gen hät­te man auch im Rah­men der vor­ma­li­gen Aus- bil­dung der Psy­cho­the­ra­peu­ten tref­fen kön­nen. Sie sind nicht der Grund dafür, dass die Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus- bil­dung nur noch an Uni­ver­si­tä­ten erfol­gen darf.

Davon abge­se­hen for­dert der Schutz der Stu­die­ren- den, dass das von ihnen gewähl­te Stu­di­um den Stan- dards der Aus­bil­dung ent­spricht, die eine erfolg­rei­che beruf­li­che Tätig­keit gestat­ten und dem Ver­trau­en ge- recht wird, das Per­so­nen mit ent­spre­chen­der Aus­bil­dung ent­ge­gen­ge­bracht wird. Auf die­se Leis­tungs­fä­hig­keit der Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten ist wei­ter unten aus­führ­lich einzugehen.

bb) Schutz der Gesund­heit der psy­cho­the­ra­peu­tisch zu behan­deln­den Patienten

Das Recht auf Gesund­heit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) gehört zu den ver­fas­sungs­im­ma­nen­ten Schran­ken des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG. Es ver­bie­tet eine For­schung, die zu gesund­heit­li­chen Schä­den füh­ren kann, und gebie­tet, dass die psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Aus­bil­dung in effek­ti­ver Wei­se dem Gesund­heits­schutz dient. Der Schutz der Gesund­heit for­dert ganz all­ge­mein, dass die Zulas­sung zu Arzt- oder the­ra­peu­ti­schen Beru­fen nur nach einem

17 Gro­ne­mey­er, Sind Stu­die­ren­de ver­pflich­tet an Lehr­ver­an­stal­tun- gen teil­zu­neh­men?, ODW 2023, 45, 46 ff. mit Nachw.

ent­spre­chen­den, erfolg­reich absol­vier­ten Stu­di­um erfolgt. In die­ser Hin­sicht ist gegen die Rege­lung der Appro­ba­ti­on nach dem neu­en Psy­cho­the­ra­peu­ten­ge­setz im Prin­zip nichts zu erinnern.

Gleich­wohl steht fol­gen­der vom neu­en Psy­cho­the­ra- peu­ten­ge­setz ver­folg­ter Grund­satz nicht im Ein­klang mit den Vor­ga­ben des Grund­ge­set­zes: Das neue Psycho- the­ra­peu­ten­ge­setz lässt nur eine uni­ver­si­tä­re psy­cho­the- rapeu­ti­sche Aus­bil­dung zu, um das Ziel zu errei­chen, den ver­fas­sungs­recht­lich gebo­te­nen Gesund­heits­schutz psy- chisch Erkrank­ter zu gewähr­leis­ten und auch, soweit mög­lich, zu ver­bes­sern. Die Begrün­dung, dass die­se Grund­satz­ent­schei­dung einen Aus­schluss der Hoch- schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten aus der Psycho- the­ra­peu­ten­aus­bil­dung for­de­re, hält einer am Maß­stab des Grund­ge­set­zes ori­en­tier­ten Kri­tik nicht Stand:

b) Aus­schluss der Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung an Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten ver­fas- sungswidrig

Der Aus­schluss der Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung an Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten wäre ver- fas­sungs­recht­lich statt­haft, wenn nach einer belast­ba­ren Pro­gno­se des Gesetz­ge­bers die Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus­bil- dung an Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten mit Gefähr­dun­gen der Gesund­heit der nach sol­cher Aus- bil­dung behan­del­ten Pati­en­ten ver­bun­den wären, die es recht­fer­ti­gen, die Fort­füh­rung die­ser Aus­bil­dung zu unter­sa­gen. Dies aber ist nicht der Fall:

Bli­cken wir noch­mals auf die Ziel­set­zun­gen des neu- en Psychotherapeutengesetzes:

„Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten, die einer psy­cho­the­ra- peu­ti­schen Behand­lung bedür­fen, eine qua­li­fi­zier­te, pati­en­ten­ori­en­tier­te, bedarfs­ge­rech­te und flä­chen­de- cken­de psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Ver­sor­gung auf dem ak- tuel­len Stand wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis­se zur Ver- fügung zu stel­len. … Dabei sol­len die ver­än­der­ten Struk­tu­ren in der Hoch­schul­aus­bil­dung und ihre Aus- wir­kun­gen auf die Zugangs­vor­aus­set­zun­gen sowie die stei­gen­den Anfor­de­run­gen an die psy­cho­the­ra­peu­ti- sche Tätig­keit berück­sich­tigt und Ver­bes­se­rungs­po­ten- zia­le, die sich im Zuge der lang­jäh­ri­gen Dis­kus­sio­nen über eine Ände­rung der der­zei­ti­gen Rah­men­be­din­gun- gen gezeigt haben, genutzt wer­den“.19

18 So zum Bei­spiel § 2 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 LHG BW. 19 BT Drs. 19/9770 vom 30. 4. 2019, S. 1.

Wür­ten­ber­ger · Stu­di­um der Psy­cho­the­ra­pie 8 3

84 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 79–88

aa) Ver­ken­nung des Pro­fils der Hoch­schu­len für Ange- wand­te Wissenschaften

Nach dem Wil­len des Gesetz­ge­bers soll das neue Psycho- the­ra­peu­ten­ge­setz „die ver­än­der­ten Struk­tu­ren in der Hoch­schul­aus­bil­dung“ berück­sich­ti­gen. Die­sem sich selbst auf­er­leg­tem Gebot genügt der Gesetz­ge­ber jedoch nicht. Er ver­kennt gründ­lich den „Auf­stieg“ der Fach- hoch­schu­len bzw. der Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis- sen­schaf­ten. Das BVerfG hat eine gewis­se Anglei­chung von Uni­ver­si­tä­ten und Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten bereits vor einem Jahr­zehnt klar for­mu- liert:

„Schließ­lich haben sich Annä­he­run­gen zwi­schen Uni- ver­si­tä­ten und Fach­hoch­schu­len im Zuge des so ge- nann­ten Bolo­gna-Pro­zes­ses erge­ben, die erken­nen las- sen, dass nach dem Wil­len des Gesetz­ge­bers auch Fach- hoch­schu­len als wis­sen­schaft­li­che Aus­bil­dungs­stät­ten ange­se­hen wer­den sol­len“.20

Vor allem hat der Bolo­gna-Pro­zess dazu geführt, dass sich die bei­den Hoch­schul­ty­pen Hoch­schu­le für Ange- wand­te Wis­sen­schaf­ten und Uni­ver­si­tät mit jetzt gleich- ran­gi­gen Abschlüs­sen einen Wett­be­werb „oft auf glei­cher Augen­hö­he“ um die bes­ten Stu­die­ren­den lie­fern konn- ten.21 Es ver­stößt gegen Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG, wenn der Gesetz­ge­ber beim Aus­schluss der Hoch­schu­len für An- gewand­te Wis­sen­schaf­ten von der Psy­cho­the­ra­peu­ten- aus­bil­dung ver­kennt, dass an die­sen Hoch­schu­len eben- so wie an den Uni­ver­si­tä­ten eine wis­sen­schaft­lich fun- dier­te Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung statt­ge­fun­den hat undnachwievorstattfindenkann.Dafürstreitetdas hoch­schul­recht­lich nor­mier­te Pro­fil von Uni­ver­si­tä­ten und Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten: Uni- ver­si­tä­ten haben unter ande­rem die Grund­la­gen­for- schung und ein wis­sen­schaft­li­ches Stu­di­um, Hoch­schu- len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten eine anwen­dungs- bezo­ge­ne For­schung und ein anwen­dungs­be­zo­ge­nes wis­sen­schaft­li­ches Stu­di­um zur Aufgabe.22 Eine insti­tu­ti- onel­le Rang- oder Stu­fen­fol­ge oder Auf­tei­lung zwi­schen dem Bache­lor an einer Uni­ver­si­tät oder an einer Hoch- schu­le für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten gibt es nicht;

  1. 20  BVerfGE 126, 1, Rn. 48.
  2. 21  So von Grünberg/Sonntag, 50 Jah­re Fach­hoch­schu­le. Über das­lang­sa­me Ent­ste­hen eines neu­en Hoch­schul­typs, Ord­nung der­Wis­sen­schaft, 2016, S. 157, 162.
  3. 22  So zum Bei­spiel § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 4 LHG BW.

„von einer kla­ren Tren­nung der Pro­fi­le, von Trenn- schär­fe oder Typen­treue, kann inso­weit kaum noch die Rede sein“.23

Der Gesetz­ge­ber hat bei Erlass des neu­en Psy­cho­the- rapeu­ten­ge­set­zes nicht nur das recht­li­che Pro­fil der Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten ver­kannt, son­dern auch, dass sich der alte Rechts­zu­stand bewährt hat­te und es weni­ger ein­schnei­den­der Maß­nah­men be- durft hät­te, um das Psy­cho­the­ra­peu­ten­recht zu refor­mie- ren. So hat der Gesetz­ge­ber der alten Psy­cho­the­ra­peu­te- naus­bil­dung auch durch die Hoch­schu­len für Ange- wand­te Wis­sen­schaf­ten bescheinigt:

„Grund­sätz­lich konn­te schnell fest­ge­stellt wer­den, dass sich die Schaf­fung der eigen­stän­di­gen Heil­be­ru­fe in der Psy­cho­lo­gi­schen Psy­cho­the­ra­pie und in der Kin­der- und Jugend­li­chen­psy­cho­the­ra­pie sowie die Ein­bin­dung der nicht­ärzt­li­chen Psy­cho­the­ra­pie in die Ver­sor­gung der Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten bewährt hat. Die Be- rufs­an­ge­hö­ri­gen haben eine wich­ti­ge Funk­ti­on im Sys- tem der Heil­be­ru­fe und im Gesund­heits­we­sen Deutsch- lands inne. Sie genie­ßen hohes Anse­hen bei den Pati­en- tin­nen und Pati­en­ten, die sie als kom­pe­ten­te Ansprech- part­ner bei der Behand­lung psy­chi­scher Stö­run­gen mit Krank­heits­wert anse­hen“.24

An sich war zu erwar­ten, dass der Gesetz­ge­ber den zen­tra­len Per­spek­ti­ven­wech­sel von einer Psy­cho­the­ra- peu­ten­aus­bil­dung an Uni­ver­si­tä­ten und an Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten zu einer nun­mehr allein mög­li­chen Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung an Uni­ver­si­tä­ten mit Argu­men­ten begrün­det, die den von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG gebo­te­nen Frei­heits­schutz der Hoch- schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten ein­zu­schrän- ken in der Lage sind. Hier­an fehlt es. So wird nur pau- schal dar­auf ver­wie­sen, es gäbe „zahl­rei­che Neu­ent­wick- lun­gen“, die sich bei der The­ra­pie von Pati­en­ten als wirk- sam erwie­sen haben, aber vom frü­he­ren Recht nicht erfasst wür­den, so dass zusätz­li­che Qua­li­fi­ka­tio­nen er- for­der­lich würden.25 Die Neu­fas­sung des Psy­cho­the­ra- peu­ten­ge­set­zes lässt aller­dings nicht erse­hen, wel­che Neu­ent­wick­lun­gen im Bereich der Psy­cho­the­ra­pie zu

23 Lynen/­Ber­nice-Warn­ke, in: Hartmer/Detmer (Hg.), Hoch­schul- recht, 4. Aufl. 2022, 3. Kap. Rn. 22.

24 BT Drs. 19/9770 vom 30. 4. 2019, S. 32. 25 BT Drs. 19/9770 vom 30. 4. 2019, S. 33.

wel­chen Zusatz­qua­li­fi­ka­tio­nen geführt haben oder füh- ren müssen.

bb) Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung auch ohne Grund­la- gen­for­schung zielführend

Aber selbst unter die­ser Prä­mis­se hat der Gesetz­ge­ber bei sei­nem Ein­griff in die Lehr­frei­heit der Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten nicht geklärt: Kön­nen die­se Neu­ent­wick­lun­gen in der Psy­cho­the­ra­pie nicht eben­falls in den Stu­di­en­gän­gen der Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten auf­ge­grif­fen, gelehrt und in der Umset­zung ein­ge­übt werden?

Nach der Begrün­dung zum Gesetz­ent­wurf des Psy- cho­the­ra­peu­ten­ge­set­zes wür­den nur an Uni­ver­si­tä­ten jene For­schungs­leis­tun­gen erbracht, derer es als Grund- lage einer moder­nen und wis­sen­schafts­ge­stütz­ten Psy- cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung bedarf. Denn

„Qua­li­tät und Wirk­sam­keit der jewei­li­gen medi­zi­ni- schen und the­ra­peu­ti­schen Leis­tun­gen haben dem all- gemei­nen Stand der medi­zi­ni­schen Erkennt­nis­se zu ent­spre­chen und den medi­zi­ni­schen Fort­schritt zu be- rück­sich­ti­gen (so auch § 2 Absatz 1 Satz 2 SGB V). Um die­sen Anfor­de­run­gen zu ent­spre­chen, bedarf es einer Aus­bil­dung, die wis­sen­schaft­li­che Qua­li­fi­ka­tio­nen auf höchs­tem wis­sen­schaft­li­chem Niveau ermög­licht“.26

Aller­dings wird dies sofort dahin rela­ti­viert, dass für

„das Errei­chen des in § 7 fest­ge­leg­ten Aus­bil­dungs­ziels … es der Ent­wick­lung von Hand­lungs­kom­pe­ten­zen, die auf gesi­cher­tem theo­re­ti­schem Wis­sen auf­bau­en“, bedarf.27

Dabei wird vom Gesetz­ge­ber betont,

„es sei den Fort­schrit­ten der heil­kund­li­chen Psy­cho­the- rapie als anwen­dungs­ori­en­tier­ter Wis­sen­schaft Rech- nung zu tra­gen“.28

Der Gesetz­ge­ber ver­langt also, die Psy­cho­the­ra­peu- ten­aus­bil­dung müs­se vom aner­kann­ten wis­sen­schaft­li- chen Stand der Psy­cho­the­ra­pie aus­ge­hen und den An- for­de­run­gen an eine anwen­dungs­ori­en­tier­te Wis­sen- schaft Rech­nung tragen.

  1. 26  BT Drs. 19/9770, S. 52.
  2. 27  BT Drs. 19/9770, S. 52.
  3. 28  BT Drs. 19/9770, S. 49.
  4. 29  Beck­OK Hoch­schulR BW/Gerber/Krausnick, 17. Ed. 1.11.2019,

Die hier gefor­der­te Ver­wis­sen­schaft­li­chung der Psy- cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung kann von Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten geleis­tet wer­den. Die Psy- cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung an Hoch­schu­len für Ange- wand­te Wis­sen­schaf­ten ori­en­tiert sich ihrem Auf­trag ent- spre­chend am fort­schrei­ten­den Stand der Wis­sen­schaft. Hier­für steht zunächst das gesetz­li­che Pro­fil der Hoch- schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten. Sie

„ver­mit­teln durch anwen­dungs­be­zo­ge­ne Leh­re und Wei­ter­bil­dung eine Aus­bil­dung, die zu selbst­stän­di­ger Anwen­dung und Wei­ter­ent­wick­lung wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis­se und Metho­den … in der Berufs­pra­xis be- fähigt; sie betrei­ben anwen­dungs­be­zo­ge­ne For­schung und Entwicklung“.

Nach dem Kon­zept des Gesetz­ge­bers soll der Pra­xis- bzw. Anwen­dungs­be­zug bei den Hoch­schu­len für Ange- wand­te Wis­sen­schaf­ten in Leh­re und For­schung stär­ker sein als der­je­ni­ge bei den Universitäten.

„An bei­den Hoch­schu­len wird jedoch gleich­wohl eine wis­sen­schaft­lich fun­dier­te Aus­bil­dung ver­mit­telt und die Ein­heit von For­schung und Leh­re (trotz unter- schied­li­cher Schwer­punkt­set­zung) garan­tiert“.29

Die lan­ge Zeit beträcht­li­chen Unter­schie­de zwi­schen Uni­ver­si­tä­ten und Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis- sen­schaf­ten haben deut­lich abge­nom­men. Der Gesetz- geber hat eben­so wie die Recht­spre­chung den Hoch- schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten einen umfas- sen­den Frei­raum zur For­schung eröff­net. Für die gegen- sei­ti­ge Annä­he­rung der Hoch­schul­ty­pen Uni­ver­si­tät und Hoch­schu­le für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten spricht auch, dass letz­te­ren nach und nach das Pro­mo­ti­ons­recht zuge­bil­ligt wird.30

Im Ergeb­nis bestehen nicht der­art gra­vie­ren­de Unter- schie­de zwi­schen dem Stu­di­um der Psy­cho­the­ra­pie an Uni­ver­si­tä­ten und an Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten, dass letz­te­re vom Ange­bot die­ses Stu­di- ums aus­ge­schlos­sen wer­den dür­fen. Dass die medi­zi­ni- sche Aus­bil­dung an Uni­ver­si­tä­ten erfolgt, ist kein Argu- ment, dass dies auch für eine Aus­bil­dung zum Psycho- the­ra­peu­ten erfor­der­lich ist. Dies zeigt der unter­schied­li- che Zugang zur The­ra­pie: Der Psy­cho­the­ra­peut studiert

§ 2 LHG Rn. 25.
30 Beck­OK Hoch­schulR BW/Gerber/Krausnick, 17. Ed. 1.11.2019,

§ 2 LHG Rn. 26 ff.; BVerfGE 126, 1, 19 ff.

Wür­ten­ber­ger · Stu­di­um der Psy­cho­the­ra­pie 8 5

86 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 79–88

an einer psy­cho­lo­gi­schen, nicht aber an einer medi­zi­ni- schen Fakul­tät. Grund für die­se Dif­fe­renz ist, dass die Wis­sen­schaft von der Psy­cho­the­ra­pie grund­ver­schie­den von der medi­zi­ni­schen Wis­sen­schaft ist. Wäh­rend die Psy­cho­the­ra­pie allein Beschwer­den der geis­ti­gen Situa­ti- on des Men­schen hei­len möch­te, befasst sich die Medi- zin mit der Hei­lung kör­per­li­cher Lei­den. Ziel­set­zun­gen und Metho­den bei­der Stu­di­en­gän­ge sind der­art ver- schie­den, dass sich nicht für bei­de ein uni­ver­si­tä­res Aus- bil­dungs­ni­veau for­dern lässt.

Vor allem ist nicht ersicht­lich, wie die uni­ver­si­tä­re psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Grund­la­gen­for­schung zu einer Op- timie­rung der Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung bei­tra­gen kann. Denn wie bei jeder Grund­la­gen­for­schung gilt auch hier der Grund­satz: Ob the­ra­peu­ti­sche Grund­la­gen­for- schung aus­bil­dungs­re­le­vant wird, ergibt sich erst aus ih- rem Trans­fer in die Pra­xis. Solan­ge die­se Trans­la­ti­on nicht wis­sen­schaft­lich abge­si­chert ist, taugt sie nicht zur Behand­lung von Pati­en­ten und auch nicht zur psycho- the­ra­peu­ti­schen Aus­bil­dung. Dies gilt sowohl für die Trans­la­ti­on medi­zi­ni­scher For­schung als auch für die Trans­la­ti­on psy­cho­the­ra­peu­ti­scher Grund­la­gen­for- schung.

Die Trans­la­ti­on medi­zi­ni­scher oder psy­cho­the­ra­peu- tischer Grund­la­gen­for­schung ist ein eige­nes For­schungs- gebiet, hat aber mit einem pra­xis­be­zo­ge­nen Stu­di­um nichts zu tun. Auch inso­weit kann das an Uni­ver­si­tä­ten bestehen­de For­schungs­po­ten­ti­al im Bereich der Psycho- the­ra­pie nicht als Argu­ment die­nen, die Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten von der Psy­cho­the­ra- peu­ten­aus­bil­dung auszuschließen.

Die Psy­cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung der Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten ist for­schungs­ba­siert, weil sie in vie­len Berei­chen an den Stand der For­schung anknüpft und anlei­tet, wie der For­schungs­stand in die psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Pra­xis umge­setzt wer­den kann. Dies ent­spricht dem Pro­fil von For­schung und Leh­re an Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten. Ihre For- schung zielt auf eine „bes­se­re“ psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Pra- xis, ihre Leh­re ver­mit­telt die erfor­der­li­chen Kennt­nis­se, um den Stand der For­schung in die Pra­xis umzu­set­zen. Neue Fel­der, wie etwa gene­ti­sche Fak­to­ren für psy­chi- sche Stö­run­gen, wer­den an Uni­ver­si­tä­ten erforscht und sind Gegen­stand der uni­ver­si­tä­ren Psych­ia­trie-Aus­bil- dung. Die­se baut eben auf einem Medi­zin­stu­di­um auf,

31 Vom 4. 3. 2020, BGBl I, S. 469 ff.

wäh­rend die psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Aus­bil­dung auf ein Psy­cho­lo­gie­stu­di­um auf­setzt. Um etwa­ige noch nicht auf Pra­xis­taug­lich­keit geprüf­te For­schungs­an­sät­ze geht es also nicht in der Psychotherapeutenausbildung.

c) Ins­be­son­de­re zur Gleich­wer­tig­keit des Psy­cho­the­ra- pie-Bache­lors an einer Hoch­schu­le für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten mit einem ent­spre­chen­den uni­ver­si­tä- ren Bachelor

Wenn an einer Hoch­schu­le für Ange­wand­te Wis­sen- schaf­ten ein Psy­cho­lo­gie-Bache­lor ange­bo­ten wird, der mit einem uni­ver­si­tä­ren Psy­cho­lo­gie-Bache­lor als Zugangs­vor­aus­set­zung für ein ent­spre­chen­des Mas­ter- stu­di­um gleich­wer­tig ist, ver­langt die von Art. 5 Abs. 3 S. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG geschütz­te Gleich­heit bei der Aus­übung der Lehr­frei­heit die Zulas- sung des Psy­cho­the­ra­pie-Bache­lors an einer Hoch­schu­le für Ange­wand­te Wissenschaften.

Den Anfor­de­run­gen an die Gleich­wer­tig­keit eines Stu­di­en­gan­ges wird genügt, wenn hin­sicht­lich des Stu­di- enpro­fils und der geprüf­ten Stu­di­en­leis­tun­gen kein we- sent­li­cher Unter­schied zwi­schen einem Stu­di­en­gang an einer Uni­ver­si­tät und an einer Hoch­schu­le für Ange- wand­te Wis­sen­schaf­ten besteht. Maß­stab für die­se Gleich­wer­tig­keits­prü­fung sind allein die nach­ge­wie­se- ner­ma­ßen erwor­be­nen Kom­pe­ten­zen, die nach der Stu­di- en- und Prü­fungs­ord­nung erwor­ben wor­den sind. Kon- kre­te Inhal­te oder for­ma­le Ele­men­te (zum Bei­spiel Dau- er oder Art der Lehr­ver­an­stal­tun­gen) sind ernst zu neh- men­de Indi­zi­en für die Gleich­wer­tig­keit. Jen­seits des­sen kommt es zudem dar­auf an, dass die erwor­be­nen Fer­tig- kei­ten und Fähig­kei­ten eines Uni-Bache­lors sich nicht we- sent­lich von denen eines Bache­lors an einer Hoch­schu­le für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten unterscheiden.

Ob ein von einer Hoch­schu­le für Ange­wand­te Wis- sen­schaf­ten ange­bo­te­ner Bache­lor in Psy­cho­the­ra­pie gleich­wer­tig mit einem ent­spre­chen­den uni­ver­si­tä­ren Bache­lor sein kann, ent­schei­det sich danach, ob sie die recht­lich gere­gel­te Leh­re erbrin­gen können:

Die Inhal­te, die im Psy­cho­the­ra­pie-Bache­lor im Rah- men der hoch­schu­li­schen Leh­re zu ver­mit­teln und bei dem Antrag auf Zulas­sung zur psy­cho­the­ra­peu­ti­schen Prü­fung nach­zu­wei­sen sind, wer­den in der Anla­ge 1 zur Appro­ba­ti­ons­ord­nung für Psy­cho­the­ra­peu­tin­nen und Psy­cho­the­ra­peu­ten (PsychThApprO),31 die die Vorgaben

des § 7 PsychThG kon­kre­ti­siert, gere­gelt. Die­se Rege­lun- gen kön­nen von Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen- schaf­ten voll­um­fäng­lich in die Rege­lung ihres Psy­cho­lo- gie- sowie Psy­cho­the­ra­pie-Bache­lors über­nom­men wor- den. Dies ergibt sich aus dem Modul­hand­buch, aus dem Stu­di­en­ver­laufs­plan und aus der Gegen­über­stel­lung der Kri­te­ri­en der Appro­ba­ti­ons­ord­nung und der Aus­ge­s­tal- tung des Stu­di­en­gangs Bache­lor in Psy­cho­lo­gie mit Psychotherapie:

– Die zu ver­mit­teln­de wis­sen­schaft­li­che Metho­den- leh­re im Umfang von 15 ECTS-Punk­ten umfasst so hete­ro­ge­ne Aspek­te wie his­to­ri­sche Grund­la­gen, sta­tis­ti­sche Metho­den, EDV-gestütz­te Daten­verar- bei­tung und wis­sen­schaft­li­che Metho­den für die Erfor­schung mensch­li­chen Ver­hal­tens – alles Lehr­in­hal­te, die zum Pro­fil von Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten gehören.

– Berufs­ethik und Berufs­recht mit ledig­lich 2 ECTS- Punk­ten ver­mit­teln ledig­lich aner­kann­te Stan­dards. Auch hier han­delt es sich um Lehr­in­hal­te, die von Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten auch in ande­ren Stu­di­en­gän­gen seit jeher erfolg­reich ver- mit­telt werden.

Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten sind damit fähig, ein Psy­cho­the­ra­pie-Lehr­an­ge­bot auf Bache- lor-Niveauzuerbringen.Dennsievermitteln,wieallseits aner­kannt und zum Bei­spiel in § 2 Abs. 1 Nr. 4 LHG BW gere­gelt ist, durch ihre anwen­dungs­be­zo­ge­ne Leh­re eine Aus­bil­dung, die zu selbst­stän­di­ger Anwen­dung und Wei- ter­ent­wick­lung wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis­se und Me- tho­den in der Berufs­pra­xis befä­higt; die Pro­fes­so­ren der Psy­cho­lo­gi­schen Fakul­tät betrei­ben zudem anwen­dungs- bezo­ge­ne For­schung. Ihr Lehr- und For­schungs­pro­fil deckt damit alle Fächer und jene prak­ti­sche Aus­bil­dung ab, die von der Psy­cho­the­ra­peu­ten­ap­pro­ba­ti­ons­ord­nung gefor­dert sind. Dabei bleibt zube­rück­sich­ti­gen, dass die von der Psy­cho­the­ra­peu­ten­ap­pro­ba­ti­ons­ord­nung ange- gebe­ne Min­dest­zahl von ECTS-Punk­ten eine wei­ter ge- hen­de Ver­tie­fung der Lehr­in­hal­te ohne­hin nicht gestat­tet. Hoch­schu­len für ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten sind also in der Lage, alle Lehr­in­hal­te anzu­bie­ten, die von der Appro­ba­ti­ons­ord­nung für den Psy­cho­the­ra­pie-Bache­lor vor­aus­ge­setzt werden.32

III. Ergeb­nis

Als Ergeb­nis lässt sich fest­hal­ten: Der in § 9 Abs. 1 Psy- cho­the­ra­peu­ten­ge­setz gere­gel­te Aus­schluss der Hoch- schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten von der Psy- cho­the­ra­peu­ten­aus­bil­dung ver­letzt die­se und ihre Trä­ger in der von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG gewähr­leis­te­ten Lehr­frei- heit. Denn es ist kein Grund ersicht­lich, der recht­fer­ti- gen könn­te, zum Schutz der Grund­rech­te der Patienten

32

– –

– –

Die Grund­la­gen der Psy­cho­the­ra­pie im Umfang von min­des­tens 25 ECTS-Punk­ten betref­fen jenen Bereich, der im poly­va­len­ten Psy­cho­lo­gie­stu­di­um von Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten tra­di­tio­nell ange­bo­ten wurde.

Die Grund­la­gen der Päd­ago­gik mit nur 4 ECTS- Punk­ten ent­spre­chen dem Stan­dard-Pro­gramm der Päd­ago­gik-Ver­an­stal­tun­gen an Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wissenschaften.

Die psy­cho­the­ra­peu­tisch rele­van­ten Grund­la­gen der Medi­zin im Umfang von nur 4 ECTS wer­den von den Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten in ver­gleich­ba­rer Wei­se auch bei ande­ren Stu­di­en- gän­gen im Bereich der Gesund­heits­be­ru­fe erfolg- reich vermittelt.

Glei­ches gilt für die Grund­la­gen der Phar­ma­ko­lo­gie im Umfang von 2 ECTS.
Die Stö­rungs­leh­re im Umfang von 8 ECTS-Punk­ten ist von den Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen- schaf­ten in ihrem Psy­cho­the­ra­peu­ten­stu­di­um ver- mit­telt wor­den. Auch hier geht es ledig­lich um die Ver­mitt­lung gesi­cher­ter Erkennt­nis­se, was zum Auf- gaben­pro­fil von Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis- sen­schaf­ten gehört.

Glei­ches gilt für die psy­cho­lo­gi­sche Dia­gnos­tik im Umfang von 12 ECTS.
Bei der Ver­mitt­lung der all­ge­mei­nen Ver­fah­rens­leh- re der Psy­cho­the­ra­pie geht es allein um Kennt­nis­se, die dem der­zei­ti­gen Stand der Psy­cho­the­ra­pie ent- spre­chen. Gera­de die­se Ver­mitt­lung des Stan­des der Wis­sen­schaft gehört zum zen­tra­len Auf­ga­ben­pro­fil von Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten. Glei­ches gilt für die Ver­mitt­lung prä­ven­ti­ver und reha­bi­li­ta­ti­ver Kon­zep­te im Bereich der Psy­cho­the- rapie im Umfang von 2 ECTS-Punkten.

Für einen Psy­cho­the­ra­pie-Mas­ter wür­de glei­ches gel­ten, was hier nicht wei­ter ver­tieft wer­den soll.

Wür­ten­ber­ger · Stu­di­um der Psy­cho­the­ra­pie 8 7

88 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 79–88

oder der Stu­die­ren­den in die Lehr­frei­heit der Hoch- schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten ein­zu­grei­fen. Nach der Bolo­gna-Reform sind Hoch­schu­len für Ange- wand­te Wis­sen­schaf­ten in der Lage, die Psy­cho­the­ra- peu­ten­aus­bil­dung nach den Regeln des neu­en Psycho- the­ra­peu­ten­ge­set­zes anzu­bie­ten. Dass Hoch­schu­len für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten, anders als Uni­ver­si­tä­ten, kei­nen Auf­trag zur psy­cho­the­ra­peu­ti­schen Grund­la­gen- for­schung haben, ändert nichts an die­sem Ergebnis.

Denn auch ohne Grund­la­gen­for­schung zu betrei­ben, ist es mög­lich, auf der Basis gesi­cher­ter wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis ein wis­sen­schafts­af­fi­nes Psy­cho­the­ra­peu­ten- stu­di­um durchzuführen.

Tho­mas Wür­ten­ber­ger ist Pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät Frei­burg und Lei­ter der For­schungs­stel­le für Hoch- schulrecht.

I. Ein­lei­tung

Im Heft 01/23 der OdW befass­te sich Tizia­na Chi­usi mit „The­men und Per­spek­ti­ven der juris­ti­schen Aus­bil­dung“. Dabei the­ma­ti­sier­te sie unter der Über­schrift „Digi­ta­li- sie­rung in der Leh­re“ auch den Com­pu­ter­ein­satz in der staat­li­chen Pflicht­fach­prü­fung. Wenn­gleich sie ein­gangs auf die bun­des­recht­li­che Ermäch­ti­gung zur sog. E‑Klau- sur durch § 5d Abs. 6 Satz 2 DRiG1 hin­weist, steht sie die- ser Ent­wick­lung doch skep­tisch gegen­über. Nach ihrer Auf­fas­sung ste­hen dem

„prak­ti­schen Nut­zen (etwa bes­se­re Les­bar­keit der Klau­su­ren, Ein­fach­heit und Sicher­heit der Über­mitt- lung der Klau­su­ren an die Lan­des­prü­fungs­äm­ter, Um- gang mit elek­tro­ni­schen Medi­en), … die tech­ni­schen und öko­no­mi­schen Her­aus­for­de­run­gen sowie die mög- lichen Kon­se­quen­zen für die Denk­struk­tu­ren der Stu- die­ren­den beim Ver­zicht auf hand­ge­schrie­be­ne Klau- suren und Lösungs­skiz­zen gegen­über.“2

Der Deut­sche Juris­ten-Fakul­tä­ten­tag (des­sen Vor­sit­zen- de sie seit 2020 ist) stünde

„dies­be­züg­lich in engem Aus­tausch mit Ver­tre­tern der Poli­tik, den Stu­die­ren­den­ver­tre­tern und den Landes-

  1. 1  § 5d Abs. 6 DRiG lau­tet in sei­ner Fas­sung vom 25.06.2021 (BGBl. I S. 2154): „Das Nähe­re regelt das Lan­des­recht. Es kann auch be- stim­men, dass in den staat­li­chen Prü­fun­gen schrift­li­che Leis­tun­gen elek­tro­nisch erbracht wer­den dürfen.“
  2. 2  Chi­usi, OdW 1 (2023), S. 8.
  3. 3  Chi­usi, OdW 1 (2023), S. 8.
  4. 4  Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fernprüfung.Rechtsfragen der Umstel­lung von Hoch­schul­prü­fun­gen auf zeit­ge­mä­ße, digi­ta­le Prü­fungs­for­ma­te, Dun­cker & Hum­blot, Ber­lin 2023. Das Buch kann als eBook unter https://elibrary. duncker-humblot.com/book/62518/e‑klausur-und-elektronische- fern­pru­fung / https://elibrary.duncker-humblot.com/978–3‑428- 55508–6 (letz­ter Zugriff am 09.02.2023) kos­ten­frei her­un­ter­ge­la- den werden.

jus­tiz­prü­fungs­äm­tern, um eine best­mög­li­che Lösung zu garan­tie­ren.“3

Eine Ent­schei­dungs­hil­fe könn­te hier­bei das Buch „E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung“4 bie­ten, das ich gemein­sam mit Dirk Heck­mann ver­fas­sen und Ende 2022 ver­öf­fent­li­chen durfte5 und das in dem vor­lie­gen- den Bei­trag vor­ge­stellt wer­den soll. Es beruht in sei­nem ers­ten Teil auf einer juris­ti­schen Mach­bar­keits­stu­die, die wir 2017/2018 im Auf­trag des Baye­ri­schen Staats­mi­nis­te- riums der Jus­tiz erstellt hat­ten. Zu die­sem Zeit­punkt gab es bereits eine brei­te Dis­kus­si­on um die Digi­ta­li­sie­rung der Jus­tiz („elek­tro­ni­scher Rechts­ver­kehr“),6 aber kaum kon­kre­te Über­le­gun­gen zu einer ech­ten Digi­ta­li­sie­rung von Leh­re und Prüfung.7 Das änder­te sich schlag­ar­tig mit Aus­bruch der Sars-Cov-2-Pan­de­mie („Coro­na­pan­de- mie“). Die hier­durch ver­an­lass­ten Kon­takt­be­schrän­kun- gen zwan­gen kurz­fris­tig zu Distanz­un­ter­richt und war- fen auch die Fra­ge auf, wie man den Prü­fungs­an­spruch der Stu­die­ren­den erfül­len und dabei glei­cher­ma­ßen Ge- sund­heits­schutz, Daten­schutz und Chan­cen­gleich­heit ein­hal­ten könne.8 Das war die Geburts­stun­de flä­chen­de- cken­der elek­tro­ni­scher Fern­prü­fun­gen, mit denen sich unser Buch im zwei­ten Teil aus­führ­lich befasst. Mitt­ler- wei­le gibt es in fast jedem Bun­des­land Rechts­grund­la­gen – in Form eines Geset­zes, einer Rechts­ver­ord­nung oder

Leh­re und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fun­gen, in: Schmidt (Hrsg.): COVID-19. Rechts­fra­gen zur Coro­na-Kri­se, 3. Aufl., 2021, § 21, S. 751 ff.; dies., Kon­trol­le ist gut, Ver­trau­en ist bes­ser — Para­dig- men­wech­sel durch die Baye­ri­sche Fern­prü­fungs­er­pro­bungs­ver- ord­nung. COVuR 2021, S. 194 ff.

6 Hier­zu aus­führ­lich Bernhardt/Leeb, Elek­tro­ni­scher Rechts­ver­kehr, in: Heckmann/Paschke, juris Pra­xis­kom­men­tar Inter­net­recht, 7. Aufl. 2021, Kap. 6 Rn. 178 ff.

7 Hier­zu bereits Kergel/Heidkamp, Digi­ta­li­sie­rung der Leh­re
– Chan­ce für eBo­lo­gna, in: Hericks (Hrsg.), Hoch­schu­len im Span­nungs­feld der Bolo­gna-Reform, 2018, S. 145 ff.

8 Die­se Grund­rechts­kol­li­si­on und die damit erfor­der­li­che Abwä- gung war Aus­gangs­punkt zu den Über­le­gun­gen für die Schaf­fung einer Rechts­grund­la­ge für elek­tro­ni­sche Fernprüfungen.

5 Vgl. aber bereits zuvor Heckmann/Rachut, Hoch­schu­len — Digi­ta­le
Ord­nung der Wis­sen­schaft 2023, ISSN 2197–9197

Sarah Rach­ut

E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung: Tech­no­lo- gischer Fort­schritt und Prü­fungs­kul­tur­wan­del im Spie­gel des Rechts — Ein Werkstattbericht

90 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 89–98

auch durch Sat­zungs­recht der Hochschulen.9 Die bun- des­weit ers­te Rechts­grund­la­ge, die Baye­ri­sche Fern­prü- fungs­er­pro­bungs­ver­ord­nung (BayFEV),10 ent­stand im Som­mer 2020 und wur­de bereits am 16. Sep­tem­ber 2020 ver­kün­det. Nur weni­ge Tage, nach­dem Dirk Heck­mann und ich das TUM Cen­ter for Digi­tal Public Ser­vices (www.tum-cdps.de) zum 1. Juni 2020 mit Unter­stüt­zung des Baye­ri­schen Staats­mi­nis­te­ri­ums für Digi­ta­les errich- tet haben, erhiel­ten wir vom Baye­ri­schen Staats­mi­nis­te- rium für Wis­sen­schaft und Kunst den Auf­trag, den Ver- ord­nungs­text zur rechts­si­che­ren Regu­lie­rung elek­tro­ni- scher Fern­prü­fun­gen zu ent­wer­fen. Hin­ter­grund waren die Eil­be­dürf­tig­keit ange­sichts bevor­ste­hen­der Ab- schluss­prü­fun­gen im ers­ten „Pan­de­mie­se­mes­ter“ und unse­re Erfah­rung aus der oben genann­ten Mach­bar- keits­stu­die. Das Kon­zept, das wir der Bay­FEV als Ergeb- nis der kom­ple­xen Grund­rechts­prü­fung zugrun­de gelegt hat­ten („Kon­trol­le ist gut, Ver­trau­en ist bes­ser“), wur­de von zahl­rei­chen Bun­des­län­dern über­nom­men und prägt heu­te das deut­sche Fern­prü­fungs­recht. Es soll in die­sem Bei­trag spä­ter erläu­tert werden.

II. E‑Klausur

Die E‑Klausur, die hier den Mit­tel­punkt der digi­ta­li­sier- ten, also mit Hil­fe digi­ta­ler Medi­en und Tech­no­lo­gien abge­nom­me­nen Prü­fungs­leis­tung dar­stellt, hebt sich dadurch her­vor, dass eine Auf­sichts­klau­sur am Com­pu- ter ange­fer­tigt wird – was bei außer­halb von Prü­fungs- räu­men geschrie­be­nen Haus­ar­bei­ten oder Refe­ra­ten schon lan­ge üblich ist und kaum pro­ble­ma­ti­siert wird.11 Das Prü­fungs­for­mat einer sol­chen E‑Klausur wur­de schon vor der Pan­de­mie kon­tro­vers diskutiert,12 mit allem Für (u.a. schnel­le­re Kor­rek­tu­ren, Pra­xis­nä­he, Inte­gra­ti­on in E‑Prüfungen) und Wider (z.B. Kos­ten, Auf­wand, Chancengleichheit).13 Für die Mach­bar­keits­stu­die haben wir uns, nach­dem wir erheb­li­che Chan­cen in digitalen

  1. 9  Einen Über­blick auf dem Stand von März 2022 bie­tet Heckmann/ Rachut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 186 ff. (203).
  2. 10  Ver­ord­nung zur Erpro­bung elek­tro­ni­scher Fern­prü­fun­gen an den Hoch­schu­len in Bay­ern (Baye­ri­sche Fern­prü­fungs­er­pro­bungs­ver- ord­nung – Bay­FEV) vom 16. Sep­tem­ber 2020, GVBl. S. 570.
  3. 11  Dass es dane­ben auch noch zahl­rei­che ande­re Prü­fungs­for­ma­te, wie ins­be­son­de­re münd­li­che und prak­ti­sche Prü­fungs­for­ma­te gibt, sei hier nur ergän­zend erwähnt. § 2 Abs. 1 Bay­FEV for­mu- liert: „Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fun­gen kön­nen in Form schrift­li­cher Auf­sichts­ar­bei­ten (Fern­klau­sur) oder als münd­li­che oder prak­ti­sche Fern­prü­fung ange­bo­ten wer­den.“ „Elek­tro­nisch“ sind Fern­klau- suren schon auf­grund der digi­tal ver­mit­tel­ten Video­auf­sicht (§6 Bay­FEV), eine „E‑Klausur“ (im enge­ren Sin­ne, also als mit Com­pu­ter­ein­satz ange­fer­tig­ter Klau­sur­text) ist inso­weit vielleicht

Prü­fungs­for­ma­ten sehen, schwer­punkt­mä­ßig mit den (ver­meint­li­chen) Risi­ken und Hür­den aus­ein­an­der­ge- setzt. Dies geschah unter der Über­schrift: Die „Show- Stop­per“ – Recht­li­che Gegen­ar­gu­men­te zur E‑Klausur und ihre Widerlegung.14 Dabei wur­den jene Fra­gen beant­wor­tet, die bei prak­tisch jeder Dis­kus­si­on zu die­sem The­ma im Vor­feld auf­ge­wor­fen wurden:

• Ist die E‑Klausur unsi­cher?
• Ist die E‑Klausur unge­recht?
• Ist die E‑Klausur unbezahlbar?

Die­se durch­aus auch prak­ti­schen Fra­gen, die Her­aus- for­de­run­gen in tech­ni­scher und öko­no­mi­scher Hin­sicht wider­spie­geln, berüh­ren ver­schie­de­ne Rechts­ge­bie­te, die für die „juris­ti­sche Mach­bar­keit“ einer Umstel­lung der Prü­fungs­for­ma­te von ent­schei­den­der Bedeu­tung sind.

1. Aspek­te des IT-Sicherheitsrechts

Was pas­siert, wenn der Bild­schirm­in­halt bei einer Klau- sur plötz­lich ver­schwin­det? Oder das Sys­tem nicht die letz­te Fas­sung der Klau­sur spei­chert? Wenn es Über­tra- gungs­feh­ler oder gar einen Hacker­an­griff auf die Prü- fungs­um­ge­bung gibt? Wenn ein Sys­tem­aus­fall die gan­ze Prü­fung schei­tern lässt oder eine Prü­fungs­auf­ga­be mani- puliert wird?

Sol­che und ähn­li­che Fra­gen tau­chen immer wie­der auf, wenn es um Digi­ta­li­sie­rung im Prü­fungs­we­sen geht – der Fan­ta­sie, was hier alles schief gehen könn­te, sind kei­ne Gren­zen gesetzt. Zuwei­len sind sol­che Sze­na­ri­en gleich­sam „Tot­schlags­ar­gu­men­te“ – oder weni­ger mar­tia- lisch: Show-Stop­per – mit denen jeg­li­che Inno­va­ti­on von vor­ne­her­ein abge­lehnt wird: zu unsi­cher, geht nicht, wir blei­ben beim alten und bewähr­ten Verfahren.

Woll­te man sol­che Ein­wän­de unge­prüft und nicht ab- wägend gel­ten las­sen, wäre aller­dings nicht nur die E- Klau­sur (und in der Fol­ge die gesam­te elektronische

nahe­lie­gend, aber nicht zwin­gend. Denk­bar sind auch handge- schrie­be­ne Klau­sur­lö­sun­gen, die am Ende abfo­to­gra­fiert oder ein­ge­scannt an die Hoch­schu­le über­mit­telt wer­den. Zu die­sen Fein­hei­ten aus­führ­lich Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elekt- roni­sche Fern­prü­fung, S. 24, 44 ff.

12 Vgl. exem­pla­risch Bernhardt/Leeb: IT in der Juris­ten­aus­bil­dung: E‑Ju­s­ti­ce-Kom­pe­tenz, in: Kramer/Kuhn/Putzke (Hrsg.), Tagungs- band zur drit­ten Fach­ta­gung des Insti­tuts für Rechts­di­dak­tik an der Uni­ver­si­tät Pas­sau zum The­ma „Was muss Juris­ten­aus­bil­dung heu­te leis­ten?“, 2019, S. 84 ff.

13 Näher hier­zu Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 29 ff. sowie die gra­fi­schen Über­sich­ten auf den Sei­ten 137 und 138.

14 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 71 ff.

Fern­prü­fung) in Fra­ge gestellt, son­dern eben­so alles, was mit E‑Government, E‑Health,15 Smart City, auto­no­men Fahren16 etc. zusam­men­hängt. Digi­ta­li­sier­te Pro­zes­se in Ver­wal­tung und Jus­tiz, im Gesund­heits­we­sen, bei Ener- gie oder Mobi­li­tät ber­gen nicht uner­heb­li­che Risi­ken und sind den­noch poli­tisch und viel­fach auch gesetz­lich längst beschlos­se­ne Sache. Aus­ge­rech­net die Ent­schei­dung ge- gen E‑Klausuren, die rein fak­tisch ein gerin­ge­res (IT-Si- cherheits-)Risiko mit sich brin­gen dürf­ten als etwa die elek­tro­ni­sche Patientenakte17 oder eine elek­tro­ni­sche Ge- richts­ak­te, soll sinn­bild­lich die Digi­ta­li­sie­rung als un- über­wind­ba­res Risi­ko dar­stel­len, die längst in fast allen Lebens­be­rei­chen eta­bliert oder zumin­dest auf dem Vor- marsch ist? Tat­säch­lich darf auch hier das Recht nicht als Hür­de gese­hen wer­den, son­dern muss Gestal­tungs­fak­tor bei der Digi­ta­li­sie­rung neu­er Lebens­be­rei­che sein.18 Die gestal­te­ri­schen Anfor­de­run­gen sol­len hier nur kurz skiz- ziert werden:19

Die Ein­füh­rung einer E‑Klausur geht ein­her mit der Eta­blie­rung einer tech­ni­schen Prü­fungs­um­ge­bung, in der das Prü­fungs­pro­gramm läuft und die Klau­sur­da­tei­en sicher gespei­chert wer­den, um sie anschlie­ßend an die ver­ant­wort­li­che Stel­le (etwa das Prü­fungs­amt) zu über- mit­teln oder auch inner­halb des Sys­tems zum Abruf be- reit­zu­stel­len. Den Rechts­trä­ger (etwa das Bun­des­land bei staat­li­chen Prü­fun­gen oder die Hoch­schu­le), für den die ver­ant­wort­li­che Stel­le die E‑Klausur orga­ni­siert, trifft die staat­li­che Schutz­pflicht zur Gewähr­leis­tung der Ver­trau- lich­keit und Inte­gri­tät infor­ma­ti­ons­tech­ni­scher Sys­te- me.20 Dem­entspre­chend muss er das tech­nisch Mög­li­che und wirt­schaft­lich Zumut­ba­re unter­neh­men, um die Ri- siken, die mit die­ser Prü­fungs­form ins­be­son­de­re zu Las- ten der Prü­fungs­teil­neh­men­den bestehen, zu mini­mie- ren. Hier­zu zäh­len Maß­nah­men zur Daten­si­cher­heit wie die Echt­zeit­si­che­rung der Klau­sur­da­tei (per­ma­nen­te Back­ups), aber auch ange­mes­se­ne Maß­nah­men gegen Mani­pu­la­tio­nen und Täu­schungs­ver­su­che sowie gegen Zugrif­fe von außen, die die Pseud­ony­mi­tät der Klau­sur- teil­neh­mer offenlegen.

Berück­sich­tigt man die­se Vor­ga­ben in einem ange- mes­se­nen Umfang, spre­chen Anfor­de­run­gen des IT-Si-

  1. 15  Heck­mann, Prak­ti­sche Kon­kor­danz von Gesund­heits­schutz und Frei­heits­rech­ten, in: Heinemann/Matusiewicz (Hrsg.), Rethink Health­ca­re, 2021, 299 ff.
  2. 16  Fellenberg/Paschke, Die Mobi­li­täts­wen­de im Live­be­trieb, juris­PR ITR 1/2023 Anm. 3.
  3. 17  Heckmann/Rachut, Elek­tro­ni­sche Pati­en­ten­ak­te und Elek­tro­ni­sche Gesund­heits­ak­te, in: Rehmann/Tillmanns (Hrsg.), E‑Health / Digi­tal Health, 2022, 282 ff.
  4. 18  So auch das Mot­to des TUM Cen­ter for Digi­tal Public Ser­vices auf der Start­sei­te von www.tum-cdps.de (letz­ter Zugriff am

cher­heits­rechts nicht prin­zi­pi­ell gegen die Umstel­lung von Klau­su­ren auf E‑Klausuren. Zum einen soll­ten die Bun­des­län­der bzw. jede Hoch­schu­le ohne­hin über eine siche­re, funk­tio­nie­ren­de IT-Infra­struk­tur ver­fü­gen (etwa für die Ver­wal­tungs­di­gi­ta­li­sie­rung, den elek­tro­ni­schen Rechts­ver­kehr bzw. die digi­ta­le Leh­re und auch für die Digi­ta­li­sie­rung der Hoch­schul­ver­wal­tung, der sie ange- sichts zuneh­men­der Anfor­de­run­gen im inter­na­tio­na­len Wett­be­werb um Stu­die­ren­de, aber auch der gesetz­li­chen Vor­ga­ben zur Ver­wal­tungs­di­gi­ta­li­sie­rung nicht ent­ge­hen kann). Zum ande­ren ste­hen die Anfor­de­run­gen des IT- Sicher­heits­rechts ohne­hin unter dem Vor­be­halt einer ver- hält­nis­mä­ßi­gen, ins­be­son­de­re wirt­schaft­li­chen Auf­ga- ben­er­fül­lung. Letzt­lich wird also nichts Unmög­li­ches verlangt.

Wenn dem­ge­gen­über doch noch die (tech­ni­sche) Unsi­cher­heit von E‑Klausuren ins Feld geführt wird, liegt der Ver­dacht nahe, die ver­ant­wort­li­chen Stel­len hät- ten sich nicht aus­rei­chend mit den hier auf­ge­wor­fe­nen Fra­gen befasst. Die Grün­de hier­für sind viel­fäl­tig: so wur­de das The­ma „Digi­ta­li­sie­rung“ im öffent­li­chen Sek- tor viel­fach ver­schla­fen, fehlt es an aus­rei­chen­den Anrei- zen für Ver­än­de­run­gen (ledig­lich die Pan­de­mie war hier ein Trei­ber) und feh­len auch Fach­kräf­te sowie das Be- wusst­sein für die not­wen­di­gen Veränderungen.

2. Aspek­te von Gleich­be­hand­lung und Prü­fungs­ge­rech- tigkeit

Als wei­te­re Hür­de wird oft genannt, dass die E‑Klausur zu unge­rech­ten Prü­fun­gen bei­trü­ge. Tat­säch­lich muss gewähr­leis­tet wer­den, dass die Prü­fungs­teil­neh­men­den eines Jahr­gangs (einer Prü­fungs­ko­hor­te) die glei­chen Prü­fungs­be­din­gun­gen haben.21 Dies betrifft auch die tech­ni­schen Bedin­gun­gen einer bestimm­ten Prü­fungs- form, wie eben der E‑Klausur. Des­halb ist grund­sätz­lich sicher­zu­stel­len, dass für alle eine ver­gleich­ba­re tech­ni- sche Aus­stat­tung des Arbeits­plat­zes gege­ben ist und eine Bevor­zu­gung oder Benach­tei­li­gung ein­zel­ner Prüf­lin­ge bei der Nut­zung eige­ner Rech­ner aus­ge­schlos­sen wird (etwa durch glei­che Prü­fungs­pro­gram­me und Vor­ga­ben zur Kom­pa­ti­bi­li­tät der Hard­ware). Eben­so muss das

09.02.2023).
19 Aus­führ­lich im Hin­blick auf Fra­gen der IT-Sicher­heit Heckmann/

Rach­ut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 77 ff. 20 Zu die­ser Schutz­pflicht Heck­mann, Staat­li­che Schutz- und

För­der­pflich­ten zur Gewähr­leis­tung von IT- Sicher­heit – Ers­te Fol­ge­run­gen aus dem Urteil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts zur „Online-Durch­su­chung“ in: FS Käfer, S. 138 ff.

21 Jere­mi­as in: Fischer/Jeremias/Dieterich, Prü­fungs­recht, 8. Aufl. 2022, Rn. 402 ff.

Rach­ut · E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung 9 1

92 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 89–98

Risi­ko einer Ungleich­be­hand­lung durch Mani­pu­la­ti­ons- mög­lich­kei­ten ein­kal­ku­liert und so gut wie mög­lich mini­miert werden.22 Dass dies nie ganz aus­ge­schlos­sen wer­den kann, liegt in der Natur der Sache und unter- schei­det sich bei kon­ven­tio­nel­len Klau­su­ren und Haus- arbei­ten eben­so wenig. Täu­schungs­mög­lich­kei­ten gibt es in jedem Prü­fungs­for­mat. Spe­zi­fi­schen Risi­ken bei der Nut­zung von Com­pu­tern in der Prü­fung (Zugang zum Inter­net, Zugriff auf lokal gespei­cher­te Infor­ma­tio­nen) kann man durch tech­ni­sche Vor­keh­run­gen und Anpas- sung der Prü­fungs­auf­sicht begeg­nen. Die ent­spre­chen­de Gestal­tung der Prü­fungs­um­ge­bung ist nicht tri­vi­al. Inzwi­schen gibt es hier­für aber bereits gut funk­tio­nie- ren­de Lösun­gen und Standards.

Unglei­che Bedin­gun­gen durch eine unter­schied­li­che Prü­fungs­form sind hin­ge­gen im Ver­hält­nis unter­schied- licher Prü­fungs­ko­hor­ten (sowohl in zeit­li­cher Hin­sicht als auch zwi­schen den Bun­des­län­dern bei unglei­chem Reform­tem­po) unschäd­lich, solan­ge dies sach­lich be- grün­det wer­den kann. Die chan­cen­glei­che Prü­fungs­ge- stal­tung wider­legt den Vor­wurf, die E‑Klausur sei „unge- recht“ und des­halb nicht empfehlenswert.

3. Recht­li­che Bin­dun­gen der Refi­nan­zie­rung staat­li­cher Leistungen

Die Ein­füh­rung einer E‑Klausur bedeu­tet einen nicht unwe­sent­li­chen finan­zi­el­len Auf­wand, ins­be­son­de­re durch Ent­wick­lung und Erwerb/Lizenzierung einer spe- ziel­len Prü­fungs­soft­ware, ggf. auch von Prü­fungs­com- putern sowie der Bereit­hal­tung einer effi­zi­en­ten und siche­ren IT-Infra­struk­tur und ent­spre­chen­den IT- Dienst­leis­tun­gen. Soweit die­se Kos­ten nicht durch all­ge- mei­ne Mit­tel aus dem Staats­haus­halt gedeckt wer­den kön­nen oder sol­len, sind alter­na­ti­ve Finan­zie­rungs­we­ge zu beden­ken. Die Ein­füh­rung von Prü­fungs­ge­büh­ren, die die Mehr­kos­ten ganz oder teil­wei­se abde­cken, ist recht­lich mit ent­spre­chen­der gesetz­li­cher Rechts­grund- lage im Ergeb­nis zulässig.23 Alter­na­tiv ist an ein Spon­so- ring­mo­dell zu den­ken, das aller­dings durch gesetz­li­che Rege­lun­gen oder restrik­ti­ve Verwaltungsvorschriften

  1. 22  Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 90 ff.
  2. 23  Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 98 ff. (102).
  3. 24  Richt­li­nie zum Umgang mit Spon­so­ring, Wer­bung, Spen­den und mäze­na­ti­schen Schen­kun­gen in der staat­li­chen Ver­wal­tung vom 14.10.2010 (All­MBl. S. 239), all­ge­mein zu recht­li­chen Gren­zen eines Spon­so­rings von Prü­fun­gen sowie zur Anwen­dung der Spon­so­ring-Richt­li­nie auf ver­schie­de­ne Spon­so­ring­mo­del­leHeckmann/Rachut, E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fernprüfung,S. 103 ff.

wie die Spon­so­ring­richt­li­nie im Frei­staat Bayern24 begrenzt sein kann.

Ein Kos­ten­fak­tor – näm­lich die Bereit­stel­lung von Com­pu­tern zur Anfer­ti­gung der E‑Klausur – könn­te weg­fal­len oder erheb­lich redu­ziert wer­den, wenn die Stu­die­ren­den ihre eige­nen Gerä­te ver­wen­den (sog. Bring-your-own-device-For­mat, BYOD). Dies wäre auch inso­fern vor­teil­haft, weil man so die Prü­fung auf ei- ner gewohn­ten elek­tro­ni­schen Umge­bung able­gen kann. Gleich­wohl wur­de BYOD im Hin­blick auf E‑Klausuren lan­ge Zeit sehr kri­tisch gese­hen, nicht zuletzt wegen des erhöh­ten Risi­kos der Mani­pu­la­ti­on der Gerä­te zu Täu- schungszwecken.25 Mehr als bemer­kens­wert ist aber, dass all die­se Beden­ken wie aus­ge­löscht erschie­nen, als die Pan­de­mie im Kon­text plötz­lich not­wen­di­ger elek­tro­ni- scher Fern­prü­fun­gen zum Ein­satz eige­ner Gerä­te zwang26 – es war schlicht nicht zu bewerk­stel­li­gen, allen Stu­die­ren­den von Sei­ten der Hoch­schu­len Gerä­te durch das Prü­fungs­amt zur Ver­fü­gung zu stel­len. Kri­tik oder gar Pro­test sei­tens der Stu­die­ren­den gab es – soweit er- sicht­lich – nicht; eben­so wenig wird von grö­ße­ren Täu- schungs­ver­su­chen berich­tet. Irgend­wie ähnelt dies dem The­ma „Home Office“:27 frü­her ein rotes Tuch für Behör- den und Unter­neh­men, erwies sich die Pan­de­mie als Trei­ber einer sol­chen Ent­wick­lung; ein Rück­schritt zum sta­tus quo ante ist weder ersicht­lich noch – offen­bar – erwünscht.

Die Mög­lich­kei­ten der Finan­zie­rung oder Sub­ven­tio- nie­rung sowie der lang­fris­ti­gen Amor­ti­sie­rung von In- ves­ti­tio­nen in die­sem Bereich wider­le­gen den Vor­wurf, die E- Klau­sur sei „unbe­zahl­bar“. Was alle­mal zu kon­ze- die­ren ist: Digi­ta­li­sie­rung kos­tet Geld und lässt sich (ent- gegen man­cher Beteue­run­gen von Unter­neh­mens­be­ra- tun­gen) nicht allei­ne durch Papier­er­spar­nis amor­ti­sie- ren. Lang­fris­tig kommt man hier­an aller­dings ohne­hin nicht vor­bei. Wie sehr die Defi­zi­te in der Digi­ta­li­sie­rung nicht nur hohe wirt­schaft­li­che Ein­bu­ßen und gesell- schaft­li­che Ver­wer­fun­gen zur Fol­ge haben, son­dern auch regel­recht Men­schen­le­ben gekos­tet haben mögen, hat die Pan­de­mie viel­fach gezeigt.28

25 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 33.

26 Hier­zu unter dem Aspekt Miss­brauchs­an­fäl­lig­keit elek­tro­ni­scher Fern­prü­fun­gen Heckmann/Rachut, E- Klau­sur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 222 ff.

27 Hier­zu Heck­mann, Die Woh­nung als Hör­saal: Hoch­schu­len im Home-Office, in: Nachtwei/Sureth (Hrsg.), Son­der­band Zukunft der Arbeit, 2020, S. 149 ff.

28 Vgl. Heck­mann, Prak­ti­sche Kon­kor­danz von Gesund­heits­schutz und Frei­heits­rech­ten, in: Heinemann/Matusiewicz (Hrsg.): Rethink Health­ca­re, 2021, 299 ff.

4. Par­la­ments­vor­be­halt

Sieht man die erheb­li­chen Chan­cen und Vor­tei­le der Ein­füh­rung einer E‑Klausur und auch die Wider­le­gung der hier­ge­gen geäu­ßer­ten Beden­ken (was hier nur ange- deu­tet wer­den konn­te, in unse­rem Buch aber aus­führ­lich dar­ge­stellt wird), stellt sich noch die Fra­ge, ob es hier­für einer expli­zi­ten Rechts­grund­la­ge bedarf. Wäh­rend die dem Buch zugrun­de­lie­gen­de Mach­bar­keits­stu­die 2017/2018 hier­zu argu­men­ta­tiv noch wei­ter aus­ho­len muss­te, hat der Bun­des­ge­setz­ge­ber die­se Fra­ge 2021 mit der Neu­re­ge­lung in § 5d Abs. 6 Satz 2 DRiG ansatz­wei­se beant­wor­tet. Danach kann das Lan­des­recht auch „bestim­men, dass in den staat­li­chen Prü­fun­gen schrift­li­che Leis­tun­gen elek­tro­nisch erbracht wer­den dür­fen.“ Damit soll­te – poli­tisch – der Weg zur E‑Klausur in den juris­ti- schen Staats­exami­na frei­ge­macht wer­den. Streng­ge­nom- men ist – recht­lich – damit nichts geklärt: Wenn das Lan­des­recht dies „bestim­men“ kann, bleibt durch­aus offen, ob es hier­zu einer expli­zi­ten par­la­men­ta­ri­schen Ermäch­ti­gungs­grund­la­ge bedarf oder ob man Rege­lun- gen in den Jus­tiz­aus­bil­dungs- und Prü­fungs­ord­nun­gen (JAPO), die „schrift­li­che“ Auf­sichts­ar­bei­ten nor­mie­ren, zugleich die E‑Klausur wie einen im E‑Government bereits obli­ga­to­ri­schen Schrift­for­mer­satz anse­hen könn- te. Dass dies im Ergeb­nis rechts­dog­ma­tisch eher zwei­fel- haft ist, haben wir in unse­rem Abschnitt zum Par­la- ments­vor­be­halt und zur Wesent­lich­keits­theo­rie dar­ge- legt:29 Nach unse­rer Auf­fas­sung ist es Sache des Gesetzgebers,

„die Wei­chen zu stel­len und ein Kon­zept vor­zu­stel­len, das einen siche­ren, chan­cen­ge­rech­ten und sinn­vol­len Über­gang gewähr­leis­tet. Es ist damit die durch grund- recht­li­che Wer­tun­gen in Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs.1 GG ver­an­lass­te Ord­nungs­funk­ti­on, die die E‑Klausur in ihrem Kon­text der Digi­ta­li­sie­rung des Prü­fungs­we­sens zu einer auch für die Grund­rechts­ver- wirk­li­chung „wesent­li­chen“ Ange­le­gen­heit macht.“30

5. Über­gangs­recht

Wenn wir nach all­dem kaum rück­kehr­bar auf dem Weg in die E‑Klausur (und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung) sind –

  1. 29  Heckmann/Rachut, E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 63 ff.
  2. 30  Heckmann/Rachut, E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 68.
  3. 31  Sie­he https://www.justiz.bayern.de/presse-und-medien/pressemit- teilungen/archiv/2020/107.php. (letz­ter Zugriff am 09.02.2023).
  4. 32  Über­blick bei https://www.lto.de/karriere/jura-referendariat/sto-

sei es wie in Sach­sen-Anhalt schon ange­kom­men, wie im Frei­staat Bay­ern ab 2023/202431 oder auch erst in den nächs­ten Jahren32 – stellt sich noch die Fra­ge, wie man das Über­gangs­recht gestal­tet. Aus­gangs­punkt ist die Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts zum rechts­staat­li­chen Rück­wir­kungs­ver­bot, gera­de im Prü- fungs­recht, um Will­kür und unsach­li­che Ungleich­be- hand­lung zu vermeiden.33 Dabei steht dem Gesetz­ge­ber ein Gestal­tungs­spiel­raum zu, den er aller­dings – auch und ins­be­son­de­re ent­spre­chend der tech­nisch-orga­ni­sa- tori­schen Rah­men­be­din­gun­gen – aus­zu­fül­len hat. Hier- zu zählt, die Ände­rung der Prü­fungs­mo­da­li­tä­ten trans- parent zu machen, auf aus­rei­chen­de Übungs­mög­lich­kei- ten schon wäh­rend des Stu­di­ums bzw. Refe­ren­da­ri­ats zu ach­ten und ein Wahl­recht zwi­schen E‑Klausur und kon- ven­tio­nel­ler hand­ge­schrie­be­ner Klau­sur ein­zu­räu­men. Eine Pflicht zur Ein­räu­mung eines dau­er­haf­ten Wahl- rechts besteht genau­so wenig wie das Ver­bot der Ein­räu- mung eines zeit­wei­li­gen Wahlrechts.34

III. Elek­tro­ni­sche Fernprüfungen

Als wir 2017/2018 die Mach­bar­keits­stu­die zur E‑Klausur schrie­ben, dach­te noch nie­mand, dass gut zwei Jah­re spä­ter eine Pan­de­mie die gan­ze Welt in Atem hält, mit Kon­se­quen­zen bis in den All­tag aller Men­schen. Um so bemer­kens­wer­ter mag es sein, dass wir die E‑Klausur bereits in der Mach­bar­keits­stu­die in eine kom­plett digi- tali­sier­te Prü­fungs­um­ge­bung ein­ge­bet­tet haben.35 Zwar lag der Fokus des Gut­ach­ten­auf­trags klar auf der E‑Klau- sur. Berück­sich­tig­te man unter­des­sen den Kon­text einer E‑Klausur, konn­te deren tech­no­lo­gi­sches Kon­zept nicht sinn­voll ent­wi­ckelt wer­den ohne Blick auf die zukünf­ti­ge Digi­ta­li­sie­rung von Leh­re und Prü­fung, For­schung und Ver­wal­tung an Hoch­schu­len. So ent­stand bereits eine Art Vor­prü­fung für elek­tro­ni­sche Fern­prü­fun­gen, an die wir im Früh­som­mer 2020 unmit­tel­bar anknüp­fen konn- ten, als uns die Anfra­ge aus dem Baye­ri­schen Staats­mi- nis­te­ri­um für Wis­sen­schaft und Kunst erreich­te, kurz- fris­tig einen Ver­ord­nungs­text zu ent­wer­fen. Dass wir damit gleich­sam die „Blau­pau­se“ für das deut­sche Fern- prü­fungs­recht anfer­ti­gen wür­den und die Bay­FEV viel- fach kopiert wür­de, kam uns da noch nicht in den Sinn.

ries/­de­tail­/­wel­che-bun­des­laen­der-fueh­ren-e-examen-ein-jura-refe-

ren­da­ri­at-stu­di­um-digi­ta­li­sie­rung (letz­ter Zugriff am 09.02.2023). 33 Vgl. etwa BVerfG, NVwZ 1989, 645.
34 Zum Wahl­recht aus­führ­lich Heckmann/Rachut, E‑Klausur und

elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 117 ff.
35 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fernprüfung,

S. 24 ff.

Rach­ut · E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung 9 3

94 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 89–98

Es war schlicht Eile gebo­ten, war das Som­mer­se­mes­ter 2020, das ers­te „Pan­de­mie­se­mes­ter“, doch schon fort­ge- schrit­ten und dräng­te die Zeit, eine rechts­si­che­re Grund- lage für Fern­prü­fun­gen zu schaf­fen. Nicht unbe­deu­tend hier­für war die ver­fas­sungs­recht­li­che Ausgangslage.

1. Grund­rechts­kol­li­sio­nen – Das Tri­lem­ma der Hoch- schulen

Ver­setzt man sich zurück in das Som­mer­se­mes­ter 2020, ergab sich eine ganz beson­de­re Her­aus­for­de­rung für den Grund­rechts­schutz, ein klas­si­sches Trilemma:

So muss­ten die Hoch­schu­len gegen­über ihren ein­ge- schrie­be­nen Stu­die­ren­den alle im jewei­li­gen Stu­di­en- gang vor­ge­se­he­nen Prü­fun­gen anbie­ten, um dem auch durch Art. 12 GG als Teilhabegrundrecht36 gestütz­ten Prü­fungs­an­spruch zu genügen.

Die­se Prü­fun­gen wie­der­um konn­ten nicht wie bis­her im Hör­saal als Prä­senz­prü­fung statt­fin­den, weil dies der staat­li­chen Schutz­pflicht zum Schutz von Leben und Ge- sund­heit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) wider­spro­chen hät­te: Auf­grund der Pan­de­mie­la­ge waren zu die­sem Zeit­punkt aus Grün­den des Infek­ti­ons­schut­zes erheb­li­che Kon­takt- beschrän­kun­gen vor­ge­se­hen, die ein Auf­ein­an­der­tref­fen vie­ler Men­schen (zumal sol­cher mit Risi­ko­fak­to­ren wie Immun­erkran­kun­gen) unter­sag­te; hin­zu­ka­men etli­che unver­schul­de­te Infek­tio­nen, die eine Qua­ran­tä­ne­pflicht nach sich zogen oder gel­ten­de Ein- und Aus­rei­se­be- schrän­kun­gen, die ein Errei­chen des Hoch­schul­or­tes un- mög­lich machten.

Woll­te man hier aus­wei­chen und die Klau­su­ren in „siche­rer Umge­bung“, näm­lich der häus­li­chen Umge- bung (qua­si der Qua­ran­tä­ne) schrei­ben las­sen, stan­den wei­te­re Grund­rechts­ein­schrän­kun­gen im Raum: zum ei- nen eine Gefähr­dung des Per­sön­lich­keits­schut­zes gem. Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG (Recht auf infor­ma- tio­nel­le Selbst­be­stim­mung, Gewähr­leis­tung der Ver­trau- lich­keit und Inte­gri­tät infor­ma­ti­ons­tech­ni­scher Sys­te­me) sowie ein mög­li­cher Ein­griff in Art. 13 Abs. 1 GG durch die kaum ver­meid­ba­re Video­auf­sicht inner­halb der Woh­nung und ggf. die Instal­la­ti­on von Soft­ware mit Ein- grif­fen in die Funk­tio­na­li­tät des häus­li­chen Rech­ners; zum ande­ren eine mög­li­che Ver­let­zung des Grund­sat­zes der Chan­cen­gleich­heit (Art. 3 Abs. 1 GG), soweit die kon­kre­te Prü­fungs­si­tua­ti­on zu einer signi­fi­kan­ten Erhö- hung von Täu­schungs­mög­lich­kei­ten führt.

  1. 36  Hier­zu Ruf­fert, in: Epping/Hillgruber, Beck­OK Grund­ge­setz, 50. Ed., Stand 15.2.2022, Art. 12 Rn. 25; Jere­mi­as, in: Fischer/Jeremias/ Die­te­rich, Prü­fungs­recht, 8. Aufl. 2022, C., Rn. 135.
  2. 37  Hier­zu grund­le­gend Hes­se, Grund­zü­ge des Ver­fas­sungs­rechts der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, Neu­druck der 20. Aufl. 1999,

Alles in allem konn­te man als Hoch­schu­le in solch ei- ner Situa­ti­on nur falsch han­deln: egal wel­ches Vor­ge­hen man favo­ri­sier­te, es wür­de zu Grund­rechts­ein­schrän- kun­gen füh­ren. Die Her­aus­for­de­rung für das Kon­zept einer dies­be­züg­li­chen Rechts­grund­la­ge war also, im Wege prak­ti­scher Konkordanz37 die kol­li­die­ren­den Grund­rech­te in einen sol­chen Aus­gleich zu brin­gen, dass kein Grund­recht unnö­tig stark beein­träch­tigt wird.

Vor die­sem Hin­ter­grund ent­stand eine „Archi­tek­tur“ für die Bay­FEV mit vier Säu­len: Trans­pa­renz, Wahl­recht, Ver­trau­en, Verhältnismäßigkeit.

2. Ers­te Säu­le des Bay­FEV-Modells: Transparenz

Dass Trans­pa­renz qua­si über allem ste­hen müs­se, leuch- tet ein, wenn man ver­sucht, das dif­fu­se Gesamt­bild staat- licher Prü­fun­gen in einer Pan­de­mie­si­tua­ti­on zu zeich- nen. So müs­sen die Hoch­schu­len bzw. Prü­fungs­äm­ter zunächst ein­mal auf­klä­ren: über die aktu­el­le Sach- und Rechts­la­ge, die denk­ba­ren Prü­fungs­for­ma­te und ihre jewei­li­gen Rah­men­be­din­gun­gen sowie die Kon­se­quen- zen, wenn man den einen oder ande­ren Weg geht (hier- zu § 3 Bay­FEV und pas­sim). Der Staat hat hier gleich­sam eine Bring­schuld. Hier­zu zählt auch das Ange­bot von Pro­be­klau­su­ren unter Fern­prü­fungs­be­din­gun­gen, um die Hin­wei­se bes­ser nach­voll­zie­hen zu kön­nen (§ 3 Abs. 3 BayFEV).

3. Zwei­te Säu­le des Bay­FEV-Modells: Wahlrecht

Auf die­ser Trans­pa­renz­of­fen­si­ve auf­bau­end bil­det das Wahl­recht der Stu­die­ren­den (§ 8 Bay­FEV) die zwei­te Säu- le.38 Sie dür­fen sich frei ent­schei­den, ob sie an der elek­tro- nischen Fern­prü­fung oder einer alter­na­tiv ange­bo­te­nen Prä­senz­prü­fung teil­neh­men oder – wäh­rend der Pan­de- mie – die Prü­fung in das nächs­te Semes­ter ver­schie­ben (ohne Nach­teil im Stu­di­en­ver­lauf, § 8 Abs. 2 Satz 3 Bay- FEV). Auf die­ses Wahl­recht muss aus­drück­lich hin­ge­wie- sen wer­den. Erst durch das Wahl­recht ent­steht eine Situa- tion der Frei­wil­lig­keit, durch die der Grund­recht­sein- schränkungdieSchwere(oderggf.sogardieGrundlage) ent­zo­gen wird. Dass die Hoch­schu­len mit der Ein­räu- mung eines sol­chen Wahl­rechts einen erheb­li­chen Orga- nisa­ti­ons­auf­wand haben, ist unbe­strit­ten. Die­ser ist aber erfor­der­lich, um der spe­zi­fi­schen Grund­rechts­kol­li­si­on gerecht zu wer­den. Auch wenn den Staat kei­ne Ver­ant- wor­tung für den Aus­bruch der Pan­de­mie trifft (ggf. aber

Rn. 72, 317 ff.
38 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fernprüfung,

S. 190 (auch mit dem Hin­weis, dass die Aus­übung des Wahl­rechts nicht gleich­ge­setzt wer­den darf mit einer daten­schutz­recht­li­chen Ein­wil­li­gung in die Datenverarbeitung).

eine Ver­ant­wor­tung für den Ver­lauf und man­che Aus­wir- kun­gen), so spricht doch der Teilhabe‑, Schutz­pflicht- und Gewähr­leis­tungs­cha­rak­ter der betrof­fe­nen Grund- rech­te für die­ses Opti­mie­rungs­ge­bot, das der Ein­räu- mung des Wahl­rechts inne­wohnt: Ein­griffs­mi­ni­mie­rung durch Opti­mie­rung der ein­griffs­ver­mei­den­den Umstän- de.

4. Drit­te Säu­le des Bay­FEV-Modells: Vertrauen

DiesleitetüberzurdrittenSäule.Geradezuparadigma- tisch für das Kon­zept der Bay­FEV ist das Prin­zip „Kont- rol­le ist gut, Ver­trau­en ist bes­ser“, das Dirk Heck­mann in den Mit­tel­punkt sei­ner Begrün­dung auf der Pres­se­kon­fe- renz zur Vor­stel­lung der Bay­FEV am 19.9.2020 gestellt hat.39 Das Ver­trau­ens­prin­zip fin­det sich an meh­re­ren Stel­len der Ver­ord­nung wie­der und ist letzt­lich auch ein Aus­fluss des Grund­sat­zes der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit (hier- zu direkt im Anschluss). Es bedeu­tet letzt­lich, dass der Ver­ord­nungs­ge­ber bei der Aus­ge­stal­tung der elek­tro­ni- schen Fern­prü­fung dezi­dier­te Schran­ken ein­baut, was die Kon­troll- und Auf­sichts­mög­lich­kei­ten durch das Per- sonal der Klau­sur­auf­sicht betrifft. So fin­det etwa kei­ne Raum­über­wa­chung statt (§ 6 Abs. 1 Satz 2 Bay­FEV), der Ein­satz einer zwei­ten Kame­ra ist genau­so unter­sagt wie ein „360-Grad- Schwenk“ durch den Raum oder gar die Räu­me in der Woh­nung. Eben­so unter­sagt ist die Erstel- lung von Per­sön­lich­keits­pro­fi­len durch die Prü­fungs- und Kon­troll­soft­ware („Abwei­chung vom Stan­dard­ver- hal­ten“40), was ein fak­ti­sches „Aus“ für den Ein­satz beson- ders­ri­si­ko­be­haf­te­ter­KI-Sys­tem­ebei­ei­ner­elek­tro­ni­schen Fern­prü­fung bedeu­tet (§ 6 Abs. 4 Satz 5 BayFEV).41

Ins­ge­samt beruht die elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, so wie sie die Bay­FEV regelt, auf einem gro­ßen Ver­trau­ens- vor­schuss gegen­über den Stu­die­ren­den. Wir gehen da- von aus, dass die meis­ten Stu­die­ren­den die fak­tisch ver- blei­ben­den Mög­lich­kei­ten zur Täu­schung nicht nut­zen wer­den, wobei wir zwi­schen red­li­chen, ver­führ­ba­ren und rück­sichts­lo­sen Kan­di­da­ten unterscheiden.42

Die red­li­chen Stu­die­ren­den täu­schen ohne­hin nicht, weil sie sich auf das Bewäl­ti­gen der Klau­sur­auf­ga­be kon- zen­trie­ren, statt ihre Ener­gie für auf­wän­di­ge und aufrei- ben­de Täu­schungs­ma­nö­ver zu ver­geu­den. Dass Täu- schung wie­der­um nicht zu leicht gemacht wird, ist auch eine Fra­ge der Prü­fungs­di­dak­tik: je weni­ger die Wieder-

  1. 39  Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=Hbj8t9ogM3M (letz­ter Zugriff am 09.02.2023); vgl. auch Heckmann/Rachut, Kon­trol­le ist gut, Ver­trau­en ist bes­ser, COVuR 2021, 194 ff.
  2. 40  Hier­zu aus­führ­lich Rachut/Besner, MMR 2021, 851, 853, 855 f.
  3. 41  Zur mög­li­chen Ver­wen­dung ein­fa­cher Algo­rith­men vgl.§ 6 Abs. 4 Bay­FEV sowie Rachut/Besner, MMR 2021, 851 ff.
  4. 42  Heckmann/Rachut, Kon­trol­le ist gut, Ver­trau­en ist bes­ser, COVuR2021, 194 (199).

gabe von erlern­ten Tat­sa­chen ver­langt wird, je mehr es um Trans­fer­wis­sen und Metho­de geht, um so schwie­ri- ger ist es, auf unzu­läs­si­ge Quel­len zurück­zu­grei­fen, weil dies bei der Kor­rek­tur eher auf­fal­len würde.

Die ver­führ­ba­ren Stu­die­ren­den wer­den dann auf un- zuläs­si­ge Quel­len zurück­grei­fen, wenn sie sich bei die- sem Ver­hal­ten „im Recht sehen“: etwa, weil der Prü­fungs- stoff zu schwer ist oder von kom­mu­ni­zier­ten Ein­gren- zun­gen abweicht. Das lässt sich durch einen ziel­füh­ren- den Unter­richt und eine fai­re Prü­fungs­ge­stal­tung ver­hin­dern. Hin­zu kommt die abschre­cken­de Wir­kung des Auf­sichts­drucks durch die Kon­trol­le mit­tels ein­fa- cher Videoaufsicht.

Das ist anders bei den rück­sichts­lo­sen Stu­die­ren­den, die jede Gele­gen­heit nut­zen, sich einen – auch unzu­läs- sigen – Vor­teil zu ver­schaf­fen. Sol­che Per­so­nen ver­hal­ten sich ähn­lich wie die Raser im Stra­ßen­ver­kehr, deren Ver- kehrs­ver­stö­ße nur bei einer flä­chen­de­cken­den Ver­kehrs- über­wa­chung unter­bun­den wer­den könn­ten. Genau das ist aber weder im Stra­ßen­ver­kehrs­recht noch den bis­he- rigen Prä­senz­klau­su­ren vor­ge­se­hen, im Gegen­teil: Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat sich mehr­fach kri­tisch schon zum „Gefühl“ des „per­ma­nen­ten Über­wacht­seins“43 geäu­ßert und erteilt einer „Total­über­wa­chung“ eine kla­re Absage.

5. Vier­te Säu­le des Bay­FEV-Modells: Ver­hält­nis­mä­ßig- keit

Genau hier knüpft auch die vier­te Säu­le unse­res Modells an: die Ver­hält­nis­mä­ßig­keit staat­li­chen Han­delns ist auch ein Gebot im Rah­men der Klau­sur­auf­sicht. Woll­te man bei elek­tro­ni­schen Fern­prü­fun­gen jeg­li­che Kon­trol- len vor­neh­men, die tech­nisch mög­lich sind, wäre schon frag­lich, ob die­se über­haupt erfor­der­lich sind. Alle­mal wären sie nicht angemessen.44 In kei­nem Lebens­be­reich ist „Total­über­wa­chung“ (Über­wa­chung um jeden Preis) zuläs­sig: weder im Stra­ßen­ver­kehr noch bei Leis­tungs- kon­trol­len am Arbeitsplatz.45 In der Grund­rechts­ab­wä- gung spielt die Chan­cen­ge­rech­tig­keit eine wich­ti­ge Rol- le. Sie ist aber – wie gese­hen – in prak­ti­sche Kon­kor­danz zum Schutz der Pri­vat­sphä­re, der Unver­letz­lich­keit der Woh­nung und der Ver­trau­lich­keit und Inte­gri­tät infor- mati­ons­tech­ni­scher Sys­te­me zu brin­gen. Unse­re Rechts- ord­nung nimmt in vie­len Berei­chen Risi­ken in Kauf,

43 BVerfGE 120, 378.
44 Aus­führ­lich zu den hohen ver­fas­sungs­recht­li­chen Anforderungen

Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S.

171 ff.
45 Bei­spiel­haft BAG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16 –,

BAGE 159, 380 ff. zur Unzu­läs­sig­keit des Ein­sat­zes von Key­log- gern im Rah­men einer anlass­lo­sen Über­wa­chung des Arbeits­plat- zes.

Rach­ut · E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung 9 5

96 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 89–98

eine Null-Risi­ko-Stra­te­gie wird nicht ein­mal beim Betrieb gefähr­li­cher Anla­gen gefordert.46 War­um also soll­ten aus­ge­rech­net Risi­ken von Täu­schungs­hand­lun- gen in Klau­su­ren erheb­li­che Ein­grif­fe in die genann­ten Schutz­gü­ter durch stär­ke­re Kon­trol­len rechtfertigen?47

6. Mode­ra­te Prüfungsaufsicht

Legt man die genann­ten vier Säu­len der Archi­tek­tur des Fern­prü­fungs­sys­tems zugrun­de, kommt man zu einem auf Ver­trau­en, mode­ra­ter Kon­trol­le und didak­ti­scher Anpas­sung beru­hen­den Prü­fungs­sys­tem. Die Klau­sur wird beauf­sich­tigt, jedoch erfasst die stan­dard­mä­ßi­ge Video­auf­sicht nur die Prü­fung des Ver­bleibs der Kan­di- daten vor dem Bild­schirm (sta­ti­sches Kame­ra­bild) und das Unter­blei­ben von Gesprä­chen im Raum (offe­nes Mikro­fon). Dies bil­det prak­tisch die Kon­trol­le im rea­len Prü­fungs­raum ab. Gege­be­nen­falls kann eine Prü­fungs- soft­ware zur Anwen­dung gelan­gen, die für den Klau­sur- zeit­raum bestimm­te Funk­tio­nen (z.B. das Nut­zen der Zwi­schen­ab­la­ge oder eine Inter­net­re­cher­che) unter­bin- det. Wei­te­re Täu­schungs­mög­lich­kei­ten mögen auch dadurch ver­mie­den wer­den, indem man die Ver­wen- dung von Hilfs­mit­teln wie Stu­di­en­un­ter­la­gen aus­drück- lich erlaubt (sog. Open Books Klausuren).

IV. Prü­fungs­kul­tur­wan­del

Dies alles soll eine Prü­fungs­si­tua­ti­on schaf­fen, in der sich Prü­fen­de und Stu­die­ren­de mit Respekt, Fair­ness, Ver­trau­en und Zuver­sicht begeg­nen. Wür­de eine Hoch- schu­le dem­ge­gen­über durch die Prü­fungs­mo­da­li­tä­ten dezi­diert eine Atmo­sphä­re des Miss­trau­ens erzeu­gen, müss­te sie sich fra­gen, wel­ches Men­schen­bild sie aus­ge- rech­net bei jenen Men­schen zugrun­de legen will, die als ihre Absol­ven­ten künf­tig die Hoff­nungs- und Leis­tungs- trä­ger der Gesell­schaft dar­stel­len sol­len. Oder anders ausgedrückt:

„Der frei­heit­li­che Ver­fas­sungs­staat lebt von Vor­aus­set- zun­gen, die er selbst nicht garan­tie­ren kann: Mit die- sem Satz sprach Ernst-Wolf­gang Böcken­för­de auch die

  1. 46  Zum Risi­ko­be­griff im Tech­nik­recht Debus, Stra­te­gien zum Um- gang mit sagen­haf­ten Risi­ko­ty­pen, ins­be­son­de­re am Bei­spiel der Kern­ener­gie, in: Schar­rer et. al. (Hrsg.), Risi­ko im Recht — Recht im Risi­ko, 2011, S. 11 ff.
  2. 47  Vgl. zum Umgang mit Täu­schungs­ver­su­chen im Rah­men von elek­tro­ni­schen Fern­prü­fun­gen Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, S. 222 ff.
  3. 48  Heckmann/Rachut, Kon­trol­le ist gut, Ver­trau­en ist bes­ser, COVuR 2021, 194 (200).
  4. 49  Aus­führ­lich Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische

gewoll­te Unvoll­kom­men­heit der Rechts­durch­set­zung und die hohe Bedeu­tung der Akzep­tanz­stif­tung in ei- ner frei­en Gesell­schaft an. Wo könn­te die­ses Prin­zip bes­ser gelernt und gelehrt wer­den als an den Hoch­schu­len?“48

Letzt­lich zwingt die Pan­de­mie mit der Not­wen­dig- keit elek­tro­ni­scher Fern­prü­fun­gen zum Umden­ken in Prü­fungs­di­dak­tik und Prüfungskultur.49 Schon län­ger wird dis­ku­tiert, ob bestimm­te Prü­fungs­for­ma­te über- haupt noch zeit­ge­mäß sind.50 Wie wich­tig ist das Aus- wen­dig­ler­nen eines Prü­fungs­stoffs? Sind die Klau­su­rin- hal­te und ihre Metho­dik über­haupt noch ange­mes­sen, pas­sen sie zu den Anfor­de­run­gen der Berufs­pra­xis, auf die sie vor­be­rei­ten sol­len? Gera­de bei juris­ti­schen Prü- fun­gen ist der Unter­schied zwi­schen Prü­fung und Pra­xis beson­ders stark: Wäh­rend man im 1. Staats­examen noch als Ein­zel­kämp­fer mit Geset­zes­text kom­ple­xe Fäl­le lösen soll, arbei­tet man spä­ter in Teams mit juris­ti­schen Da- ten­ban­ken. Wenn man dann noch hin­zu­nimmt, dass künf­tig Legal-3Tech-Anwen­dun­gen51 und KI-Sys­te­me wie ChatGPT oder you.com zumin­dest eine teil­auto­ma- tisier­te Rechtsdurchsetzung52 ermög­li­chen, ent­fernt sich die kon­ven­tio­nel­le Juris­ten­aus­bil­dung immer mehr von der Rechts­pra­xis. Hier gilt es gegen­zu­steu­ern. Gefragt sind Krea­ti­vi­tät, kri­ti­sche Refle­xi­on, Tech­nik­ver­ständ­nis und Ziel­ori­en­tie­rung. All das lässt sich (ein Stück weit) erler­nen, üben und anwen­den, mit wenig Aufsichtsdruck.

Das zeigt auch der Umgang mit ChatGPT, einer KI- Anwen­dung des Text- und Data­mi­nings des Unter­neh- mens Ope­nAI, um die ein regel­rech­ter Hype ent­stan­den ist.53 Mit deren Hil­fe las­sen sich mehr oder weni­ger fun- dier­te Ant­wor­ten auf bestimm­te (Fach-) Fra­gen fin­den. Dabei muss indes die Funk­ti­ons­wei­se die­ser Sys­te­me be- rück­sich­tigt wer­den, sodass die­se Anwen­dung nicht wie ein gro­ßes Lexi­kon oder eine Such­ma­schi­ne genutzt wer­den kann, son­dern anhand sei­ner Trai­nings­da­ten le- dig­lich auf­grund von Wahr­schein­lich­kei­ten mög­lichst kor­rek­te bzw. erwünsch­te Text­ver­voll­stän­di­gung aus­gibt. Die dar­aus ermit­tel­ten Aus­sa­gen kön­nen, müs­sen aber

Fern­prü­fung, S. 218 ff.
50 Hier­zu auch die Initia­ti­ve www.iurreform.de (letz­ter Zugriff am

09.02.2022).
51 Hier­zu statt Vie­ler Breidenbach/Glatz, Rechts­hand­buch Legal

Tech, 2. Aufl. 2021.
52 Zu Gren­zen auto­ma­ti­sier­ter Rechts­ver­wirk­li­chung Pasch­ke, MMR

2019, 563 ff.
53 Zum Ein­stieg sie­he Brae­gel­mann, Der ChatGPTo­ri­sche Imperativ,

Blog­bei­trag vom 12.12.2022, https://www.legal-tech.de/chatgpt/ (letz­ter Zugriff am 09.02.2023).

nicht fach­lich fun­diert sein und der Inten­ti­on des Fra­gen- den entsprechen.

Der Reflex unter den Prü­fen­den ließ nicht lan­ge auf sich war­ten: viel­fach wur­de ein Ver­bot die­ser Anwen- dung dis­ku­tiert, man­che (Hoch-)Schulen in den USA haben die Anwen­dung bereits auf ihren Rech­nern unter- bunden.54 Nur lang­sam ent­fal­tet sich (auch in Deutsch- land) die Erkennt­nis, sol­che Inno­va­tio­nen in den Unter- richt ein­zu­bau­en oder gar in Prü­fun­gen zuzu­las­sen: nicht etwa, um dem Sys­tem die Lösung der Klau­sur­auf- gabe zu über­las­sen, son­dern viel­mehr, um des­sen Funk- tio­na­li­tät als Teil eines Erkennt­nis­pro­zes­ses zu begrei­fen. Dies wie­der­um setzt natür­lich neu­ar­ti­ge Prü­fun­gen vor- aus, die mehr auf Metho­de und Erkennt­nis als auf rei- nes Wis­sen set­zen. Dass damit die frü­her wie­der­ver- wend­ba­ren Klau­sur­auf­ga­ben zur Maku­la­tur wer­den, ist viel­leicht der Preis für eine sich audrän­gen­de Moder­ni- sie­rung des Prüfungswesens.

E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung sind so gese­hen auch nur die Vor­bo­ten für eine (welt­wei­te)

Umwäl­zung im Bil­dungs­we­sen, eine digi­ta­le Trans­for- mati­on, bei der Deutsch­land vor der Wahl steht: Ent­we- der man gestal­tet den Umbruch selbst und inte­griert tech­ni­sche Inno­va­tio­nen so, dass sie unse­ren Wer­ten und Stan­dards ent­spre­chend opti­ma­len Nut­zen ent­fal- ten. Oder man hinkt ein wei­te­res Mal so weit hin­ter­her, dass die Gestal­tungs­ho­heit bei jenen Unter­neh­men liegt, die ein eige­nes Wer­te­ver­ständ­nis gleich mit ein- bau­en: Code is law.55 Ob man das durch Regu­lie­rung je ein­ge­fan­gen bekommt, ist frag­lich, wie man an den Be- mühun­gen um den Per­sön­lich­keits­schutz in sozia­len Netzwerken56 (Digi­tal Ser­vices Act) sieht.57

Sarah Rach­ut ist wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­te­rin am Lehr­stuhl für Recht und Sicher­heit der Digi­ta­li­sie­rung (Prof. Dr. Dirk Heck­mann) an der Tech­ni­schen Uni­ver- sität Mün­chen und Geschäfts­füh­re­rin der For­schungs- stel­le TUM Cen­ter for Digi­tal Public Ser­vices. Sie forscht und lehrt zu ver­fas­sungs­recht­li­chen Fra­gen der Digi­ta­li­sie­rung, schwer­punkt­mä­ßig in den Berei­chen E‑Government, E‑Health und E‑Education.

54 Zum Ver­bot von ChatGPT an New Yor­ker Schu­len: https:// ny.chalkbeat.org/2023/1/3/23537987/nyc-schools-ban-chatgpt- wri­ting-arti­fi­ci­al-intel­li­gence. Vgl. auch den Blog­bei­trag von Donath vom 6.1.2023: https://www.golem.de/news/schule- und-wis­sen­schaft-nut­zungs­ver­bo­te-gegen-chatgpt-aus­ge­spro- chen-2301–171004.html (letz­ter Zugriff am 09.02.2023).

55 Law­rence Les­sig, Code is law, 1999.
56 Ein Gesetz zur Ver­bes­se­rung des Persönlichkeitsrechtsschutzes

im Inter­net schla­gen Anne Pasch­ke und Dirk Heck­mann vor, sie­he

Heckmann/Paschke, DRiZ 2018, 144 ff.
57 Peu­kert, Zu Risi­ken und Neben­wir­kun­gen des Geset­zes über

digi­ta­le Diens­te (Digi­tal Ser­vices Act), KritV 2022, 57 ff.

Rach­ut · E‑Klausur und elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung 9 7

98 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 89–98

I. Ent­schei­dung des BAG

In einem auf­se­hen­er­re­gen­den Beschluss vom 13.9.2022 hat sich das BAG auf den Stand­punkt gestellt, dass der Arbeit­ge­ber bereits nach gel­ten­dem Recht ver­pflich­tet ist, ein Sys­tem zur Erfas­sung der von sei­nen Arbeit­neh- mern geleis­te­ten täg­li­chen Arbeits­zeit ein­zu­füh­ren, das Beginn und Ende und damit die Dau­er der Arbeits- zeit ein­schließ­lich der Über­stun­den umfasst. Dies soll eine uni­ons­rechts­kon­for­me Aus­le­gung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG gebie­ten, nach wel­chem der Arbeit­ge­ber zur Pla­nung und Durch­füh­rung der Maß- nah­men nach § 3 Abs. 1 ArbSchG unter Berück­sich­ti- gung der Art der Tätig­kei­ten und der Zahl der Beschäf- tig­ten für eine geord­ne­te Orga­ni­sa­ti­on zu sor­gen und die erfor­der­li­chen Mit­tel bereit­zu­stel­len hat.1

Nach § 3 Abs. 1 ArbSchG ist der Arbeit­ge­ber ver- pflich­tet, die erfor­der­li­chen Maß­nah­men des Arbeits- schut­zes unter Berück­sich­ti­gung der Umstän­de zu tref- fen, die Sicher­heit und Gesund­heit der Beschäf­tig­ten bei der Arbeit beeinflussen.

In dem vom BAG ent­schie­de­nen Rechts­streit ging es um die Fra­ge, ob dem Betriebs­rat ein Initia­tiv­recht zur Ein­füh­rung eines elek­tro­ni­schen Sys­tems zur Arbeits- zeit­er­fas­sung zusteht. Dies hat das BAG mit Blick auf § 87 Abs. 1 Ein­gangs­halb­satz BetrVG ver­neint, je- doch aus­ge­führt, dass die bei der Erfül­lung der Pflicht des Arbeit­ge­bers zur Arbeits­zeit­er­fas­sung nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG bestehen­den Spiel­räu­me von den Betriebs­par­tei­en oder einer Eini­gungs­stel­le im Rah- men der betrieb­li­chen Mit­be­stim­mung nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG durch ent­spre­chen­de Rege­lun- gen aus­zu­ge­stal­ten sind, was dann auch ein ent­spre­chen- des Initia­tiv­recht zu einer Rege­lung des „Wie“ der Ar- beits­zeit­er­fas­sung umfasst. Die­ses kann der Betriebsrat

  1. 1  BAG, Beschl. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rn. 42 ff.
  2. 2  BAG, Beschl. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rn. 59 ff., 66 ff.
  3. 3  Richt­li­nie 2003/88/EG des Euro­päi­schen Par­la­ments und des Rates v. 4.11.2003 über bestimm­te Aspek­te der Arbeits­zeit­ge­s­tal- tung, Abl. 2003 L 299/9.
  4. 4  Richt­li­nie 89/391/EWG des Rates v. 12.6.1989 über die Durchfüh-

aber nicht auf eine Zeit­er­fas­sung in elek­tro­ni­scher Form beschränken.2

Grund­la­ge der im Wege uni­ons­rechts­kon­for­mer Aus­le­gung auf die Rah­men­vor­schrift des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG gestütz­ten Arbeits­zeit­er­fas- sungs­pflicht durch das BAG ist die Ent­schei­dung des EuGH in der Rechts­sa­che CCOO. Mit Urteil vom 14.5.2019 hat der EuGH auf Vor­la­ge der Audi­en­cia Naci- onal (Natio­na­ler Gerichts­hof, Spa­ni­en) bekannt­lich ent- schie­den, dass es mit den Art. 3, 5 und 6 der Arbeits­zeit- richt­li­nie 2003/88/EG,3 die im Lich­te von Art. 31 Abs. 2 GRCh und von Art. 4 Abs. 1, 11 Abs. 3 und 16 Abs. 3 der Richt­li­nie 89/391/EWG4 aus­zu­le­gen sind, unver­ein­bar ist, wenn die arbeits­zeit­recht­li­chen Bestim­mun­gen eines Mit­glied­staa­tes die Arbeit­ge­ber nicht ver­pflich­ten, ein Sys­tem ein­zu­rich­ten, mit dem die von einem jeden Ar- beit­neh­mer geleis­te­te täg­li­che Arbeits­zeit gemes­sen wer- den kann.5 Da die Mit­glied­staa­ten zur Gewähr­leis­tung der vol­len Wirk­sam­keit der Richt­li­nie 2003/88/EG alle erfor­der­li­chen Maß­nah­men tref­fen müss­ten, um die Be- ach­tung der Min­destru­he­zei­ten zu gewähr­leis­ten und jede Über­schrei­tung der wöchent­li­chen Arbeits­zeit zu ver­hin­dern, sei eine natio­na­le Rege­lung, die kei­ne Ver- pflich­tung vor­se­he, von einem Instru­ment Gebrauch zu machen, mit dem die Zahl der täg­li­chen und wöchent­li- chen Arbeits­stun­den objek­tiv und ver­läss­lich fest­ge­stellt wer­den kön­ne, nicht geeig­net, die prak­ti­sche Wirk­sam- keit der von Art. 31 Abs. 2 GRCh und der durch die Ar- beits­zeit­richt­li­nie ver­lie­he­nen Rech­te sicher­zu­stel­len. Dabei gesteht der Gerichts­hof den Mit­glied­staa­ten einen Spiel­raum bei der Fest­le­gung der kon­kre­ten Moda­li­tä­ten zur Umset­zung eines sol­chen Sys­tems zu.6

Weil der deut­sche Gesetz­ge­ber bis­lang untä­tig geblie- ben ist, hat sich das BAG zu der Annah­me des Bestehens einer all­ge­mei­nen Arbeits­zeit­er­fas­sungs­pflicht bereits de

rung von Maß­nah­men zur Ver­bes­se­rung der Sicher­heit und des Gesund­heits­schut­zes der Arbeit­neh­mer bei der Arbeit, Abl. 1989 L 183/1.

5 EuGH, Urt. v. 14.5.2019 – C‑55/18 – CCOO, NZA 2019, 683, ins­bes. Rn. 60.

6 EuGH, Urt. v. 14.5.2019 – C‑55/18 – CCOO, NZA 2019, 683 Rn. 50, 63.

Georg Cas­pers

Arbeits­zeit­er­fas­sung an Hoch­schu­len
– Anmer­kung zum Beschluss des BAG vom 13.9.2022 – 1 ABR 22/21 –

Ord­nung der Wis­sen­schaft 2023, ISSN 2197–9197

100 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 99–106

lege lata beru­fen gefühlt. Danach sind die Arbeit­ge­ber nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG ver­pflich­tet, Beginn und Ende der täg­li­chen Arbeits­zeit der­je­ni­gen Arbeit­neh­mer zu erfas­sen, für die der Gesetz­ge­ber nicht auf der Grund- lage von Art. 17 Abs. 1 RL 2003/88/EG eine von den Vor- gaben in Art. 3, 5 und 6 Buchst. b) die­ser Richt­li­nie ab- wei­chen­de Rege­lung getrof­fen hat.7 Dabei aner­kennt das BAG, dass die Zeit­er­fas­sung nicht zwin­gend auf elek­tro- nischem Wege erfol­gen muss, son­dern auch Auf­zeich- nun­gen in Papier­form den Anfor­de­run­gen genü­gen. Eben­so besteht die Mög­lich­keit, die Auf­zeich­nung der betref­fen­den Arbeits­zei­ten an die Arbeit­neh­mer zu delegieren.8

Dass aus dem ArbSchG eine all­ge­mei­ne Pflicht zur Er- fas­sung der täg­li­chen Arbeits­zeit fol­gen soll, war so nicht erwar­tet wor­den. Denn bis­lang sieht § 16 Abs. 2 ArbZG ledig­lich eine Ver­pflich­tung der Arbeit­ge­ber vor, die über die werk­täg­li­che Arbeits­zeit von acht Stun­den hin­aus­ge- hen­de Arbeits­zeit der Arbeit­neh­mer auf­zu­zeich­nen und ein Ver­zeich­nis der Arbeit­neh­mer zu füh­ren, die in eine Ver­län­ge­rung der Arbeits­zeit gem. § 7 Abs. 7 ArbZG ein- gewil­ligt haben. Dane­ben exis­tie­ren eini­ge spe­zi­al­ge­setz- liche Pflich­ten zur Auf­zeich­nung der Arbeits­zeit, etwa nach § 21a Abs. 7 ArbZG sowie § 17 Abs. 1 MiLoG, § 17c Abs.1AÜG,§19Abs.1AEntGund§6Abs.1GSA Fleisch.9 Dies spricht dafür, dass es eine all­ge­mei­ne Pflicht, den Beginn und das Ende der gesam­ten täg­li­chen Arbeits­zeit sämt­li­cher Arbeit­neh­mer auf­zu­zeich­nen, im deut­schen Arbeits­recht nicht gibt, und von einer sol­chen wur­de ja auch bis­lang gera­de nicht aus­ge­gan­gen. Von ei- nem „Erfur­ter Kunst­griff“ ist des­halb die Rede,10 oder auch davon, das BAG habe sich „metho­disch außer­or- dent­lich weit vor­ge­wagt“.11 Ver­ein­zelt wird sogar von ei- ner unzu­läs­si­gen Rechts­fort­bil­dung durch das BAG und damit von einem Ver­fas­sungs­ver­stoß ausgegangen.12

Gänz­lich fern­lie­gend ist das Aus­le­gungs­er­geb­nis des BAG indes­sen nicht, sieht doch Art. 1 Abs. 4 iVm. Abs. 2 der RL 2003/88/EG aus­drück­lich vor, dass die Bestim- mun­gen der RL 89/391/EWG über die Durch­füh­rung von Maß­nah­men zur Ver­bes­se­rung der Sicher­heit und

  1. 7  BAG, Beschl. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Leit- satz 1 und Rn. 56.
  2. 8  BAG, Beschl. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rn. 65.
  3. 9  Zu den Auf­zeich­nungs­pflich­ten des ArbZG sowie wei­te­rerAuf­zeich­nungs­pflich­ten aus­führ­lich Bay­reu­ther, NZA 2020, 1 ff.; Baeck/Deutsch/Winzer, Arbeits­zeit­ge­setz, 4. Aufl. 2020, § 16 ArbZG Rn. 21 ff., § 21a ArbZG Rn. 33 ff.
  4. 10  Lipin­ski, BB 2022, Heft 40, I.
  5. 11  Bay­reu­ther, NZA 2023, 193, 198.
  6. 12  Höpfner/Schneck, NZA 2023, 1 ff., wonach es sich um ein„Mus­ter­bei­spiel unzu­läs­si­ger Rechts­fort­bil­dung“ han­deln soll; a.A.

des Gesund­heits­schut­zes der Arbeit­neh­mer bei der Ar- beit unbe­scha­det stren­ge­rer und/oder spe­zi­fi­scher Vor- schrif­ten in der Arbeits­zeit­richt­li­nie auf die täg­li­chen und wöchent­li­chen Min­destru­he­zei­ten sowie die wö- chent­li­che Höchst­ar­beits­zeit voll Anwen­dung fin­den. Dem­entspre­chend hat bereits der EuGH dar­ge­legt, dass sich die von ihm ange­nom­me­ne Ver­pflich­tung zur Ein- rich­tung eines objek­ti­ven, ver­läss­li­chen und zugäng­li- chen Sys­tems, mit dem die von einem jeden Arbeit­neh- mer geleis­te­te täg­li­che Arbeits­zeit gemes­sen wer­den kann, auch aus der all­ge­mei­nen Ver­pflich­tung der Mit- glied­staa­ten und der Arbeit­ge­ber nach Art. 4 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 der Richt­li­nie 89/391/EWG ergibt, eine Or- gani­sa­ti­on und die erfor­der­li­chen Mit­tel zum Schutz der Sicher­heit und der Gesund­heit der Arbeit­neh­mer bereit- zustellen.13 Die­se Vor­ga­be des Art. 6 Abs. 1 RL 89/391/ EWG wird mit dem vom BAG her­an­ge­zo­ge­nen § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG umge­setzt. Der rechts­me­tho­di­sche Streit um die Fra­ge, ob die vom BAG gewähl­te Annah­me einer Arbeits­zeit­er­fas­sungs­pflicht im Wege der uni­ons- rechts­kon­for­men Aus­le­gung zuläs­sig war oder eine un- zuläs­si­ge Rechts­fort­bil­dung dar­stellt, kreist des­halb ins- beson­de­re um die Fra­ge, inwie­weit die vom natio­na­len Gesetz­ge­ber in § 16 Abs. 2 ArbZG sowie den spe­zi­al­ge- setz­li­chen Bestim­mun­gen vor­ge­se­he­nen Arbeits­zei­ter- fas­sungs­pflich­ten als abschlie­ßen­de Rege­lung gewollt waren.

Solan­ge die Recht­spre­chung des BAG nicht vom BVerfG kas­siert wird, ist davon aus­zu­ge­hen, dass eine all­ge­mei­ne Pflicht der Arbeit­ge­ber exis­tiert, Beginn und Ende der täg­li­chen Arbeits­zeit der­je­ni­gen Arbeit­neh­mer auf­zu­zeich­nen, für die der Gesetz­ge­ber nicht auf der Grund­la­ge von Art. 17 Abs. 1 RL 2003/88/EG eine von den Vor­ga­ben in Art. 3, 5 und 6 Buchst. b) der Richt­li­nie abwei­chen­de Rege­lung getrof­fen hat. Zwar bin­det der Beschluss des BAG allein die Betei­lig­ten des Recht­streits. Jedoch liegt es auf der Hand, dass die ganz über­wie­gen- de Zahl der Gerich­te für Arbeits­sa­chen und auch die Auf­sichts­be­hör­den der Aus­le­gung des BAG fol­gen wer- den.14 Nicht von der Auf­zeich­nungs­pflicht erfasst sind

Bay­reu­ther, NZA 2023, 193, 198.
13 EuGH, Urt. v. 14.5.2019 – C‑55/18 – CCOO, NZA 2019, 683 Rn.

62.
14 Nach Kennt­nis des Ver­fas­sers hat das Arbeits­mi­nis­te­ri­um NRW

unmit­tel­bar nach dem Beschluss des BAG ange­kün­digt, den Arbeits­schutz­be­hör­den Durch­füh­rungs­an­wei­sun­gen dazu an die Hand zu geben, um für eine mög­lichst ein­heit­li­che Linie und Rechts­si­cher­heit zu sor­gen. Die Sozi­al­part­ner wur­den bereits ange­hört. Ein­schrän­kend zu den Befug­nis­sen der Arbeits­schutz- behör­den Bay­reu­ther, NZA 2023, 193, 198 f.

nach § 18 Abs. 1 ArbZG die Arbeits­zei­ten von lei­ten­den Ange­stell­ten im Sin­ne des § 5 Abs. 3 BetrVG15 und Chef- ärz­ten sowie der Lei­ter von öffent­li­chen Dienst­stel­len und deren Ver­tre­tern sowie von Arbeit­neh­mern im öf- fent­li­chen Dienst, die zu selb­stän­di­gen Ent­schei­dun­gen in Per­so­nal­an­ge­le­gen­hei­ten befugt sind. Denn die­se sind im Sin­ne von Art. 17 Abs. 1 RL 2003/88/EG aus dem An- wen­dungs­be­reich des durch das ArbZG gewähr­leis­te­ten Arbeits­zeit­schut­zes ausgenommen.

II. Aus­wir­kun­gen auf die Hochschulen

1. Erfass­ter Personenkreis

Das Arbeits­zeit­recht und damit zusam­men­hän­gend die Pflicht zur Erfas­sung der Arbeits­zeit gilt auch an Hoch- schu­len. Für wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­ter und das nicht­wis­sen­schaft­li­che Per­so­nal grei­fen grund­sätz­lich die Schran­ken des ArbZG.16 Damit gilt gem. § 3 ArbZG eine werk­täg­li­che Arbeits­zeit von höchs­tens acht Stun- den, die auf bis zu zehn Stun­den nur ver­län­gert wer­den kann, wenn inner­halb von sechs Kalen­der­mo­na­ten oder inner­halb von 24 Wochen im Durch­schnitt acht Stun­den werk­täg­lich nicht über­schrit­ten wer­den. Von der in § 7 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b) ArbZG den Tarif­ver­trags­par- tei­en ein­ge­räum­ten Mög­lich­keit, einen ande­ren Aus- gleichs­zeit­raum fest­zu­le­gen, wur­de für den Bereich der Wis­sen­schaft in § 40 Nr. 3 TV‑L Gebrauch gemacht. Dort ist der Aus­gleichs­zeit­raum abwei­chend von § 3 Satz 2 ArbZG auf ein Jahr fest­ge­legt wor­den. Art. 19 Abs. 2 RL 2003/88/EG lässt dies grund­sätz­lich zu. Neben die­ser Begren­zung des zuläs­si­gen Umfangs der täg­li- chen und wöchent­li­chen Arbeits­zeit sind die Vor­ga­ben des § 5 ArbZG zur unun­ter­bro­che­nen Ruhe­zeit von min­des­tens elf Stun­den sowie die in § 4 ArbZG gere­gel- ten Ruhe­pau­sen einzuhalten.

Eine Erfas­sung der Arbeits­zeit an Hoch­schu­len ist bis­lang­ty­pi­scher­wei­sen­ur­für­ei­nen­Teil­der­Be­schäf­tig- ten vor­ge­se­hen. Ent­spre­chen­de mit den Per­so­nal­rä­ten abge­schlos­se­ne Dienst­ver­ein­ba­run­gen bestehen jeden-

  1. 15  Eben­so Bay­reu­ther, NZA 2023, 193 f.; zwei­felnd Höpfner/Schneck, NZA 2023, 1, 5; a.A. Löwisch, https://page.fachmedien.de/word- pres­s/­rechts­boar­d/2022/12/09/um­set­zung-der-arbeits­zeit­er­fas- sungs­pflicht-bleibt-auf­ga­be-des-gesetz­ge­ber­s/ (letz­ter Zugriff am 8.3.2023).
  2. 16  Wertheimer/Meißner, in: Hartmer/Detmer (Hrsg.), Hoch­schul- recht, 4. Aufl. 2022, Kapi­tel 11 Rn. 74.
  3. 17  In Hoch­schu­len und For­schungs­ein­rich­tun­gen in pri­va­ter Trä­ger- schaft fin­det das BetrVG Anwen­dung, so dass dort Betriebs­ver- ein­ba­run­gen zu schlie­ßen sind.
  4. 18  Ein Buß­geld setzt nach § 25 Abs. 1 Nr. 2 ArbSchG zumin­dest eine behörd­li­che Anord­nung sowie eine Zuwi­der­hand­lung vor­aus, vgl. hier­zu Höpfner/Schneck, NZA 2023, 1, 5; die Grund­la­ge für ein

falls in der Regel für die in der Hoch­schul­ver­wal­tung beschäf­tig­ten Mitarbeiter.17 In Berei­chen, in denen die Arbeits­zeit bis­her nicht erfasst wird, hat dies nun­mehr zu gesche­hen, sofern man den Beschluss des BAG nicht wei­ter ignoriert.18 Denn Aus­nah­men von den genann- ten Vor­ga­ben des ArbZG und der aus dem Uni­ons­recht her­ge­lei­te­ten Arbeits­zeit­er­fas­sungs­pflicht bestehen auch im Bereich der Hoch­schu­len nur in engen Gren­zen. Lei- ten­de Ange­stell­te im Sin­ne von § 5 Abs. 3 BetrVG an pri- vaten Hoch­schu­len und For­schungs­ein­rich­tun­gen in pri- vater Trä­ger­schaft sowie die Lei­ter der Dienst­stel­len und deren Ver­tre­ter sowie Arbeit­neh­mer, die zu selb­stän­di­gen Ent­schei­dun­gen in Per­so­nal­an­ge­le­gen­hei­ten befugt sind,19 an den staat­li­chen Hoch­schu­len, sind nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 und 2 ArbZG aus dem Anwen­dungs­be- reich des ArbZG aus­ge­nom­men. Mit die­ser Bestim- mung macht der Gesetz­ge­ber von der uni­ons­recht­li- chen Aus­nah­me­be­stim­mung des Art. 17 Abs. 1 RL 2003/88/EG Gebrauch, nach dem für lei­ten­de Ange- stell­te und sons­ti­ge Per­so­nen mit selb­stän­di­ger Ent- schei­dungs­be­fug­nis jeden­falls von den Art. 3 bis 6, 8 und 16 der Richt­li­nie, also ins­be­son­de­re von den Be- stim­mun­gen über die elf­stün­di­ge Ruhe­zeit, die Ruhe- pau­sen, die wöchent­li­che Min­destru­he­zeit von 24 Stun- den sowie die wöchent­li­che durch­schnitt­li­che Höchstar- beits­zeit von 48 Stun­den, abge­wi­chen wer­den darf. Ar- beit­neh­mer, für die der Gesetz­ge­ber auf der Grund­la­ge von Art. 17 Abs. 1 RL 2003/88/EG eine von den Vor­ga­ben in Art. 3, 5 und 6 Buchst. b) der Richt­li­nie abwei­chen­de Rege­lung getrof­fen hat, hat das BAG aus­drück­lich von der Arbeits­zeit­er­fas­sungs­pflicht ausgenommen.20

Glei­ches gilt für Pro­fes­so­ren, unab­hän­gig davon, ob die­se im Beam­ten­ver­hält­nis oder auf der Grund­la­ge ei- nes Arbeits­ver­trags tätig sind.21 Denn für die­se sehen die Hoch­schul­ge­set­ze regel­mä­ßig vor, dass die Vor- schrif­ten über die Arbeits­zeit nicht anzu­wen­den sind.22 Im Beam­ten­ver­hält­nis täti­ge Pro­fes­so­ren wer­den da- durch von den ein­schlä­gi­gen Arbeits­zeit­re­ge­lun­gen für Beam­te aus­ge­nom­men. Die für Beam­te vorgesehenen

Buß­geld gänz­lich ableh­nend Bay­reu­ther, NZA 2023, 193, 199. 19 Dazu näher Wertheimer/Meißner, in: Hartmer/Detmer (Hrsg.),

Hoch­schul­recht, 4. Aufl. 2022, Kapi­tel 11 Rn. 78 f.
20 BAG, Beschl. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Leit-

satz 1 und Rn. 56.
21 Adam, For­schung & Leh­re 2023, 118, 119; Wertheimer/Meißner,

in: Hartmer/Detmer (Hrsg.), Hoch­schul­recht, 4. Aufl. 2022, Kapi-

tel 11 Rn. 72.
22 Vgl. z.B. § 45 Abs. 2 Satz 2 LHG BaWü; Art. 60 Abs. 1 Satz 1

Bay­HIG; § 102 Abs. 3 Satz 1 BerlHG; s. für den Bund auch § 50 Abs. 1 Satz 3 HRG, nach dem die Vor­schrif­ten des BRRG über die Arbeits­zeit mit Aus­nah­me der §§ 44a und 44b auf Hoch­schul­leh- rerin­nen und Hoch­schul­leh­rer nicht anzu­wen­den sind.

Cas­pers · Arbeits­zeit­er­fas­sung an Hoch­schu­len 1 0 1

102 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 99–106

Bestim­mun­gen über die täg­li­che und wöchent­li­che Höchst­ar­beits­zeit sowie die Ruhezeiten23 gel­ten für die­se nicht. Es ist auch nicht vor­ge­schrie­ben, für wie vie­le Stun­den ein Pro­fes­sor und wann er zu arbei­ten hat.24 Für ange­stell­te Pro­fes­so­ren machen die ein­schlä­gi­gen Hoch- schul­ge­set­ze von der Öff­nung des § 19 ArbZG Ge- brauch,25 nach dem bei der Wahr­neh­mung hoheit­li­cher Auf­ga­ben im öffent­li­chen Dienst, soweit kei­ne tarif­ver- trag­li­che Rege­lung besteht, durch die zustän­di­ge Dienst- behör­de die für Beam­te gel­ten­den Bestim­mun­gen über die Arbeits­zeit auf die Arbeit­neh­mer über­tra­gen wer­den kön­nen. Gem. § 1 Abs. 3 Buchst. a) TV‑L sind Hoch- schul­leh­rer aus dem Gel­tungs­be­reich des TV‑L aus­ge- nom­men. Die §§ 3–13 ArbZG fin­den inso­weit kei­ne Anwendung.

Mit dem Recht der Pro­fes­so­ren, die Zeit der Erfül- lung ihrer Dienst­auf­ga­ben im Rah­men der selb­stän­di­gen Auf­ga­ben­wahr­neh­mung selbst bestim­men zu kön­nen, tra­gen die Hoch­schul­ge­set­ze dem Umstand Rech­nung, dass Zeit­sou­ve­rä­ni­tät eine wesent­li­che Vor­aus­set­zung für wis­sen­schaft­li­ches Arbei­ten ist. Es geht dar­um, die für das wis­sen­schaft­li­che Arbei­ten erfor­der­li­che Krea­ti- vität zu wah­ren und zu fördern.26 Inso­weit spricht viel dafür, dass eine detail­lier­te Rege­lung der Arbeits­zeit von Pro­fes­so­ren – unbe­scha­det der Lehr­ver­pflich­tung – ge- gen Art. 5 Abs. 3 GG ver­sto­ßen würde.27

Die Her­aus­nah­me der Pro­fes­so­ren aus dem Arbeits- zeit­schutz ist auch nach dem Uni­ons­recht zuläs­sig. So ist bereits zwei­fel­haft, ob sie dem für die RL 2003/88/EG maßgeblichen28 uni­ons­recht­li­chen Arbeit­neh­mer­be­griff über­haupt unter­fal­len, wel­cher als wesent­li­ches Merk- mal vor­aus­setzt, dass jemand wäh­rend einer bestimm­ten Zeit für einen ande­ren nach des­sen Wei­sung Leis­tun­gen erbringt, für die er als Gegen­leis­tung eine Ver­gü­tung er- hält.29 Selbst wenn man dies aber annimmt, so ist die He- raus­nah­me durch Art. 17 Abs. 1 RL 2003/88/EG ge- deckt,30 da Pro­fes­so­ren im Sin­ne der Vor­schrift ihre Ar- beits­zeit selbst fest­le­gen kön­nen. Zwar erlaubt

  1. 23  Vgl. z.B. § 67 LBG BaWü iVm. § 4 und §§ 7–11 der Arbeits­zeit- und Urlaubs­ver­ord­nung (AzU­VO) BaWü; Art. 87 Abs. 1 BayBG iVm. Art. 2 und 3 der Ver­ord­nung über die Arbeits­zeit für den baye­ri­schen öffent­li­chen Dienst (BayAzV).
  2. 24  Grzes­zick, in: Geis (Hrsg.), Hoch­schul­recht im Frei­staat Bay­ern, 2. Aufl. 2017, Kapi­tel 3 Rn. 234.
  3. 25  Wertheimer/Meißner, in: Hartmer/Detmer (Hrsg.), Hoch­schul- recht, 4. Aufl. 2022, Kapi­tel 11 Rn. 72.
  4. 26  Det­mer, in: Hartmer/Detmer (Hrsg.), Hoch­schul­recht, 4. Aufl. 2022, Kapi­tel 4 Rn. 209; Grzes­zick, in: Geis (Hrsg.), Hoch­schul- recht im Frei­staat Bay­ern, 2. Aufl. 2017, Kapi­tel 3 Rn. 234 f.
  5. 27  Grzes­zick, in: Geis (Hrsg.), Hoch­schul­recht im Frei­staat Bay­ern,
    2. Aufl. 2017, Kapi­tel 3 Rn. 235; Leche­ler, PersV 1990, 299, 300 ff.; Wal­dey­er, in: Geis (Hrsg.), Hoch­schul­recht in Bund und Län­dern, Stand 12/2016, § 50 HRG Rn. 8; vgl. auch Epping, ZBR 1997, 383,

Art. 17 Abs. 3 Buchst. c) vi) RL 2003/88/EG für For- schungs- und Ent­wick­lungs­tä­tig­kei­ten Abwei­chun­gen von den Art. 3 bis 5 sowie 8 und 16 der Richt­li­nie nur un- ter der Vor­aus­set­zung, dass die Tätig­kei­ten dadurch ge- kenn­zeich­net sind, dass die Kon­ti­nui­tät des Diens­tes oder der Pro­duk­ti­on gewähr­leis­tet sein muss, und auch nur dann, wenn die betrof­fe­nen Arbeit­neh­mer gleich- wer­ti­ge Aus­gleichs­ru­he­zei­ten oder in Aus­nah­me­fäl­len, in denen die Gewäh­rung sol­cher gleich­wer­ti­ger Aus- gleichs­ru­he­zei­ten aus objek­ti­ven Grün­den nicht mög­lich ist, einen ange­mes­se­nen Schutz erhal­ten (Art. 17 Abs. 2 RL 2003/88/EG). Auch wird durch Art. 17 Abs. 3 Buchst. c) vi) RL 2003/88/EG nicht von der Ein­hal­tung der durch- schnitt­li­chen wöchent­li­chen Höchst­ar­beits­zeit von 48 Stun­den gem. Art. 6 Buchst. b) RL 2003/88/EG dis­pen- siert. Eine Sper­re, im Bereich von Wis­sen­schaft und For- schung wei­ter­ge­hen­de Abwei­chun­gen nach Maß­ga­be des Art. 17 Abs. 1 RL 2003/88/EG vor­zu­se­hen, ist damit aber nicht ver­bun­den. Indem der EuGH – wenn auch in ei- nem ande­ren Kon­text – Art. 17 Abs. 1 und 3 RL 2003/88/ EG in der­sel­ben Ent­schei­dung nach­ein­an­der prüft,31 macht er deut­lich, dass ein Exklu­si­vi­täts­ver­hält­nis nicht besteht. Zudem muss auch Art. 17 RL 2003/88/EG im Lich­te der Wis­sen­schafts­frei­heit aus­ge­legt wer­den, die das Uni­ons­recht mit Art. 13 GRCh schützt. Infol­ge der wirk­sa­men Her­aus­nah­me von Pro­fes­so­ren aus dem Ar- beits­zeit­recht durch die Hoch­schul­ge­set­ze besteht nach alle­dem kei­ne Pflicht, deren Arbeits­zeit zu erfas­sen. Dies alles ist auch sach­ge­recht, da Pro­fes­so­ren im Rah­men der selb­stän­di­gen Auf­ga­ben­wahr­neh­mung auf den Schutz ihrer Gesund­heit bei der indi­vi­du­el­len Ges­tal- tung ihrer Arbeits­zeit selbst acht­ge­ben können.

Für das übri­ge wis­sen­schaft­li­che Per­so­nal ist eine ge- nere­l­le Abwei­chung vom Arbeits­zeit­recht nicht vor­ge­se- hen. Wis­sen­schaft­li­che Ange­stell­te wer­den als Arbeit- neh­mer von § 2 Abs. 2 ArbZG und damit von dem in den §§ 3 ff. ArbZG gere­gel­ten Arbeits­zeit­schutz erfasst. Die Son­der­re­ge­lung des § 14 Abs. 2 Nr. 2 ArbZG, nach der

389; a.A. Wied­mann, in: Haug (Hrsg.), Das Hoch­schul­recht in

Baden-Würt­tem­berg, 2001, Rn. 1063.
28 Vgl. inso­weit EuGH, Urt. v. 14.10.2010 – C‑428/09 – Union

syn­di­cale Solidai­res Isè­re, Slg. 2010, I‑9963 Rn. 28; Gall­ner, in: Franzen/Gallner/Oetker, Kom­men­tar zum euro­päi­schen Arbeits- recht, 4. Aufl. 2022, Art. 1 RL 2003/88/EG Rn. 49 ff.

29 EuGH, Urt. v. 3.7.1986 – Rs. 66/85 – Lawrie Blum, Slg. 1986, 2121, 2139 Rn. 17; Stein­mey­er, in: Franzen/Gallner/Oetker, Kom­men­tar zum euro­päi­schen Arbeits­recht, 4. Aufl. 2022, Art. 45 AEUV Rn. 10 ff. m.w.N.

30 Eben­so Adam, For­schung & Leh­re 2023, 118, 119.
31 EuGH, Urt. v. 14.10.2010 – C‑428/09 – Uni­on syn­di­cale So-

lidai­res Isè­re, Slg. 2010, I‑9963 Rn. 39 ff. zum Aus­schluss des Anspruchs auf eine täg­li­che Mindestruhezeit.

von den §§ 3 bis 5, 6 Abs. 2, 7, 11 Abs. 1 bis 3 und § 12 ArbZG bei For­schung und Leh­re, bei unauf­schieb- baren Vor- und Abschluss­ar­bei­ten sowie bei unauf- schieb­ba­ren Arbei­ten zur Behand­lung, Pfle­ge und Be- treu­ung von Per­so­nen oder zur Behand­lung und Pfle­ge von Tie­ren an ein­zel­nen Tagen abge­wi­chen wer­den darf, wenn dem Arbeit­ge­ber ande­re Vor­keh­run­gen nicht zu- gemu­tet wer­den kön­nen, erfasst nur Aus­nah­me­fäl­le. Es wird eine beson­de­re Situa­ti­on ver­langt, die bei­spiels­wei- se dann gege­ben ist, wenn län­ger­dau­ern­de Ver­suchs­rei- hen zu betreu­en sind, Expe­ri­men­te wegen beson­ders güns­ti­ger Bedin­gun­gen nur zu bestimm­ten Zei­ten durch­ge­führt wer­den kön­nen oder über einen ver- gleichs­wei­se kur­zen Zeit­raum einen erhöh­ten Arbeits- anfall erfor­dern, der nur von bestimm­ten qua­li­fi­zier­ten Arbeit­neh­mern geleis­tet wer­den kann.32 Mit der Bestim- mung des § 14 Abs. 2 Nr. 2 ArbZG ver­folgt der Gesetz­ge- ber das Ziel, ein aus­ge­wo­ge­nes Ver­hält­nis zwi­schen den spe­zi­fi­schen Belan­gen der For­schung und dem Gesund- heits­schutz der Arbeit­neh­mer zu gewährleisten.33 Eine pau­scha­le Frei­stel­lung von den Anfor­de­run­gen des Ar- beits­zeit­schut­zes im Bereich von For­schung und Leh­re wird durch sie nicht bewirkt.34 Von der auf die uni­ons- rechts­kon­for­me Aus­le­gung der Rah­men­vor­schrift des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG gestütz­ten Arbeits­zeit­er­fas- sungs­pflicht befreit § 14 Abs. 2 ArbZG den Arbeit­ge­ber nicht, weil der Arbeits­zeit­schutz im Nor­mal­fall zu beach- ten ist und § 14 Abs. 3 ArbZG zudem ver­langt, dass die Arbeits­zeit 48 Stun­den wöchent­lich im Durch­schnitt von sechs Kalen­der­mo­na­ten oder 24 Wochen nicht über- schrei­tet, wenn von den Befug­nis­sen des § 14 Abs. 2 ArbZG Gebrauch gemacht wird. Dies setzt vor­aus, dass die An- zahl der von dem jewei­li­gen Arbeit­neh­mer geleis­te­ten Arbeits­stun­den bekannt ist.

Für Beam­te, z.B. aka­de­mi­sche Räte, gel­ten die jewei- ligen Bestim­mun­gen zur Arbeits­zeit von Beam­ten. In- wie­weit für die­se auf­grund uni­ons­rechts­kon­for­mer Aus- legung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG bereits de lege lata eine Pflicht zur Erfas­sung der Arbeits­zeit durch den Dienst­herrn besteht, ist offen, da noch nicht fest­steht, ob die Ver­wal­tungs­ge­richts­bar­keit dem BAG folgt.

  1. 32  Baeck/Deutsch/Winzer, Arbeits­zeit­ge­setz, 4. Aufl. 2020, § 14 ArbZG Rn. 32; Neumann/Biebl, Arbeits­zeit­ge­setz, 16. Aufl. 2013, § 14 ArbZG Rn. 16.
  2. 33  Vgl. BT-Drucks. 12/5888, 31 und BT-Drucks. 12/6990, 44.
  3. 34  Baeck/Deutsch/Winzer, Arbeits­zeit­ge­setz, 4. Aufl. 2020, § 14ArbZG Rn. 31.
  4. 35  EuGH, Urt. v. 14.5.2019 – C‑55/18 – CCOO, NZA 2019, 683

2. Umset­zung

Nach dem Urteil des EuGH in der Rechts­sa­che CCOO müs­sen die Mit­glied­staa­ten die Arbeit­ge­ber nur ver- pflich­ten, ein objek­ti­ves, ver­läss­li­ches und zugäng­li­ches Sys­tem ein­zu­füh­ren, mit dem die von den Arbeit­neh- mern geleis­te­te täg­li­che Arbeits­zeit gemes­sen wer­den kann.35 Solan­ge der Gesetz­ge­ber kei­ne kon­kre­ti­sie­ren­den Rege­lun­gen getrof­fen hat, besteht auch nach Auf­fas­sung des BAG ein erheb­li­cher Umset­zungs­spiel­raum. So ist es nicht aus­ge­schlos­sen, die tat­säch­lich geleis­te­ten Arbeits- stun­den im Rah­men eines vom Arbeit­ge­ber ein­ge­führ- ten Sys­tems vom Arbeit­neh­mer selbst doku­men­tie­ren zu las­sen, also an die­sen zu delegieren.36 Auch bedarf es nicht zwin­gend einer elek­tro­ni­schen Zeit­er­fas­sung, viel- mehr kön­nen – je nach Tätig­keit und Unter­neh­men – Auf­zeich­nun­gen in Papier­form genügen.37 Die Auf­zeich- nung der Arbeits­zeit kann dem­nach auch in einem hand­schrift­li­chen Ver­merk des Arbeit­neh­mers bestehen, der es dem Arbeit­ge­ber und den Arbeits­be­hör­den ermög­licht, die Ein­hal­tung der Ruhe- und Höchstar- beits­zei­ten stich­pro­ben­ar­tig zu kon­trol­lie­ren und der auch den Arbeit­neh­mer in die Lage ver­setzt, sein Recht auf Ein­hal­tung der täg­li­chen und wöchent­li­chen Höchst- arbeits­zeit sowie der Ruhe­zei­ten gegen­über dem Arbeit- geber gel­tend zu machen.38 Eine Wei­sung des Arbeit­ge- bers gegen­über dem Arbeit­neh­mer, sei­ne Arbeits­zei­ten zu doku­men­tie­ren, kommt z.B. bei Arbei­ten im Außen- dienst, aber auch bei fle­xi­blen Arbeits­zeit­mo­del­len wie der Ver­trau­ens­ar­beits­zeit in Betracht, bei denen eine Doku­men­ta­ti­on durch den Arbeit­ge­ber häu­fig gar nicht prak­ti­ka­bel ist.39 Dar­über hin­aus kann wirk­sam im Arbeits­ver­trag ver­ein­bart wer­den, dass der Arbeit­neh- mer über sei­ne täg­li­che Arbeits­zeit Auf­zeich­nun­gen zu füh­ren und die­se bei dem Arbeit­ge­ber ein­zu­rei­chen hat.40

Ver­trau­ens­ar­beits­zeit wird gera­de an den Hoch­schu- len viel­fach prak­ti­ziert. Beim Ein­satz des wis­sen­schaft­li- chen Per­so­nals bie­tet sie sich gera­de­zu an. Bei der Ver- trau­ens­ar­beits­zeit hat der Mit­ar­bei­ter die Mög­lich­keit, die ver­trag­lich geschul­de­te Arbeits­men­ge inner­halb der

Rn. 60.
36 BAG, Beschl. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rn. 65. 37 BAG, Beschl. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rn. 65. 38 Thüsing/Flink/Jänsch, ZFA 2019, 456, 472.
39 Rein­hard, NZA 2019, 1313, 1315 f., 1318; Thüsing/Flink/Jänsch,

ZFA 2019, 456, 472.
40 BAG, Urt. v. 18.4.2012 – 5 AZR 248/11, NZA 2012, 998 Rn. 17.

Cas­pers · Arbeits­zeit­er­fas­sung an Hoch­schu­len 1 0 3

104 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 99–106

durch das Arbeits­zeit­recht gezo­ge­nen Gren­zen nach sei- nen Prä­fe­ren­zen selbst zu orga­ni­sie­ren. Der Arbeit­ge­ber ver­zich­tet auf die Fest­le­gung von Beginn und Ende der täg­li­chen Arbeits­zeit und ver­traut dar­auf, dass der be- tref­fen­de Arbeit­neh­mer sei­ne Arbeits­pflicht unter Ein- hal­tung der Arbeits­zeit­vor­ga­ben auch ohne Kon­trol­le er- füllt.41 Die Ver­pflich­tung des Arbeit­neh­mers, Arbeits­zeit in einem nach Stun­den bemes­se­nen Umfang abzu­leis- ten, ent­fällt durch eine sol­che Ver­ein­ba­rung nicht.42 Auch ent­bin­det sie den Arbeit­ge­ber nicht von der Ein- hal­tung des ArbZG.43 Unter die­sen Vor­aus­set­zun­gen bleibt Ver­trau­ens­ar­beits­zeit nach dem Beschluss des BAG zur Arbeits­zeit­er­fas­sung wei­ter­hin möglich.44 Wird die Doku­men­ta­ti­on der eige­nen Arbeits­zeit an den Ar- beit­neh­mer dele­giert, darf davon aus­ge­gan­gen wer­den, dass sich der Arbeit­neh­mer an eine ent­spre­chen­de Wei- sung des Arbeit­ge­bers hält. Bestehen im Ein­zel­fall An- halts­punk­te, dass der Arbeit­neh­mer die zuläs­si­ge Höchst­ar­beits­zeit über­schrei­tet, die Min­destru­he­zeit nicht beach­tet oder bei der Arbeits­zeit­do­ku­men­ta­ti­on mani­pu­liert, muss der Arbeit­ge­ber einschreiten.45

Die Aus­ge­stal­tung der Arbeits­zeit­er­fas­sung unter- liegt für die Per­so­nal­ka­te­go­rien, die an den staat­li­chen Hoch­schu­len vom jeweils ein­schlä­gi­gen Per­so­nal­vert­re- tungs­recht und im Bereich der Hoch­schu­len in pri­va­ter Trä­ger­schaft vom BetrVG erfasst wer­den, der Mit­be- stim­mung der Per­so­nal- bzw. Betriebsräte.46 Für von der Arbeits­zeit­er­fas­sungs­pflicht erfass­te Arbeits­ver­hält­nis­se im Anwen­dungs­be­reich des BetrVG hat dies das BAG für das Mit­be­stim­mungs­recht gem. § 87 Abs. 1 Nr. 7 Be- trVG über den Arbeits- und Gesund­heits­schutz klar aus- gespro­chen. Solan­ge und soweit der Gesetz­ge­ber den ihm zuste­hen­den Spiel­raum bei der Aus­ge­stal­tung der uni­ons­recht­li­chen Arbeits­zeit­er­fas­sungs­pflicht nicht aus­ge­übt habe, könn­ten die Betriebs­par­tei­en und – im Fall ihrer feh­len­den Eini­gung – die Eini­gungs­stel­le nach Maß­ga­be des § 87 Abs. 2 BetrVG ent­spre­chen­de Rege- lun­gen tref­fen. Ihnen kom­me ins­be­son­de­re ein Ges­tal- tungs­spiel­raum dahin­ge­hend zu, in wel­cher Art und

  1. 41  Zum Begriff der Ver­trau­ens­ar­beits­zeit BAG, Urt. v. 24.5.2012 – 2 AZR 124/11, NZA 2012, 1223 Rn. 34; BAG, Urt. v. 23.9.2015 – 5 AZR 767/13, NZA 2016, 295 Rn. 31; BAG, Urt. v. 26.6.2019 – 5 AZR 452/18, NZA 2019, 1361 Rn. 30; Schü­ren, in: Mün­che­ner Hand­buch zum Arbeits­recht, Indi­vi­du­al­ar­beits­recht I, 5. Aufl. 2021, § 47 Rn. 23 ff.; Vogel­sang, in: Schaub (Begr.), Arbeits­rechts- Hand­buch, 19. Aufl. 2021, § 160 Rn. 33 ff.
  2. 42  BAG, Urt. v. 15.5.2013 – 10 AZR 325/12, NZA-RR 2014, 519
    Rn. 26; Höpfner/Daum, RdA 2019, 270, 279; Vogel­sang, in: Schaub (Begr.), Arbeits­rechts-Hand­buch, 19. Aufl. 2021, § 160 Rn. 34.
  3. 43  Höpfner/Daum, RdA 2019, 270, 279; Rein­hard, NZA 2019, 1313, 1318.
  4. 44  Bay­reu­ther, NZA 2023, 193, 195; Kleinebrink/Schomburg,

Wei­se – ggfs. dif­fe­ren­ziert nach der Art der von den Ar- beit­neh­mern aus­ge­üb­ten Tätig­kei­ten – die Erfas­sung von Beginn und Ende der Arbeits­zeit im Betrieb zu er- fol­gen habe.47

Im Per­so­nal­ver­tre­tungs­recht kommt es dar­auf an, in wel­chem Umfang das ein­schlä­gi­ge Per­so­nal­vert­re- tungs­ge­setz das wis­sen­schaft­li­che Per­so­nal der Mit­be- stim­mung unter­stellt. Wäh­rend bei­spiels­wei­se Art. 4 Abs. 4 Buchst. a) BayPVG aka­de­mi­sche Räte und Ober­rä­te nach Art. 73 Abs. 3 Bay­HIG schon nicht zu denBeschäftigtenimSinnedesBayPVGzählt,weshalb der Per­so­nal­rat für sie auch kei­ne Mit­be­stim­mungs- rech­te aus­üben kann, sind sons­ti­ge Beschäf­tig­te mit vor­wie­gend wis­sen­schaft­li­cher oder künst­le­ri­scher Tä- tig­keit sowie wis­sen­schaft­li­che und künst­le­ri­sche Mit- arbei­ter und Lehr­kräf­te für beson­de­re Auf­ga­ben gem. Art. 78 Abs. 1 Nr. 6 BayPVG ledig­lich von bestimm- ten,ausdrücklichgenanntenBeteiligungsrechtender Per­so­nal­ver­tre­tung aus­ge­nom­men. Der in Art. 75 Abs. 4 Satz 1 Nr. 8 BayPVG gere­gel­te Mit­be­stim- mungs­tat­be­stand über Maß­nah­men zur Ver­hü­tung von Dienst- und Arbeits­un­fäl­len und sons­ti­gen Gesund- heits­schä­di­gun­gen zählt nicht dazu.48 Es ist auch nicht davon aus­zu­ge­hen, dass die Frei­heit von For­schung und Leh­re zu Ein­schrän­kun­gen der Mit­be­stim­mung bei der Aus­ge­stal­tung der Arbeits­zeit­er­fas­sung führt. Zwar sind Ein­schrän­kun­gen von Betei­li­gungs­rech­ten durch­aus aner­kannt, wenn eine Ent­schei­dung oder Maß­nah­me unmit­tel­bar Fra­gen der For­schung und Leh­re berührt, wie dies z.B. bei der Anord­nung von Über­stun­den zum Abschluss einer Ver­suchs­rei­he in Betracht kom­men kann. Das Mit­be­stim­mungs­recht wird dann auf eine blo­ße Anhö­rung und Erör­te­rung redu- ziert.49 Dass eine Erfas­sung der tat­säch­lich geleis­te­ten Arbeits­stun­den, mit der die Ein­hal­tung der gesetz­li­chen Vor­schrif­ten über die täg­li­che und wöchent­li­che Höchst- arbeits­zeit sowie die Ruhe­zei­ten zum Schutz der Gesund- heit der Arbeit­neh­mer sicher­ge­stellt wer­den soll, unmit- tel­bar Fra­gen von For­schung und Leh­re berührt,

DB 2023, 77; Schreiner/Stephan, DB 2023, 197, 199.
45 Cas­pers, ZFA 2022, 488, 508; Thüsing/Flink/Jänsch, ZFA 2019,

456, 472.
46 All­ge­mein zur Ver­tre­tung der in der Wis­sen­schaft Beschäftigten

durch Per­so­nal­rä­te Wertheimer/Meißner, in: Hartmer/Detmer

(Hrsg.), Hoch­schul­recht, 4. Aufl. 2022, Kapi­tel 11 Rn. 364 ff., 373. 47 BAG, Beschl. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rn. 66. 48 Vgl. z.B. für Baden-Würt­tem­berg §§ 99 Abs. 2 Nr. 1, 74 Abs. 2 Nr.

7 PVG BaWü.
49 Wertheimer/Meißner, in: Hartmer/Detmer (Hrsg.), Hochschul-

recht, 4. Aufl. 2022, Kapi­tel 11 Rn. 378 und Rn. 389 ff. zum Ten­denz­schutz in der Betriebsverfassung.

erscheint mir aber fern­lie­gend zu sein. Auf der ande­ren Sei­te ist – wie schon aus­ge­führt – offen, ob die Ver­wal- tungs­ge­rich­te der Recht­spre­chung des BAG zur Arbeits- zeit­er­fas­sungs­pflicht über­haupt fol­gen werden.

III. Aus­blick

Die Umset­zung der aus dem Uni­ons­recht abge­lei­te­ten Pflicht zur Arbeits­zeit­er­fas­sung ist Auf­ga­be des Gesetz- gebers. Dar­an hat der Beschluss des BAG vom 13.9.2022 nichts geändert.50 Im Koali­ti­ons­ver­trag vom 7.12.2021 hat sich die „Ampel­ko­ali­ti­on“ zum The­ma Arbeits­zeit u.a. vor­ge­nom­men, im Dia­log mit den Sozi­al­part­nern zu prü­fen, wel­chen Anpas­sungs­be­darf sie ange­sichts der Recht­spre­chung des EuGH zum Arbeits­zeit­recht sieht.„Dabei müs­sen fle­xi­ble Arbeits­zeit­mo­del­le (z.B. Ver­trau- ens­ar­beits­zeit) wei­ter­hin mög­lich sein.“51 Die „Ampel­koa- liti­on“ soll­te dies zum Anlass einer umfas­sen­den Über­ar- bei­tung des ArbZG neh­men, die den Anfor­de­run­gen der digi­ta­len Arbeits­welt, die auch an Hoch­schu­len in erheb- lichem und zuneh­men­dem Maße exis­tiert, sowie den uni­ons­recht­li­chen Vor­ga­ben und Spiel­räu­men, die die

Arbeits­zeit­richt­li­nie für eine Fle­xi­bi­li­sie­rung der Arbeits­zeit lässt, bes­ser Rech­nung trägt. Bei­spiels­wei­se soll­te die Begren­zung der täg­li­chen Arbeits­zeit nach § 3 ArbZG zu Guns­ten einer Rege­lung über die wöchent- liche Höchst­ar­beits­zeit auf­ge­ge­ben werden.52 Für Arbeit- neh­mer ist die Arbeits­zeit­er­fas­sungs­pflicht rich­ti­ger­wei- se im ArbZG und nicht im ArbSchG zu regeln. Zur Umset­zung der Vor­ga­ben des EuGH zur Erfas­sung der Arbeits­zeit von Beam­ten sind schließ­lich neben dem Bund vor allem die Län­der auf­ge­ru­fen. Eine Doku­men- tati­on der geleis­te­ten Arbeits­zeit durch die Beschäf­tig­ten selbst soll­te auch wei­ter­hin mög­lich sein. Auch soll­te auf die gesetz­ge­be­ri­sche Vor­ga­be einer elek­tro­ni­schen Arbeits­zeit­er­fas­sung ver­zich­tet wer­den, um eine mög- lichst ein­heit­li­che, ein­fa­che und prak­ti­ka­ble Lösung für sämt­li­che Arbeits­ver­hält­nis­se sicherzustellen.

Der Autor ist Inha­ber des Lehr­stuhls für Bür­ger­li­ches Recht und Arbeits­recht am Fach­be­reich Rechts­wis­sen- schaft der Fried­rich-Alex­an­der-Uni­ver­si­tät Erlan­gen- Nürn­berg (FAU).

  1. 50  Löwisch, https://page.fachmedien.de/wordpress/rechts- boar­d/2022/12/09/um­set­zung-der-arbeits­zeit­er­fas­sungs­pflicht- bleibt-auf­ga­be-des-gesetz­ge­ber­s/ (letz­ter Zugriff am 8.3.2023).
  2. 51  Koali­ti­ons­ver­trag zwi­schen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP v. 7.12.2021, https://www.bundesregierung.de/breg-de/

service/gesetzesvorhaben/koalitionsvertrag-2021–1990800, S. 68

(letz­ter Zugriff am 8.3.2023).
52 Statt vie­ler Günther/Böglmüller, NZA 2015, 1025, 1028; Jacobs,

in: FS Pla­ge­mann, 2020, 651, 655 ff.; ders., NZA 2016, 733, 736; Stef­fan, NZA 2015, 1409, 1415.

Cas­pers · Arbeits­zeit­er­fas­sung an Hoch­schu­len 1 0 5

106 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 99–106

Über­sicht

A. Ein­lei­tung

B. Der zu beur­tei­len­de Sachverhalt

C. Die recht­li­che Aus­gangs­la­ge nach dem Landeshochschulgesetz

I. Hoch­schul­recht­li­che Lehr­ver­pflich­tung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 LHG

II. Die zeit­li­che Kon­kre­ti­sie­rung der Lehr­ver­pflich­tung D. Die Entscheidungsgründe

I. Rich­ti­ger Kla­ge­geg­ner im Streit um beam­ten­recht­li­che Dienst- pflichten

II. Erfor­der­lich­keit einer taug­li­chen Ermäch­ti­gungs­grund­la­ge III. Feh­len einer taug­li­chen Ermäch­ti­gungs­grund­la­ge
1. Hoch­schul­in­ter­ne Hin­wei­se oder Ver­wal­tungs­vor­schrif­ten 2. Begriff der Semes­ter­wo­chen­stun­de und Zweck des

§ 44 Abs. 4 Satz 1 LHG
3. Wei­te­re Bestim­mun­gen der Lehr­ver­pflich­tungs­ver­ord­nung 4. Lehr­ver­pflich­tungs­ver­ord­nung und Landeshochschulgesetz

E. Schluss und Ausblick

A. Ein­lei­tung

Hoch­schul­leh­re­rin­nen und Hoch­schul­leh­rer sind in der Wahr­neh­mung ihrer Dienst­auf­ga­ben weit­ge­hend frei. Zugleich sind die ihnen gesetz­lich zuge­wie­se­nen Auf­ga- ben viel­fäl­tig und betref­fen neben der Selbst­ver­wal­tung der Hoch­schu­le sowohl die wis­sen­schaft­li­che For­schung als auch die Leh­re. Natur­ge­mäß ste­hen die­se Auf­ga­ben hin­sicht­lich ihres zeit­li­chen Umfangs mit­ein­an­der im Kon­flikt. Je mehr Zeit von den Hoch­schul­leh­re­rin­nen und Hoch­schul­leh­rern etwa für die Leh­re auf­zu­brin­gen ist, des­to weni­ger Kapa­zi­tät besteht für selbst­be­stimm­te wis­sen­schaft­li­che For­schung. Anders als die Aufgaben

  1. 1  VG Frei­burg, Urteil vom 08.10.2021 — 1 K 2327/19 -, juris; vgl. auch die Bespre­chung von Witz­nick, OdW 2023, 39 ff.
  2. 2  VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.12.2022 — 9 S 3751/21 -, juris.

aus dem Bereich der Hoch­schul­selbst­ver­wal­tung und der wis­sen­schaft­li­chen For­schung ist die Ver­pflich­tung zur Leh­re in beson­de­rer Wei­se zeit­lich kon­kre­ti­siert. Sie ver- pflich­tet näm­lich zum Abhal­ten von Lehr­ver­an­stal­tun- gen, die im jewei­li­gen Semes­ter zu bestimm­ten Zeit- punk­ten statt­fin­den sol­len. Dies wirft die Fra­ge auf, wel- che Fol­gen es für die Erfül­lung der Lehr­ver­pflich­tung hat, wenn der oder die betref­fen­de Hochschullehrer/in unver- schul­det an der Erbrin­gung der zeit­lich kon­kre­ti­sier­ten Lehr­ver­pflich­tung gehin­dert ist. Die­se Fra­ge hat zuletzt immer wie­der die Ver­wal­tungs­ge­richts­bar­keit beschäf- tigt. So hat­te etwa das Ver­wal­tungs­ge­richt Frei­burg über die Anrech­nung einer Lehr­ver­an­stal­tung auf die Lehr- ver­pflich­tung zu ent­schei­den, wenn die Ver­an­stal­tung in Erman­ge­lung des Inter­es­ses der Stu­die­ren­den nach weni- gen Ter­mi­nen nicht mehr besucht wur­de und hat der Kla­ge des Hoch­schul­leh­rers auf Fest­stel­lung der Erfül- lung der Lehr­ver­pflich­tung stattgegeben.1 Die vom Ver- wal­tungs­ge­richt Frei­burg zuge­las­se­ne und vom beklag­ten Land ein­ge­leg­te Beru­fung hat der Ver­wal­tungs­ge­richts- hof Baden-Würt­tem­berg zurückgewiesen.2 Bereits zuvor hat­te das Ver­wal­tungs­ge­richt Karls­ru­he dar­über zu ent- schei­den, ob ein krank­heits­be­dingt dienst­un­fä­hi­ger Hoch­schul­leh­rer die auf­grund des­sen nicht von ihm abge­hal­te­nen Lehr­ver­an­stal­tun­gen im fol­gen­den Semes- ter zusätz­lich zu sei­ner regu­lä­ren Lehr­ver­pflich­tung „nach­zu­ar­bei­ten“ hat.3 Es hat in sei­ner Ent­schei­dung zen- tra­le Grund­sät­ze zur Erfül­lung der Lehr­ver­pflich­tung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 LHG BW her­aus­ge­ar­bei­tet, die über den kon­kre­ten Fall hin­aus erheb­li­che Bedeu­tung für den Umgang mit Fra­gen der Erfül­lung der Lehr­ver­pf­lich- tung in der hoch­schul­recht­li­chen Pra­xis haben werden.

3 VG Karls­ru­he, Urteil vom 14.12.2020 — 11 K 1503/19 -, juris; vgl. auch Bespre­chung von Lin­ke, NVwZ 2021, 1834.

Felix Horn­fi­scher

Zur Reich­wei­te der Lehr­ver­pflich­tung nach
§ 46 Abs. 2 Satz 1 LHG BW i.V.m. der Lehr­ver­pflich­tungs­ver­ord­nung.
Zugleich Bespre­chung des Urteils des Ver­wal­tungs­ge- richts Karls­ru­he vom 14.12.2020 — 11 K 1503/19 -

Ord­nung der Wis­sen­schaft 2023, ISSN 2197–9197

108 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023),107–114

B. Der zu beur­tei­len­de Sachverhalt

Der Klä­ger, ein ver­be­am­te­ter Hoch­schul­leh­rer mit einem Lehr­de­pu­tat von 18 Semes­ter­wo­chen­stun­den, war in der Zeit vom 05.10.2015 bis zum 31.01.2016 dienst­un­fä­hig erkrankt. Die Vor­le­sungs­zeit im betref­fen­den Win­ter­se- mes­ter 2015/2016 fiel in den Zeit­raum vom 28.09.2015 bis zum 22.01.2016. Der Dekan des Fach­be­reichs teil­te dem Klä­ger im Som­mer­se­mes­ter 2016 nach des­sen Gene­sung zunächst mit, er sei aus dem Win­ter­se­mes­ter 2015/2016 mit einem nicht erfüll­ten Lehr­de­pu­tat von 11,5 Stun­den belas­tet, das er in den nächs­ten Jah­ren abbau­en müs­se. Spä­ter wur­de der Aus­stand auf­grund der Krank­mel­dung auf 7,3 Semes­ter­wo­chen­stun­den redu­ziert. In der Fol­ge- zeit ent­stand zwi­schen dem Klä­ger und dem Rek­to­rat der Hoch­schu­le Streit über das aus­ste­hen­de Lehr­de­pu­tat, in des­sen wei­te­ren Ver­lauf das Rek­to­rat die Lehr­ver- pflich­tungs­ab­rech­nungs­bö­gen des Klä­gers im Wege der Selbst­vor­nah­me aus­füll­te bzw. kor­ri­gier­te und u.a. einen Aus­stand von sechs Semes­ter­wo­chen­stun­den auf­grund der krank­heits­be­ding­ten Dienst­un­fä­hig­keit im Win­ter- semes­ter 2015/2016 ver­merk­te. Nach einem nur teil­wei­se erfolg­lo­sen Wider­spruchs­ver­fah­ren — der Aus­stand auf- grund der krank­heits­be­ding­ten Dienst­un­fä­hig­keit wur- de von sechs auf zwei Semes­ter­wo­chen­stun­den herun- ter­ge­setzt — erhob der Klä­ger Anfech­tungs­kla­ge, der das Ver­wal­tungs­ge­richt Karls­ru­he statt­gab und den Aus- gangs- und den Wider­spruchs­be­scheid auf­hob, soweit dar­in für den Klä­ger ein uner­füll­tes Lehr­de­pu­tat von zwei Semes­ter­wo­chen­stun­den aus dem Win­ter­se­mes­ter 2015/2016 fest­ge­setzt wor­den waren.

C. Die recht­li­che Aus­gangs­la­ge nach dem Lan­des­hoch- schul­ge­setz Baden-Württemberg

Bevor die Ent­schei­dungs­grün­de näher betrach­tet wer- den sol­len, ist zunächst die lan­des­recht­li­che Aus­gangs­la- ge zu beleuchten.

I. Hoch­schul­recht­li­che Lehr­ver­pflich­tung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 LHG

Die Dienst­auf­ga­ben der Hoch­schul­leh­re­rin­nen und
Hoch­schul­leh­rer bestim­men sich nach­schul­leh­rer­nach­nä­he­rer­Aus­ge­stal­tun­gih­res­Dienst­ver- § 46 Abs. 1 Satz 1 LHG i.V.m. § 2 LHG. Neben den in hält­nis­ses selb­stän­dig wahr, § 44 Abs. 1 Satz 1 LHG. § 46 Abs. 1 Satz 2 LHG auf­ge­führ­ten haupt­be­ruf­li­chen Beschlüs­se der zustän­di­gen Hoch­schul­or­ga­ne in Fragen

Auf­ga­ben, sind sie nach § 46 Abs. 2 Satz 1 LHG im Rah- men der für ihr Dienst­ver­hält­nis gel­ten­den Rege­lun­gen ver­pflich­tet, Lehr­ver­an­stal­tun­gen ihrer Fächer in allen Stu­di­en­gän­gen abzu­hal­ten. § 44 Abs. 4 Satz 1 LHG ent- hält eine Ver­ord­nungs­er­mäch­ti­gung des Wis­sen­schafts- minis­te­ri­ums, im Ein­ver­neh­men mit dem Innen­mi­nis­te- rium und dem Finanz­mi­nis­te­ri­um den Umfang der Lehr­ver­pflich­tung des haupt­be­ruf­li­chen wis­sen­schaft­li- chen Per­so­nals unter Berück­sich­ti­gung der unter­schied- lichen Auf­ga­ben­stel­lung der Hoch­schul­ar­ten und Dienst­ver­hält­nis­se, die Gewich­tung der Lehr­ver­an­s­tal- tungs­ar­ten sowie beson­de­re Betreu­ungs­pflich­ten durch Rechts­ver­ord­nung zu regeln. Hier­von ist mit Erlass der Ver­ord­nung des Wis­sen­schafts­mi­nis­te­ri­ums über die Lehr­ver­pflich­tun­gen an Uni­ver­si­tä­ten, Päd­ago­gi­schen Hoch­schu­len, Hoch­schu­len für ange­wand­te Wis­sen- schaf­ten und der Dua­len Hoch­schu­le (Lehr­ver­pf­lich- tungs­ver­ord­nung — LVVO) vom 03.09.2016 (GBl. S. 552), zuletzt geän­dert durch Ver­ord­nung vom 30.03.2021 (GBl. S. 378) Gebrauch gemacht gewor­den. An den Uni- ver­si­tä­ten, den Päd­ago­gi­schen Hoch­schu­len und den Hoch­schu­len für ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten wird der Umfang der Lehr­ver­pflich­tung in Semes­ter­wo­chen­stun- den bestimmt; eine Lehr­ver­an­stal­tungs­stun­de umfasst ein Lehr­an­ge­bot von einer Lehr­stun­de je Woche der Vor­le­sungs­zeit des Semes­ters (Semes­ter­wo­chen­stun­den; vgl. § 1 Abs. 2 Satz 1 und 2 LVVO). Für Pro­fes­so­rin­nen und Pro­fes­so­ren an Hoch­schu­len für ange­wand­te Wis- sen­schaf­ten sowie Beam­tin­nen, Beam­te, Rich­te­rin­nen und Rich­ter als haupt­amt­li­che Lehr­kräf­te an Hoch­schu- len für ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten gilt nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 LVVO eine Lehr­ver­pflich­tung von 18 Semes­ter­wo­chen­stun­den. Die von den ein­zel­nen Lehr- per­so­nen erbrach­ten Lehr­leis­tun­gen und die gewähr­ten Aus­nah­men sind in geeig­ne­ter Wei­se zu doku­men­tie­ren und nach § 24 Absatz 2 Satz 1 LHG von der Deka­nin oder dem Dekan, an der DHBW vom Prä­si­di­um, zu über­wa- chen, § 2 Abs. 10 LVVO.

II. Die zeit­li­che Kon­kre­ti­sie­rung der Lehrverpflichtung

Die ihrem zeit­li­chen Umfang nach vor­ge­ge­be­ne Lehrver-

pflich­tung­neh­men­die­Hoch­schul­leh­re­rin­nen­und­Hoch-

Horn­fi­scher · Zur Reich­wei­te der Lehr­ver­pflich­tung 1 0 9

der Leh­re sind inso­weit zuläs­sig, als sie sich auf die Orga- nisa­ti­on des Lehr­be­triebs und auf die Auf­stel­lung und Ein­hal­tung von Stu­di­en- und Prü­fungs­ord­nun­gen bezie- hen, § 3 Abs. 3 Satz 2 LHG.4 Sie haben im Rah­men der für ihr Dienst­ver­hält­nis gel­ten­den Rege­lun­gen die zur Sicher­stel­lung des Lehr­an­ge­bots getrof­fe­nen Entsch­ei- dun­gen der Hoch­schul­or­ga­ne zu ver­wirk­li­chen, § 46 Abs. 2 Satz 2 LHG. Ent­spre­chen­de Ent­schei­dun­gen über die inhalt­li­che, zeit­li­che und ört­li­che Koor­di­na­ti­on der von der Hoch­schu­le anzu­bie­ten­den Leh­re und über die Ver­tei­lung und Über­nah­me von Lehr­ver­pflich­tun- gen sind grund­sätz­lich zuläs­sig, weil die Leh­re zu den dienst­li­chen Pflich­ten der Hoch­schul­leh­rer gehört.5 Um eine sol­che Ent­schei­dung han­delt es sich, wenn die sich aus der Lehr­ver­pflich­tungs­ver­ord­nung erge­ben­de Lehr- ver­pflich­tung in Abstim­mung zwi­schen Hoch­schul­leh- rer und Hoch­schul­ver­wal­tung auf die in einem Semes­ter zu bestimm­ten Ter­mi­nen anzu­bie­ten­den Lehr­ver­an­s­tal- tun­gen kon­kre­ti­siert wird, die gege­be­nen­falls im Vor­le- sungs­ver­zeich­nis ange­kün­digt werden.6 Die Fest­le­gun- gen die­ser Lehr­ver­pflich­tun­gen füh­ren zugleich zu einer Regle­men­tie­rung der Arbeits­zeit und Arbeits­wei­se des wis­sen­schaft­li­chen Per­so­nals im Rah­men des Aus­bil- dungs­be­triebs der Hochschulen.7 Das Ver­wal­tungs­ge- richt Karls­ru­he lei­tet hier­aus ab, dass der Hoch­schul­leh- rer dann hin­sicht­lich der Erfül­lung sei­ner Lehr­ver­pf­lich- tung als Teil sei­ner Dienst­pflicht für das betref­fen­de Semes­ter sowohl zeit­lich als auch inhalt­lich gebun­den ist und sich hier­aus Prä­senz­pflich­ten in den Zeit­räu­men der kon­kre­ten Lehr­ver­an­stal­tun­gen ergeben.8 Im Übri­gen bleibt er in zeit­li­cher Hin­sicht bei der Erfül­lung sei­ner sons­ti­gen Dienst­pflich­ten nach § 46 Abs. 1 Satz 2 LHG ein­schließ­lich der Vor- und Nach­be­rei­tung der jewei­li- gen Lehr­ver­an­stal­tun­gen frei.

D. Die Entscheidungsgründe

I. Rich­ti­ger Kla­ge­geg­ner im Streit um beam­ten­recht­li- che Dienstpflichten

Unter dem Gesichts­punkt der Zuläs­sig­keit the­ma­ti­siert das Ver­wal­tungs­ge­richt unter ande­rem, gegen welchen

  1. 4  Vgl. auch Sand­ber­ger, Lan­des­hoch­schul­ge­setz Baden-Würt­tem- berg, 3. Auf­la­ge 2022, § 46 Rn. 7.
  2. 5  BVerfG, Beschluss vom 13.04.2010, 1 BvR 216/07 -,
    BVerfGE 126, 1; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 21.11.2017 — 9 S 1145/16 -, juris Rn. 44; vgl. auch § 3 Abs. 3 Satz 2 LHG sowie Sand­ber­ger (Fn. 4), § 3 Rn. 4.
  3. 6  Vgl. BVerwG, Urteil vom 26.09.2012 — 6 CN 1.11 -, juris Rn. 26.
  4. 7  BVerfG, Beschluss vom 03.06.1980 — 1 BvR 967/78 -, BVerfGE74, 173, 192; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 23.05.2006 — 4 S 1957/04 -, juris Rn. 26.

Rechts­trä­ger die vor­lie­gend statt­haf­te Anfech­tungs­kla­ge nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO zu rich­ten ist. Obgleich der Wider­spruchs­be­scheid (einen Aus­gangs­be­scheid gab es nach dem Tat­be­stand des Urteils wohl nicht) vom Rek­to- rat der Hoch­schu­le erlas­sen wor­den war, war die Kla­ge gegen das beklag­te Land zu richten:

„In den Fäl­len, in denen eine Behör­de eine Dop­pel- funk­ti­on wahr­nimmt bzw. ihr Dop­pel­cha­rak­ter in der Wei­se zukommt, dass hin­ter ihr meh­re­re Rechts­trä­ger ste­hen, die Behör­de mit­hin Organ meh­re­rer juris­ti- scher Per­so­nen ist, rich­tet sich die Beant­wor­tung der Fra­ge, gegen wel­chen Rechts­trä­ger die Kla­ge zu erhe- ben ist, danach, wel­chem der hin­ter der Behör­de ste- hen­den Rechts­trä­ger der erlas­se­ne Ver­wal­tungs­akt zu- zurech­nen ist […]. Dies ist hier das beklag­te Land, da vor­lie­gend der Umfang bzw. die Erfül­lung der einem ver­be­am­te­ten Hoch­schul­leh­rer des Lan­des oblie­gen­den Dienst­pflicht in Streit steht und die Hoch­schu­le auch nicht im Bereich der ihr zuste­hen­den Selbst­ver­wal­tung gehan­delt hat.“9

II. Erfor­der­lich­keit einer taug­li­chen Ermäch­ti­gungs- grundlage

Die Hoch­schu­le hat­te ihre Fest­stel­lung auf eine Berech- nung gestützt, deren Grund­la­gen in einer Hand­rei­chung zum Aus­fül­len des Lehr­ver­pflich­tungs­ab­rech­nungs- bogens der Hoch­schu­le fest­ge­hal­ten sind. Hier­nach wird bei einem Aus­fall eines Pro­fes­sors für mehr als vier Wochen ohne Unter­bre­chung aus berech­tig­ten Grün- den (Eltern­zeit, Krank­heit) „die zu erbrin­gen­de Lehr­ver- pflich­tung antei­lig redu­ziert“, unge­ach­tet des­sen ob die Fehl­zei­ten inner­halb oder außer­halb der Vor­le­sungs­zeit liegen.

Das Ver­wal­tungs­ge­richt sieht indes eine förm­li­che Ermäch­ti­gungs­grund­la­ge für die­se Fest­stel­lung als erfor- der­lich an und führt hier­zu aus:

„Vor­aus­set­zung für die Anord­nung belas­ten­der Maß- nah­men ist — auch soweit die­se wie hier im Rah­men ei- nes Beam­ten­ver­hält­nis­ses erge­hen — eine entsprechende

8 Vgl. VG Karls­ru­he, Urteil vom 14.12.2020 — 11 K 1503/19 -,
juris Rn. 34; fer­ner VG Bay­reuth, Urteil vom 06.05.2011 — B 5 K 10.1105 -, juris Rn. 56; Kath­ke in: Schwegmann/Summer, Besol- dungs­recht des Bun­des und der Län­der, 90. Update Sep­tem­ber 2020, 6.1.2 Beson­der­hei­ten bei Beam­ten ohne fes­te Arbeits­zei­ten und Rich­tern, Rn. 35; vgl. fer­ner Sand­ber­ger, in: Haug, Das Hoch- schul­recht in Baden-Würt­tem­berg, 3. Auf­la­ge 2020, 5. Kap. D. Rn. 1585.

9 VG Karls­ru­he, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 17.

110 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023),107–114

Ermäch­ti­gungs­grund­la­ge. Dies gilt auch dann, wenn die Hoch­schu­le in Aus­füh­rung dienst- und beam­ten- recht­li­cher Vor­ga­ben für das beklag­te Land tätig wird und in Bezug auf die einem Hoch­schul­leh­rer gegen­über dem Land oblie­gen­de Dienst­ver­pflich­tung Rege­lun­gen trifft. Aus die­sem Grund bedarf auch die vor­lie­gend er- folg­te Fest­stel­lung eines uner­füll­ten Lehr­de­pu­tats zu ih- rer Recht­mä­ßig­keit einer nor­ma­ti­ven Grund­la­ge, der sich hin­rei­chend bestimmt Umfang und Gren­zen der sich ihr erge­ben­den Befug­nis ent­neh­men las­sen.“10

Die­sen Aus­füh­run­gen ist unein­ge­schränkt zuzu­stim- men. Ins­be­son­de­re len­ken sie den Blick dar­auf, dass die Erfül­lung der Lehr­ver­pflich­tung zunächst eine beam­ten- recht­li­che Fra­ge der Erfül­lung von gesetz­li­chen Dienst- pflich­ten gegen­über dem Dienst­herrn ist und nicht nur eine blo­ße Fra­ge der inter­nen Ver­wal­tungs­or­ga­ni­sa­ti­on der Hoch­schu­le. Ergän­zend ist anzu­mer­ken, dass sich Hoch­schul­leh­re­rin­nen und Hoch­schul­leh­rer als wis­sen- schaft­li­che Beam­te gegen­über ihrem Dienst­herrn grund- sätz­lich auch auf die For­schungs­frei­heit beru­fen kön­nen. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG11 gewährt jedem, der in Wis­sen- schaft, For­schung und Leh­re tätig ist, ein Grund­recht auf freie wis­sen­schaft­li­che Betä­ti­gung. Wis­sen­schaft ist grund­sätz­lich ein von Fremd­be­stim­mung frei­er Bereich auto­no­mer Ver­ant­wor­tung. Dabei schützt die Wis­sen- schafts­frei­heit nicht vor Beschrän­kun­gen, die für den ein­zel­nen Grund­rechts­trä­ger auf Grund des Zusam­men- wir­kens mit ande­ren Grund­rechts­trä­gern im Wis­sen- schafts­be­trieb unver­meid­bar sind.12

Eine Ver­pflich­tung zur Nach­ar­beit krank­heits­be- dingt nicht abge­hal­te­ner Lehr­ver­an­stal­tun­gen lässt den zeit­li­chen­Um­fang­d­er­Lehr­ver­pflich­tungin­den­nach- fol­gen­den Semes­tern über den vom Lan­des­hoch­schul­ge- setz vor­ge­se­he­nen Umfang wei­ter anstei­gen und redu- ziert fak­tisch die dann zur Ver­fü­gung ste­hen­de Zeit für die For­schung. Dies kann den Schutz­be­reich der For- schungs­frei­heit berühren,13 führt aber nicht ohne Wei­te- res zu einem recht­fer­ti­gungs­be­dürf­ti­gen Ein­griff in die For­schungs­frei­heit. Denn ein Ein­griff in den Schutz­be- reich des Grund­rechts dürf­te erst vor­lie­gen, wenn kein nen­nens­wer­ter zeit­li­cher Frei­raum für For­schung mehr

  1. 10  VG Karls­ru­he, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 21.
  2. 11  Vgl. auch Art. 20 Abs. 1 LV und dazu VerfGH Bad.-Württ., Urteil­vom 14.11.2016 — 1 VB 16/15 -, VBlBW 2017, 61.
  3. 12  Vgl. dazu BVerfG, Beschlüs­se vom 31.05.1995 — 1 BvR 1379/94,1413/94 -, BVerfGE 93, 85, vom 26.10.2004 — 1 BvR 911/00 u.a. -, BVerfGE 111, 333, vom 28.10.2008 — 1 BvR 462/06 -, BVerfGE 122, 89, vom 13.04.2010 — 1 BvR 216/07 -, BVerfGE 126, 1, und vom 20.07.2010 — 1 BvR 748/06 -, BVerfGE 127, 87; BVerwG, Beschlüs­se vom 22.08.2005 — 6 BN 1.05 -, Buch­holz 11 Art. 12 GG

verbleibt.14 Die­se Betrach­tungs­wei­se zeigt aber auf, dass eine for­mal­ge­setz­li­che Rege­lung auch unter dem grund- recht­li­chen Aspekt gebo­ten erscheint.

III. Feh­len einer taug­li­chen Ermächtigungsgrundlage

Das Ver­wal­tungs­ge­richt Karls­ru­he prüft im Fol­gen­den erschöp­fend, ob sich aus der von der Hoch­schu­le her­an- gezo­ge­nen Hand­rei­chung zum Aus­fül­len des Lehr­ver- pflich­tungs­ab­rech­nungs­bo­gens, der Lehr­ver­pflich­tungs- ver­ord­nung oder deren Zusam­men­spiel mit dem Lan- des­hoch­schul­ge­setz sowie dem Lan­des­hoch­schul­ge­setz selbst die erfor­der­li­che Ermäch­ti­gungs­grund­la­ge erse- hen lässt und ver­neint dies.

1. Hoch­schul­in­ter­ne Hin­wei­se oder Ver­wal­tungs­vor- schriften

In Bezug auf die Hand­rei­chung zum Aus­fül­len des Lehr- ver­pflich­tungs­ab­rech­nungs­bo­gens folgt dies bereits aus deren feh­len­der Rechts(satz)qualität, weil es sich hier­bei allein um hoch­schul­in­ter­ne Hin­wei­se han­delt. Die­se sind jedoch nicht geeig­net, den Umfang und die Erfül- lung beam­ten­recht­li­cher Dienst­pflich­ten gegen­über dem Dienst­herrn, dem Land, zu bestim­men. Weder § 2 Abs. 10 LVVO (Erhe­bung der erbrach­ten Lehr­ver­an- stal­tun­gen) noch § 24 Abs. 2 Satz 1 LHG (Über­wa­chungs- befug­nis des Dekans) ermäch­ti­gen die Hoch­schu­le zum Erlass einer sol­chen Regelung.15

2. Begriff der Semes­ter­wo­chen­stun­de und Zweck des § 44 Abs. 4 Satz 1 LHG

Auch aus der ver­ord­nungs­recht­li­chen Defi­ni­ti­on des Begriffs der Semes­ter­wo­chen­stun­de nach § 1 Abs. 2 und 3 LVVO lässt sich nach dem Ver­wal­tungs- gericht Karls­ru­he kei­ne Ermäch­ti­gung zur Rege­lung der Fol­gen einer krank­heits­be­ding­ten Dienst­un­fä­hig­keit für die Lehr­ver­pflich­tung erse­hen. Es deu­tet zudem Zwei­fel an, ob Zweck und Umfang der Ver­ord­nungs­er­mäch­ti- gung nach § 44 Abs. 4 Satz 1 LHG — näm­lich die nähe­re Rege­lung des Umfangs der Lehr­ver­pflich­tung ver­schie- dener Lehr­per­so­nen und ins­be­son­de­re Hoch­schul­pro- fes­so­ren — über­haupt eine Ermäch­ti­gung zur Regelung

Nr. 263 und vom 16.03.2011 — 6 B 47.10 — Buch­holz 421.2 Hoch- schul­recht Nr. 174, sowie Urteil vom 26.09.2012 — 6 CN 1.11 -, BVerw­GE 144, 195

13 VGH Bad.-Württ., Urteil vom 23.05.2006, a.a.O., juris Rn. 26. 14 Vgl. BVerwG, Urteil vom 03.11.1988 — 7 C 84.86 -, juris Rn. 16;

vgl auch Gär­ditz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 5 Abs. 3 Rn. 145; Epping, in: Leuze/Epping, Gesetz über die Hoch­schu­len des Lan­des Nord­rhein-West­fa­len, § 35 Rn. 99.

15 VG Karls­ru­he, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 24 f.

Horn­fi­scher · Zur Reich­wei­te der Lehr­ver­pflich­tung 1 1 1

der krank­heits­be­ding­ten Fol­gen für die Erfül­lung der Lehr­ver­pflich­tung umfasst und damit im Rah­men der Lehr­ver­pflich­tungs­ver­ord­nung auf der Grund­la­ge des § 44 Abs. 4 Satz 1 LHG ermög­li­chen würde.16 Ob die­se Zwei­fel durch­grei­fen, ist frag­lich. Jeden­falls hat der Ver- ord­nungs­ge­ber auf der Grund­la­ge des § 44 Abs. 4 Satz 1 LHG in der Lehr­ver­pflich­tungs­ver­ord- nung im 2. Abschnitt die Erfül­lung der Lehr­ver­pf­lich- tung und im 3. Abschnitt Abwei­chun­gen von der Lehr- ver­pflich­tung gere­gelt. Die­se Rege­lun­gen dürf­ten von der Zweck­set­zung des § 44 Abs. 4 Satz 1 LHG, den Umfang der Lehr­ver­pflich­tung — all­ge­mein und in Son- der­fäl­len — zu bestim­men, gedeckt sein. Die Fol­gen einer krank­heits­be­ding­ten Ver­hin­de­rung an der Erfül­lung der Lehr­ver­pflich­tung für deren Umfang lie­ßen sich dem- nach wohl eben­falls noch unter den Zweck des § 44 Abs. 4 Satz 1 LHG fassen.

3. Wei­te­re Bestim­mun­gen der Lehr­ver­pflich­tungs­ver- ordnung

Im Wei­te­ren beleuch­ten die Ent­schei­dungs­grün­de die in den Abschnit­ten 2 und 3 der Lehr­ver­pflich­tungs­ver­ord- nung ste­hen­den Vor­schrif­ten über Modi­fi­ka­tio­nen des Lehr­be­darfs im Hin­blick auf einen etwa­igen Rege­lungs- gehalt bezüg­lich der Fol­gen einer krank­heits­be­ding­ten Dienstunfähigkeit.

„Die §§ 4 bis 8 LVVO sehen zwar Modi­fi­ka­tio­nen des Lehr­de­pu­tats in beson­de­ren Fäl­len vor, indes betrifft kei­ner hier­von den Fall der Dienst­un­fä­hig­keit infol­ge von Krank­heit. Nach § 4 LVVO kann die Fakul­tät bei wech­seln­dem Lehr­be­darf in einem Fach, den Umfang der Lehr­tä­tig­keit im Ein­zel­fall so fest­le­gen, dass die Lehr­ver­pflich­tung im Durch­schnitt von drei auf­ein­an- der­fol­gen­den Stu­di­en­jah­ren erfüllt wird. § 5 LVVO sieht Aus­gleichs­mög­lich­kei­ten für den Fall vor, dass das in einem Semes­ter vor­ge­se­he­ne Stu­di­en­an­ge­bot in ei- nem Fach gewähr­leis­tet ist, wobei eine Lehr­per­son bei- spiels­wei­se ihre Lehr­ver­pflich­tung im Durch­schnitt drei­er auf­ein­an­der­fol­gen­der Stu­di­en­jah­re erfül­len kann. Fer­ner ist vor­ge­se­hen, dass Lehr­per­so­nen einer Lehr­ein­heit ihre Lehr­ver­pflich­tun­gen inner­halb des je- wei­li­gen Semes­ters aus­glei­chen kön­nen, was einer Ver- tre­tungs­re­ge­lung für kurz­zei­ti­ge Ver­hin­de­run­gen ent- spricht. Kann eine Lehr­per­son in ihrem Auf­ga­ben­be- reich wegen eines Über­an­ge­bots in der Leh­re ihre Lehr-

  1. 16  VG Karls­ru­he, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 28.
  2. 17  VG Karls­ru­he, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 30.
  3. 18  VG Karls­ru­he, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 31.

ver­pflich­tung nicht erfül­len, ver­rin­gert sich nach § 6 Abs. 1 LVVO die Lehr­ver­pflich­tung nach Feststel- lung durch die Fakul­tät. Gemäß § 6 Abs. 2 LVVO kann die Hoch­schu­le die Lehr­ver­pflich­tung von Lehr­per­so- nen zeit­lich befris­tet erhö­hen, wenn in einem Fach be- son­de­re Grün­de vor­lie­gen. Eine zur Dienst­un­fä­hig­keit füh­ren­de Erkran­kung ist indes kein beson­de­rer Grund im Sin­ne die­ser Vor­schrift. §§ 7 und 8 LVVO sehen Er- mäßi­gun­gen und Frei­stel­lungs­pau­scha­len von der Lehr­ver­pflich­tung für die Aus­übung von Lei­tungs­funk- tio­nen vor, mit der Fol­ge, dass sich das in § 2 Abs. 1 LVVO all­ge­mein fest­ge­leg­te Lehr­de­pu­tat für die betrof­fe­nen Per­so­nen ent­spre­chend redu­ziert.“17

Das Gericht kommt zu dem Ergeb­nis, dass in der Lehr­ver­pflich­tungs­ver­ord­nung „mit den dor­ti­gen Rege- lun­gen die Aus­wir­kung einer Erkran­kung auf den Umfang der Lehr­ver­pflich­tung nicht nor­miert wur­de.“18 Die­ser Be- fund ist jüngst um die Fest­stel­lung des Ver­wal­tungs­ge- richts­hofs Baden-Würt­tem­berg ergänzt wor­den, dass die Lehr­ver­pflich­tungs­ver­ord­nung auch kei­ne Rege­lun­gen dazu ent­hält, unter wel­chen Vor­aus­set­zun­gen eine kon- kre­te Lehr­ver­an­stal­tung (z.B. mit Blick auf eine nur ge- rin­ge Teil­neh­mer­zahl oder ein end­gül­ti­ges Aus­blei­ben der Stu­die­ren­den im Lau­fe der Vor­le­sungs­zeit) als Erfül- lung der Lehr­ver­pflich­tung anzu­er­ken­nen ist.19

4. Lehr­ver­pflich­tungs­ver­ord­nung und Lan­des­hoch- schulgesetz

a) Schließ­lich erklärt das Ver­wal­tungs­ge­richt Karls­ru­he der Auf­fas­sung der Hoch­schu­le eine Absa­ge, der Lehr- ver­pflich­tungs­ver­ord­nung lie­ge ein — im Wort­laut wohl unaus­ge­spro­che­nes — Kon­zept zugrun­de, wonach die Arbeits­zeit der Hoch­schul­leh­rer ver­gleich­bar mit Arbeits­zeit­kon­ten gere­gelt sei.

„Der Lehr­ver­pflich­tungs­ver­ord­nung liegt in Bezug auf Erkran­kun­gen kein Rege­lungs­kon­zept zugrun­de, nach dem sich eine län­ger andau­ern­de krank­heits­be­ding­te Dienst­un­fä­hig­keit im Hin­blick auf des­we­gen nicht er- brach­te Lehr­ver­an­stal­tun­gen der­ge­stalt auf das für ei- nen Hoch­schul­leh­rer all­ge­mein gel­ten­de Lehr­de­pu­tat aus­wirkt, dass sich die­ses antei­lig redu­ziert und ein ge- gebe­nen­falls danach noch ver­blei­ben­des Rest­de­pu­tat als in dem betrof­fe­nen Semes­ter als uner­füllt anzu­se- hen ist.“20

19 VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.12.2022, a.a.O., Rn. 33 ff. 20 VG Karls­ru­he, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 33.

112 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023),107–114

In die­sem Zusam­men­hang arbei­ten die Entsch­ei- dungs­grün­de die bereits oben21 umris­se­ne zeit­li­che Fi- xie­rung der Lehr­ver­pflich­tung auf­grund der Kon­kre­ti- sie­rung auf eine zu bestimm­ten Zeit­punk­ten (und an be- stimm­ten Orten) abzu­hal­ten­de Lehr­ver­pflich­tung her- aus. Die­se Fixie­rung hat unmit­tel­ba­re Fol­gen für die Erfül­lung der Lehr­ver­pflich­tung nach Ablauf der betref- fen­den Zeit­punk­te bzw. Zeiträume:

„Daher ist die Situa­ti­on einer bereits fest­ge­setz­ten und zeit­lich fixier­ten Lehr­ver­an­stal­tung, die infol­ge krank- heits­be­ding­ter Dienst­un­fä­hig­keit nicht erbracht wur­de — jeden­falls dann, wenn wie hier der frag­li­che Zeit- punkt bereits ver­stri­chen ist -, nicht anders zu beur­tei- len, als die Situa­ti­on gemei­ner Beam­ten, die ihre Dienst­pflicht zu einem bestimm­ten Zeit­punkt zu er- brin­gen haben. Denn mit Ablauf des für die Lehr­ver- anstal­tung bestimm­ten Zeit­punkts — zumin­dest aber nach Ende des Semes­ters — kann die inso­weit fixier­te Dienst­pflicht in Bezug auf die kon­kret fest­ge­setz­te Lehr­ver­an­stal­tung nicht mehr erbracht wer­den. Dar- aus folgt aber auch, dass — wovon im Grun­de der Be- klag­te eben­falls aus­geht — die betrof­fe­nen Lehr­ver­an- stal­tun­gen als erbracht und das Lehr­de­pu­tat inso­weit als erfüllt anzu­se­hen sind.“22

Kon­se­quent weist das Ver­wal­tungs­ge­richt anschlie- ßend dar­auf hin, dass die Rege­lung von Nr. 41.6 der Ver- wal­tungs­vor­schrift des Innen­mi­nis­te­ri­ums des Lan­des- Baden-Würt­tem­berg zur Durch­füh­rung beam­ten­recht­li- cher Vor­schrif­ten (GABl. 2016, 281) vom 19.04.2016 — Be- amtV­wV — auch für Hoch­schul­leh­rer ent­spre­chend gel­te. Fol­ge sei, dass krank­heits­be­dingt nicht geleis­te­ter Dienst in der Regel nicht nach­ge­holt wer­den müsse.23 Etwas an- deres erge­be sich auch nicht aus § 45 Abs. 1 und Abs.2Satz1LHG.DennderdortgeregelteVorrangspe- ziel­ler hoch­schul­recht­li­cher Rege­lun­gen gegen­über den für Beam­te all­ge­mein gel­ten­den Vor­schrif­ten, ins­be­son- dere in Bezug auf die beam­ten­recht­li­chen Vor­schrif­ten über die Arbeits­zeit, wer­de weder durch das Lan- des­hoch­schul­ge­setz noch durch die Lehrverpflich-

  1. 21  Vgl. Fn. 8.
  2. 22  VG Karls­ru­he, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 34; vgl.nunmehr auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.12.2022, a.a.O., Rn. 42 f.

tungs­ver­ord­nung ausgefüllt.24
Soweit die Hoch­schu­le wohl der Auf­fas­sung war, der

wäh­rend des größ­ten Teils der Vor­le­sungs­zeit dienstun- fähig erkrank­te Hoch­schul­leh­rer habe wenigs­tens an- teil­ig die nicht ange­fal­le­ne Vor- und Nach­be­rei­tungs­zeit der ange­bo­te­nen, dann aber nicht abge­hal­te­nen Lehr­ver- anstal­tun­gen nach­zu­ho­len, stellt das Ver­wal­tungs­ge­richt mit begrü­ßens­wer­ter Deut­lich­keit klar:

„Es mag zwar mög­lich sein – wie die Pro­zess­be­voll- mäch­tig­te in der Kla­ge­er­wi­de­rung im Ein­zel­nen dar­ge- legt hat –, die Lehr­de­pu­tats­stun­den unter Berück­sich­ti- gung von Vor- und Nach­be­rei­tungs­zeit in einen kon- kret in Zeit­stun­den bemes­se­nen Arbeits­auf­wand um- zurech­nen, womit sich auch die für die Nach­be­rei­tung ange­setz­te Zeit, die der Klä­ger aus Sicht der Hoch­schu- le in Erfül­lung sei­ner Ver­pflich­tung zur Leh­re noch er- brin­gen müs­se, ermit­teln lie­ße. Die Annah­me einer noch uner­füll­ten Lehr­ver­pflich­tung für den Klä­ger in Bezug auf die Nach­be­rei­tung über­zeugt jedoch nicht, weil der Klä­ger tat­säch­lich im Win­ter­se­mes­ter 2015/2016 selbst kei­ne Lehr­ver­an­stal­tun­gen erbracht hat, die nach­zu­be­rei­ten gewe­sen wären. Nicht erbrach- te Lehr­ver­an­stal­tun­gen bedür­fen kei­ner Nach­be­rei- tung. Eine sol­che Nach­be­rei­tung wäre eben­so obso­let, wie sich die bereits erfolg­te Vor­be­rei­tung die­ser Lehr- ver­an­stal­tun­gen im Nach­hin­ein als ver­geb­lich erweist.“25

b) Auch aus den Bestim­mun­gen des Lan­des­hoch­schul- geset­zes lässt sich nach den über­zeu­gen­den Aus­füh­run- gen des Ver­wal­tungs­ge­richts kei­ne Ermäch­ti­gungs- grund­la­ge für den Bescheid und das Vor­ge­hen der Hoch- schu­le ent­neh­men. Eine sol­che las­se sich ins­be­son­de­re nicht aus dem Orga­ni­sa­ti­ons­recht bzw. Wei­sungs­recht der Hoch­schu­len hin­sicht­lich Lehr­ver­an­stal­tun­gen ablei­ten, das etwa in §§ 17 Abs. 6, 24 Abs. 2 LHG oder § 46 Abs. 2 LHG zum Aus­druck kommt.26 Die­se Aus­füh- run­gen las­sen sich noch um den Hin­weis ergän­zen, dass es im kon­kre­ten Fall um die Erfül­lung einer gegen­über dem Dienst­herrn, also dem Land, bestehen­den Dienst-

23 VG Karsl­ru­he, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 34 a.E. 24 VG Karls­ru­he, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 36.
25 VG Karls­ru­he, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 39.
26 VG Karls­ru­he, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 40.

Horn­fi­scher · Zur Reich­wei­te der Lehr­ver­pflich­tung 1 1 3

pflicht geht. Auch aus die­sem Grund dürf­te das Orga­ni- sati­ons- bzw. Wei­sungs­recht der Hoch­schu­le eine ent- spre­chen­de Rege­lung nicht rechtfertigen.

E. Schluss und Ausblick

Die vor­lie­gen­de Ent­schei­dung des Ver­wal­tungs­ge­richts Karls­ru­he zu den Fol­gen einer krank­heits­be­ding­ten Dienst­un­fä­hig­keit für den Umfang der Lehr­ver­pf­lich- tung sowie die Ent­schei­dun­gen des Ver­wal­tungs­ge­richts Freiburg27 und des Ver­wal­tungs­ge­richts­hofs Baden- Württemberg28 zur Fra­ge der Anrech­nung einer ange­bo- tenen, aber von den Stu­die­ren­den letzt­lich nicht besuch- ten Lehr­ver­an­stal­tung auf die Lehr­ver­pflich­tung zei­gen ein lan­des­recht­li­ches Rege­lungs­de­fi­zit auf. Die gericht­li- chen Ent­schei­dun­gen füh­ren die durch die zu entsch­ei- den­den Sach­ver­hal­te auf­ge­wor­fe­nen Pro­ble­me unter Anwen­dung all­ge­mei­ner beam­ten­recht­li­cher Grund­sät- ze kon­se­quen­ten Lösun­gen zu. Will man sich mit die­sen von Sei­ten des Wis­sen­schafts­mi­nis­te­ri­ums und der Hoch­schu­len nicht begnü­gen, besteht gesetz­ge­be­ri­scher Hand­lungs­be­darf. § 44 Abs. 4 Satz 1 LHG dürf­te hierfür

als Ver­ord­nungs­er­mäch­ti­gung vor­aus­sicht­lich aus­rei- chend sein. Ent­spre­chen­de Rege­lun­gen könn­ten dem- nach auf die­ser Grund­la­ge in die Lehr­ver­pflich­tungs­ver- ord­nung inte­griert wer­den. Ange­sichts der eigent­lich nicht fern­lie­gen­den Fall­ge­stal­tun­gen (Erkran­kung in der Vor­le­sungs­zeit, Aus­blei­ben der Stu­die­ren­den bei einer ange­bo­te­nen Lehr­ver­an­stal­tung) mag es bei­na­he ver- wun­dern, dass die hier­aus fol­gen­den Fra­gen bis­lang nicht gere­gelt wor­den sind. Dahin­ge­gen haben die oben auf­ge­führ­ten gericht­li­chen Ent­schei­dun­gen einer hoch- schul­in­ter­nen, „frei­hän­di­gen“ Lösung der Pro­ble­me eine kla­re Absa­ge erteilt. Damit ist ins­be­son­de­re für die Lehr- ver­pflich­te­ten eine zu begrü­ßen­de Rechts­si­cher­heit geschaf­fen worden.

Dr. Felix Horn­fi­scher ist Rich­ter am Ver­wal­tungs­ge­richt und der­zeit an den Ver­wal­tungs­ge­richts­hof Baden-Würt­tem­berg abge­ord­net und dort im 9. Senat u.a. für Ver­fah­ren aus dem Hoch­schul­recht zustän­dig. Der Bei­trag gibt allein sei­ne per­sön­li­che Auf­fas­sung wieder.

27 VG Frei­burg, Urteil vom 08.10.2021, a.a.O.

28 VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.12.2022, a.a.O.

114 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023),107–114

Der Frei­bur­ger Ver­fas­sungs­recht­ler Prof. Dr. Tho­mas Wür­ten­ber­ger hat dem Münz­ka­bi­nett der Staat­li­chen Muse­en zu Ber­lin anläss­lich sei­nes 80. Geburts­ta­ges den letz­ten Teil sei­ner über 3.000 Gedenk­mün­zen- und Medail­len umfas­sen­den Samm­lung zu „Ius in num­mis“ geschenkt. Die latei­ni­sche Voka­bel Ius wird je nach Bedeu­tungs­zu­sam­men­hang mit Recht, Gesetz, Gericht, aber auch mit Anspruch, Berech­ti­gung, Vor­recht, Pri­vi- leg, Gewalt und Macht über­setzt. In Bezug auf den Samm­lungs­ti­tel sind hier die Begrif­fe Ver­fas­sung, Recht, Gerech­tig­keit und Rechts­kul­tur gemeint. Es geht um die Ver­mitt­lung die­ser The­men in den Gat­tun­gen (Gedenk) mün­ze und Medaille.

Die Wur­zeln der Samm­lung ‚Tho­mas Wür­ten­ber­ger‘ rei­chen bis in die spä­ten 1960er Jah­re zurück. Damals begann Wür­ten­ber­gers gleich­na­mi­ger Vater, der eben- falls in Frei­burg im Breis­gau leh­ren­de Straf­rechts­leh­rer, Rechts­phi­lo­soph und Kri­mi­no­lo­ge Prof. Dr. Tho­mas Wür­ten­ber­ger (1907–1989), Medail­len mit rechts­his­to­ri- schen Bezü­gen zu erwerben.

Die frü­hes­ten Exem­pla­re der Samm­lung stam­men aus der Renais­sance und dem 15. Jahr­hun­dert, die gegen- wär­tig jüngs­te Kunst­me­dail­le ent­stand im Jahr 2022. Die Samm­lung kon­zen­triert sich räum­lich auf West­eu­ro­pa und den trans­at­lan­ti­schen Raum Ame­ri­kas, hat in den letz­ten Jah­ren aber auch eine glo­ba­le Per­spek­ti­ve hin­zu- bekom­men. Gefragt nach dem Sam­mel­kon­zept, gibt Tho­mas Wür­ten­ber­ger rück­bli­ckend die Antwort:

„Sam­mel­wür­dig war alles, was im inter­na­tio­na­len, eu- ropäi­schen, natio­na­len und loka­len Bereich einen Be- zug zu Recht, Ver­fas­sung und Gerech­tig­keit hat. Im Zen­trum steht dabei der Staat, der durch Recht geord- net ist und Recht durch­setzt. Eben­falls im Zen­trum der Samm­lung steht der Bür­ger, der vom Recht betrof­fen ist und an der Gestal­tung der Rechts­ord­nung teilnimmt.“

Die Samm­lung ist in ver­schie­de­ne Berei­che geg­lie- dert: Medail­len, die all­ge­mein den Juris­ten und seine

spe­zi­fi­schen Arbeits­stät­ten zum Inhalt haben oder die Rechts­sym­bo­lik (wie die Per­so­ni­fi­ka­ti­on Ius­ti­tia, die Sta- tuen des Roland und die Waa­ge als Attri­but der Ius­ti­tia). Dar­über hin­aus geht es um ganz ver­schie­de­ne For­men von Rechts­kul­tur (Abb. 1), etwa um Ver­fas­sung und Ver- fas­sungs­ge­bung, Grund­rech­te, Par­la­men­ta­ris­mus, Völ- ker­recht und inter­na­tio­na­le Zusam­men­ar­beit, aber auch um Recht und Revo­lu­ti­on, wobei hier die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on von 1789 (Abb. 2) als Aus­gangs­punkt diente.

Die Medail­le ist ein Denk­mal in hand­li­chem For­mat. Die Wür­ten­ber­gers inter­es­sier­te die Fra­ge, wel­che Dar- stel­lungs­for­men gewählt wur­den, um die Rechts­kul­tur einer Gesell­schaft zu ver­mit­teln. Medail­len kön­nen ex- klu­si­ve Gaben für eine juris­ti­sche Eli­te sein. Als seri­el­le Objek­te sind sie aber häu­fi­ger kunst­hand­werk­li­che Zeug­nis­se für die Bevöl­ke­rung. Im Münz­ka­bi­nett hat die Fami­lie den Part­ner gefun­den, der die objekt­kund­li­che Exper­ti­se ein­bringt und nach den mit den Arte­fak­ten ver­bun­de­nen Men­schen fragt: den Auf­trag­ge­bern mit ihren Absich­ten, den Künst­lern und Her­stel­lern, dem beab­sich­ti­gen Nut­zer­kreis und der Wei­ter- und Nach- ver­wen­dung. Samm­ler wie Münz­ka­bi­nett eint die Über- zeu­gung, dass Mün­zen und Medail­len mit ihren Text- und Bild­bot­schaf­ten zur Bewusst­seins- und Kul­tur­prä- gung beitragen.

Die in meh­re­ren Par­tien erfolg­te Schen­kung der Samm­lung Wür­ten­ber­ger an das Münz­ka­bi­nett erfolg­te in der Absicht, sie der For­schung zugäng­lich zu machen. Hier­für wird sie im Inter­ak­ti­ven Kata­log des Münz­ka­bi- netts (https://ikmk.smb.museum) erfasst und, mit nu- mis­ma­ti­schen Beschrei­bun­gen ver­se­hen und mit Norm- daten qua­li­fi­ziert, nach und nach online veröffentlicht.

Die rechts­iko­no­gra­phi­sche For­schung kann mit der fort­schrei­ten­den digi­ta­len Ver­öf­fent­li­chung der Samm- lung auf einen inter­na­tio­nal ein­ma­li­gen Fun­dus von Me- dail­len zugrei­fen, die die west­li­che Rechts­kul­tur reprä- sen­tie­ren. Mit dem Kon­zept der longue durée der fran- zösi­schen Anna­les-Schu­le las­sen sich Ent­wick­lun­gen der Rechts­kul­tur der west­li­chen Welt erken­nen. Die­se wird

Bern­hard Weisser

Zur Aus­stel­lung der Medail­len­samm­lung
Ius in num­mis im Münz­ka­bi­nett der Staat­li­chen Muse­en zu Berlin

Ord­nung der Wis­sen­schaft 2023, ISSN 2197–9197

116 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 115–118

hier anhand der Pri­mär­quel­le Medail­le bis zum Entste- hen des moder­nen Staa­tes nach­ver­folgt. Zu den Pro­pria west­li­cher Rechts­kul­tur gehört die Jus­ti­tia-Sym­bo­lik. Ihr ist seit der Anti­ke und län­der­über­grei­fend eine Viel­zahl von Medail­len und Mün­zen gewid­met, die im Diens­te der Ver­ge­wis­se­rung von Gerech­tig­keit ste­hen, aber auch Posi­ti­on im Kampf um gerech­tes Recht bezie­hen. Die be- son­de­re Form einer Insze­nie­rung von Recht und Ge- rech­tig­keit durch Medail­len kann dazu genutzt werden,1 eine sich in einem lan­gen Zeit­raum ent­wi­ckeln­de beson- dere Rechts­men­ta­li­tät in der west­li­chen Welt aus­zu­ma- chen. Mit Blick auf den Ico­nic Turn lässt sich der Fun­dus von Rechts- und Gerech­tig­keits­me­dail­len dar­auf sich­ten, inwie­fern die Medail­len­bil­der in Ver­bin­dung mit ihren kur­zen Tex­ten auf das Rechts­be­wusst­sein ein­wir­ken und in Bil­dern trans­por­tie­ren, was für gerecht und recht­lich rich­tig gehal­ten wer­den konn­te und soll­te. In der Rechts- und Ver­fas­sungs­ge­schich­te kön­nen Rechts- und Gerech- tig­keits­me­dail­len den Zugriff auf das Rechts­ver­ständ­nis ver­gan­ge­ner Epo­chen und auf eine bis­lang zu wenig be- ach­te­te Form der Rechts­kom­mu­ni­ka­ti­on ermöglichen.

Rechts- und Gerech­tig­keits­me­dail­len sind nicht nur Top-down das seri­el­le Pro­dukt staat­li­cher Insze­nie­rung. Neben den Arbei­ten in Gold und Sil­ber für eine exklu­si- ve Ober­schicht über­wie­gen Medail­len, die in uned­lem Metall und gele­gent­lich hohen Auf­la­gen pro­du­ziert wur- den. Die­se Arte Ple­beia ent­wi­ckel­te ihre Wirk­macht auch Bot­tom-up im gesell­schaft­li­chen Zusam­men­wir­ken von Medail­leu­ren und Auf­trag­ge­bern auf der einen und dem Ziel­pu­bli­kum und Rezi­pi­en­ten auf der ande­ren Seite.

Ab dem 26. Mai 2023 wird im Bode-Muse­um auf der Muse­ums­in­sel in Ber­lin die Samm­lung erst­mals in einer eige­nen Aus­stel­lung zu sehen sein.2 Es erscheint eine Pu- bli­ka­ti­on in der Rei­he des Münz­ka­bi­netts, in der die­se Samm­lung und ihr Samm­lungs­kon­zept aus­führ­lich vor- gestellt werden.

Pro­fes­sor Dr. Bern­hard Weis­ser ist Direk­tor des Münz- kabi­netts der Staat­li­chen Muse­en zu Ber­lin und Hono- rar­pro­fes­sor an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät Berlin.

page56image55093616 page56image55095488

Abb. 1: „Der Frie­de ruft die Gerech­tig­keit wie­der auf den Plan“ – Abra­ham Abramsons Medail­le auf den Frie­den von Ami­ens im Jahr 1802 befin­det sich inhalt­lich und chro­no­lo­gisch in medi­as res der Samm­lung Ius in num­mis. Ein Ber­li­ner Medail­leur bear­bei­tet Euro­päi­sche The­men in einer Zeit, kurz bevor der Code civil erlas­sen wur­de. Die Anti­ke lebt auch auf die­sem Glanz­stück der Medail­len­kunst wei­ter, wäh­rend die Welt wie stets im Wan­del ist. Sil­ber, 12,59 g, 35 mm, Münz­ka­bi­nett der Staat­li­chen Muse­en zu Ber­lin, 18280293, ex Slg. Tho­mas Wür­ten­ber­ger. Auf­nah­men durch Johan­nes Eber­hardt.

1 Ver­gleich­bar der Frei­heits­men­ta­li­tät ver­mit­telt durch die Frei­heits- sym­bo­lik, hier­zu Tho­mas Wür­ten­ber­ger, Sym­bo­le der Frei­heit, 2017.

2

Aus­stel­lungs­er­öff­nung am 25. Mai 2023 in der Basi­li­ka des Bode- Muse­ums. Die Aus­stel­lung wird bis 7. April 2024 im Bode-Muse­um gezeigt und steht dann für wei­te­re Aus­stel­lungs­or­te zur Verfügung.

Weis­ser · Zur Aus­stel­lung der Medail­len­samm­lung Ius in num­mis 1 1 7

page57image55093824 page57image55084256

Abb. 2: Die Sil­ber­me­dail­le von Dani­el und Fried­rich Loos auf die Hin­rich­tung Marie Antoi­net­tes im Jah­re 1793 zeigt die Jus­ti­tia von einer ande­ren Sei­te. Der in sich ruhen­den, der Ver­ge­wis­se­rung die­nen­den Per­so­ni­fi­ka­ti­on tritt nun die revo­lu­tio­nä­re Furie gegen­über, die jene revo­lu­tio­nä­ren Rechts­brü­che beglei­tet, aus denen neu­es Recht erwach­sen kann, wofür die Zeit der Terr­eur in Frank­reich ein prä­gnan­tes Bei­spiel ist. Die in Ber­lin gefer­tig­te Prä­gung klagt an. Die Jus­ti­tia-Furie mit der Brand­fa­ckel und dem Bru­tus-Dolch in einer der Waag­scha­len steht hier für Unge­rech­tig- keit und Will­kür. Sil­ber, 9,43 g, 30 mm, Münz­ka­bi­nett der Staat­li­chen Muse­en zu Ber­lin, 18300003, ex Slg. Tho­mas Wür­ten­ber­ger. Auf­nah­men durch Johan­nes Eber­hardt.

118 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 115–118

Über­sicht
I. Ein­lei­tung
1. Das kana­di­sche Rechts­sys­tem
2. Rechts­tra­di­tio­nen
II. Die Juris­ten­aus­bil­dung
1. Zulas­sung
2. Stu­di­um an den law schools
3. Migra­ti­on in das kana­di­sche Rechts­sys­tem 4. Zulas­sung zur Berufs­pra­xis
III. Berufs­ein­stieg

V. Erkennt­nis­se

I. Ein­lei­tung

Rechts­tra­di­tio­nen und Erfah­run­gen mit dem eige­nen Rechts­sys­tem bestim­men die Juris­ten­aus­bil­dung eines Lan­des maß­geb­lich. Erwar­tun­gen an juris­ti­sche Beru­fe beein­flus­sen etwa­ige Refor­men. Die aktu­el­len Dis­kus­sio- nen über die deut­sche Juris­ten­aus­bil­dung, ins­be­son­de­re um die Ein­füh­rung eines stu­di­en­in­te­grier­ten Bachelors,1 ver­deut­li­chen, dass sich die Erwar­tungs­hal­tun­gen an juris­ti­sche Beru­fe ver­än­dern. Der­ar­ti­ge Ver­än­de­run­gen mah­nen, auch rechts­ver­glei­chend auf ande­re Län­der und ihre Juris­ten­aus­bil­dung zu schau­en. Rechts­ver­glei- chend wird oft der ang­lo-ame­ri­ka­ni­sche Rechts­raum her­an­ge­zo­gen. Ins­be­son­de­re das US-Ame­ri­ka­ni­sche Rechts­sys­tem wird dabei syn­onym mit dem ang­lo-ame­ri- kani­schen Rechts­raum betrach­tet. Aller­dings ver­kürzt die­se Betrach­tung die wesent­li­chen Unter­schie­de in ande­ren ang­lo-ame­ri­ka­ni­schen Rechts­kul­tu­ren, wie Kana­da, erheblich.2 Die kürz­li­che Rati­fi­zie­rung des EU-

  1. 1  Vgl. Chi­usi, OdW 2023, 4 ff.; ebd., Ein Jodel­di­plom?, FAZ vom 30.6.2022, S. 6; Schim­mel, Der ‘Loser Bache­lor‘.War­um die Debat­te uns Juris­ten scha­det. https://www.lto.de/karriere/jura-studium/ sto­ries/­de­tail­/­lo­ser-bache­lor-debat­te-scha­det-uns-juris­ten (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  2. 2  Vgl. hier­zu etwa Rey­don, Zur Unver­gleich­bar­keit aka­de­mi­scher Sys­te­me, OdW 2020, 33, 35, 41: „Dage­gen spricht z. B., dass es
    das ang­lo-ame­ri­ka­ni­sche Sys­tem gar nicht gibt. Die Kate­go­rien […] stam­men aus dem US-Ame­ri­ka­ni­schen Sys­tem und haben im Kon- text die­ses Sys­tems sehr spe­zi­fi­sche Bedeu­tun­gen. Aller­dings wer­den die­se Bezeich­nun­gen auch an eini­gen (aber nicht allen) Uni­ver­si- täten in [..], Kana­da, […] ver­wen­det, bezeich­nen dort aller­dings manch­mal ande­re Kate­go­rien als in den USA.“
  3. 3  Cana­da-Euro­pean Uni­on Com­pre­hen­si­ve Eco­no­mic and Trade

Kana­da-Han­dels­ab­kom­mens (CETA) ver­deut­licht zudem, dass sich Kana­da als bedeut­sa­mer Han­dels­part- ner eman­zi­piert hat.3 Daher soll die­ser Auf­satz zum bes- seren Ver­ständ­nis des kana­di­schen Rechts­sys­tems und der kana­di­schen Juris­ten­aus­bil­dung beitragen.

1. Das kana­di­sche Rechtssystem

Kana­da ist eine föde­ra­le par­la­men­ta­ri­sche Mon­ar­chie nach dem West­mins­ter-Sys­tem, hat also ana­log zu Groß- bri­tan­ni­en ein Par­la­ment mit zwei Kam­mern. Ste­tig wach­send leben nach dem letz­ten Cen­sus etwa 39 Mio. Men­schen in Kana­da. Als föde­ra­ler Bun­des­staat glie­dert sich Kana­da in zehn Pro­vin­zen und drei Ter­ri­to­ri­en. Wohin­ge­gen die Pro­vin­zen sich regel­mä­ßig selbst­stän- dig orga­ni­sie­ren und ver­wal­ten, ver­wal­tet die kana­di- sche (Bundes-)Regierung die drei nörd­li­chen Ter­ri­to­ri­en in gewis­sen Berei­chen zentral.4

2. Rechts­tra­di­tio­nen

Ursprüng­lich von indi­ge­nen Stäm­men bevöl­kert, grün- deten Bri­ten und Fran­zo­sen im 16. Jahr­hun­dert Kolo­ni- en in Nord­ame­ri­ka. Nach Kon­flik­ten zwi­schen Groß­bri- tan­ni­en und Frank­reich ging der fran­zö­si­sche Teil Kana- das, heu­te im Wesent­li­chen Qué­bec, im Frie­den von Paris 1763 an Groß­bri­tan­ni­en als Teil von Lower Cana­da über.

Mit dem Bri­tish North Ame­ri­ca Act vom 1. Juli 1867 wur­de die Domi­ni­on of Cana­da gegrün­det. Zusam­men mit dem Cana­da Act von 1982, in dem das bri­ti­sche Par- lament die Sou­ve­rä­ni­tät Kana­das aner­kannt hat und dem West­mins­ter-Sta­tut von 1931, das for­mal die Unab­hän­gig- keitKanadasvomVereinigtenKönigreichbestätigte,bil- den sie die heu­ti­ge Ver­fas­sung von Kanada.5

Agree­ment (CETA), https://www.international.gc.ca/trade- com­mer­ce/­tra­de-agree­ments-accords-com­mer­ciau­x/a­gr-acc/ ceta- aecg/index.aspx?lang=eng; https://policy.trade.ec.europa. eu/eu-trade-rela­ti­onships-coun­try-and-regi­on/­count­ries-and-re- gions­/­ca­na­da/eu-cana­da-agree­men­t_en; Han­dels­ab­kom­men mit Kana­da. Grü­nes Licht für Ceta, https://www.zdf.de/nachrichten/ wirtschaft/ceta-freihandelsabkommen-bundestag-faq-100.html (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).

4 Govern­ment of Canada/Gouvernement du Cana­da, Pro­vin­ces, https://www.canada.ca/en/intergovernmental-affairs/services/ provinces-territories.html (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).

5 Ver­tie­fend hier­zu Hand­schug, Ein­füh­rung in das kana­di­sche Recht, 2003, 19 ff.

Johan­nes M. Deutsch

Juris­ten­aus­bil­dung in Kanada

Ord­nung der Wis­sen­schaft 2023, ISSN 2197–9197

120 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 119–126

Das kana­di­sche Rechts­sys­tem hat sich his­to­risch be- dingt maß­geb­lich aus fran­zö­si­schen und eng­li­schen Ein- flüs­sen ent­wi­ckelt. Ins­be­son­de­re der im Zuge der Auf- klä­rung ent­stan­de­ne Wunsch nach Kodi­fi­zie­run­gen des Rechts in Kon­ti­nen­tal­eu­ro­pa hat sich auch in Kana­da fortgesetzt.6 Der 1804 in Frank­reich geschaf­fe­ne Code ci- vil hat 1866 auch Qué­bec zu einem eige­nen Zivil­ge­setz- buch verholfen.7 Daher gehört Qué­bec bis heu­te tra­di­ti- onell dem civil law-Sys­tem an, wäh­rend der bri­ti­sche Ein­fluss im Übri­gen zur Aus­bil­dung eines com­mon law- Sys­tems geführt hat.8

Die­se ambi­va­len­te Bezie­hung zwi­schen dem bri­ti- schen und fran­zö­si­schem Teil Kana­das setzt sich bis heu- te fort. Ins­be­son­de­re die geschei­ter­ten Refe­ren­den in Que­bec 1980 und 1995 zeu­gen von den anhal­ten­den Spannungen.9 Que­bec nimmt daher inner­halb von Ka- nada eine Son­der­rol­le ein, die sich auch im Rechts­sys­tem und in der Juris­ten­aus­bil­dung fortsetzt.10

Kana­da wird zudem maß­geb­lich durch indi­ge­ne Be- völ­ke­rungs­grup­pen geprägt. Umfas­sen­de Auf­ar­bei­tun- gen des Umgangs mit den indi­ge­nen Bevöl­ke­rungs­grup- pen führ­ten und füh­ren zur­zeit auch zur Stär­kung der Rech­te indi­ge­ner Grup­pen. Recht­spre­chung und Gesetz- gebung beto­nen immer wie­der, dass indi­ge­ne Grup­pen ori­gi­nä­re Geset­ze und ein eigen­stän­di­ges Recht­sys­tem haben, das wei­ter­hin ange­wen­det wer­den darf. Aller- dings ist die öffent­li­che Wahr­neh­mung und for­ma­le Eman­zi­pa­ti­on noch nicht voll­stän­dig erreicht. Ins­be­son- dere sind bei­spiels­wei­se indi­ge­ne Rich­ter in den obers- ten Gerich­te noch nicht vertreten.11 Daher wer­den aktu- ell Dis­kus­sio­nen über eine fai­re Ein­bin­dung von indi­ge- nen Grup­pen in das kana­di­sche Rechts­sys­tem geführt.12 Aus­gangs­punkt ist dabei oft der dis­kri­mi­nie­ren­de Indi­an Act von 1876 und ande­re Ver­trä­ge, die von nicht­in­di­ge- nen Bevöl­ke­rungs­grup­pen über indi­ge­ne Men­schen ge- schlos­sen wor­den sind.

  1. 6  Häcker, JuS 2015, 872, 873.
  2. 7  Mac­do­nald, Civil Code in The Cana­di­an Ency­clo­pe­dia, https://www.thecanadianencyclopedia.ca/en/article/civil- code,6.2.2015/4.3.2015 (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  3. 8  Govern­ment of Canada/Gouvernement du Cana­da, Whe­re our legal sys­tem comes from, https://www.justice.gc.ca/eng/csj-sjc/just/03.html (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  4. 9  Bihr, Hoff­nun­gen in Qué­bec auf die Unab­hän­gig­keit, Le Mon­de­di­plo­ma­tique, https://monde-diplomatique.de/artikel/!1258932,14.7.1995 (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  5. 10  Bothwell, Deux natio­na­lis­me, erschie­nen in Une His­to-ire du Cana­da, 2009, 399 ; Casa­gran­de, Kei­ne Unab­hän-
    gig­keit in Sicht; 10.9.2012, https://www.dw.com/de/keine unabh%C3%A4ngigkeit‑f%C3%BCr-quebec-in-sicht/a‑16225930 (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  6. 11  Brooks, Indi­ge­nous laws are a cri­ti­cal part of Canada’s legal lands- cape in CBA/ABC Natio­nal, 21.6.2021, https://www.nationalma-

II. Die Juristenausbildung

Ana­log zur deut­schen Juris­ten­aus­bil­dung, ist auch das kana­di­sche Recht vom Föde­ra­lis­mus geprägt. Weil den ein­zel­nen Pro­vin­zen und Ter­ri­to­ri­en gemäß den Arti- keln 92, 93 der Ver­fas­sungs­ak­te von 1867/1982 ver­schie- dene Gesetz­ge­bungs­kom­pe­ten­zen, unter ande­rem in den Berei­chen Schul­we­sen und Bil­dung, öffent­li­cher Ein­rich­tun­gen, bür­ger­li­ches Recht, Gerichts­ver­fas­sungs- recht, Zivil­pro­zess­recht, über­tra­gen wor­den sind, ist die Juris­ten­aus­bil­dung inner­halb Kana­das sehr unter­schied- lich geregelt.13

1. Zulas­sung

Die zwei ver­schie­de­nen Rechts­sys­te­me beein­flus­sen die Vor­aus­set­zun­gen an ein Jura­stu­di­um. Qué­bec, geprägt durch den fran­zö­si­schen Ein­fluss, unter­rich­tet Jura im civil law-Sys­tem. Dage­gen baut die com­mon law-Aus­bil- dung in den ande­ren Pro­vin­zen und Ter­ri­to­ri­en auf dem eng­li­schem Rechts­sys­tem auf.

Zudem hat die US-ame­ri­ka­ni­sche Juris­ten­aus­bil­dung ins­be­son­de­re den Auf­bau, die Ver­wal­tung und Finan­zie- rung der kana­di­schen Jura­fa­kul­tä­ten beeinflusst.14

a) Under­gra­dua­te Degree

Inner­halb des com­mon law ist der Nach­weis eines pre- law degree oder under­gra­dua­te degree hin­rei­chen­de Vor- aus­set­zung für ein auf­bau­en­des Jura­stu­di­um an den soge­nann­ten law schools.15 Regel­mä­ßig ist dies ein bereits erwor­be­ner Bache­lor-Abschluss in einem Haupt­fach der eige­nen Wahl. Pri­mär soll die aka­de­mi­sche Rei­fe damit sicher­ge­stellt wer­den, wes­halb ein ein­schlä­gi­ger Jura- Bache­lor, LL.B., nicht erfor­der­lich ist. Aller­dings vari­ie- ren die Min­dest­an­for­de­run­gen an das under­gra­dua­te degree zwi­schen 90 Stun­den oder drei Jah­ren Min­dest- stu­di­en­dau­er. Die Uni­ver­si­tä­ten wer­ben jedoch oftmals

gazine.ca/en-ca/articles/law/rule-of-law/2021/indigenous-laws-a-

cri­ti­cal-part-of-cana­da-s-legal (letz­ter Zugriff am 17.03.2023). 12 Im All­ge­mei­nen hier­zu und ver­tie­fend Brooks, Indi­ge­nous laws

are a cri­ti­cal part of Canada’s legal land­scape in CBA/ABC Nati- onal, 21.6.2021, https://www.nationalmagazine.ca/en-ca/articles/ law/ru­le-of-law/2021/in­di­ge­nous-laws-a-cri­ti­cal-part-of-cana­da- s‑legal (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).

13 Govern­ment of Canada/Gouvernement du Cana­da, Jus­ti­ce Laws Web­site, Con­sti­tu­ti­on Act 1867, http://laws-lois.justice.gc.ca/eng/ Const/page‑1.html (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).

14 Ver­tie­fend hier­zu Girard, Ame­ri­can Influen­ces, Cana­di­an Rea­li- ties. How ‘Ame­ri­can’ Is Cana­di­an Legal Edu­ca­ti­on, erschie­nen in Bar­tieSan­do­mier­ski, Ame­ri­can Legal Edu­ca­ti­on Abroad, 2021, 67.

15 Uni­ver­si­ty of Toron­to, Facul­ty of Law, So, You want to beco­me a lawy­er, https://www.law.utoronto.ca/getstarted (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).

mit spe­zi­ell vor­be­rei­ten­den 4‑jährigen Jura-Bache­lor- Pro­gram­men, zum Bei­spiel in Poli­tik­wis­sen­schaf­ten oder Völ­ker­recht, die einen Vor­teil im Aus­wahl­ver­fah- ren an den law schools bie­ten sollen.16

b) Diplô­me d’études collégiales

Abwei­chend vom Erfor­der­nis eines under­gra­dua­te degrees bie­tet Qué­bec bereits nach dem erfolg­rei­chen Abschluss der Sekun­dar­stu­fe ein vor­uni­ver­si­tä­res Col- lege Pro­gramm an, dass bei erfolg­rei­chem Abschluss auch die Zulas­sung zum Jura­stu­di­um in Qué­bec ver­mit- teln kann.17

c) Law School Admis­si­on Test (LSAT)

Im Gel­tungs­be­reich des com­mon law wird neben dem under­gra­dua­te degree zudem das Ergeb­nis eines ein­heit- lichen Stu­di­en­eig­nungs­tests ver­langt. Der law school admis­si­on test (LSAT) wird dezen­tral an einem selbst­ge- wähl­ten Ort abge­legt und glie­dert sich in drei Bereiche:18 Rea­ding Com­pre­hen­si­on [Lese­ver­ständ­nis], Ana­ly­ti­cal Reaso­ning [Ana­ly­ti­sches Den­ken] und Logi­cal Reaso­ning [logi­sches Den­ken].19

Das erziel­te Ergeb­nis ent­schei­det maß­geb­lich über die Chan­cen einer Auf­nah­me in eine law school. Das Er- gebnis wird einer­seits mit einer Punkt­zahl zwi­schen 120 und 180 aus­ge­ge­ben und ande­rer­seits in einem Pro­zent- satz im Ver­gleich zu den ande­ren Prüf­lin­gen. Den Test kann man zwar jeder­zeit wie­der­ho­len, aller­dings verlan-

  1. 16  Uni­ver­si­ty of Water­loo, under­gra­dua­te pro­grams, How to beco­me a lawy­er in Cana­da, Zugriff, https://uwaterloo.ca/future-students/ miss­ing-manu­al/­care­er­s/how-beco­me-lawy­er-cana­da (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  2. 17  Accès étu­des Qué­bec, https://accesetudesquebec.ca/fr/les-pro- gram­mes-de-for­ma­ti­on/­lis­te-des-pro­gram­mes-d-etu­des-dis­po­ni- bles-duree-cout­s/5/23 (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  3. 18  LSAC, Get­ting Rea­dy for Your LSAT Exam, https://www.lsac.org/ lsa­t/­ta­king-lsat (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  4. 19  LSAC, Types of LSAT Ques­ti­ons, https://www.lsac.org/lsat/about/ types-lsat-ques­ti­ons (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  5. 20  Wil­frid Lau­rier Uni­ver­si­ty, The 7 steps to beco­me a Lawy­er in Ca- nada, https://online.wlu.ca/news/steps-becoming-lawyer-canada (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  6. 21  LSAT Prep Cour­ses Oxford Semi­nars; LSAT Prep Richard­son Prep Cen­ter; Offi­ci­al LSAT Prep Khan Aca­de­my, vgl. hier­zu https://www.lsac.org/lsat/prep (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  7. 22  Im Ein­zel­nen: Akit­sir­aq Law School, Dal­housie Uni­ver­si­ty, Lake­head Uni­ver­si­ty, McGill Uni­ver­si­ty, Queen‘s Uni­ver­si­ty, Thomp­son Rivers Uni­ver­si­ty, Toron­to Metro­po­li­tan Uni­ver­si­ty, Uni­ver­si­té de Mon­c­ton, Uni­ver­si­té de Mon­tré­al, Uni­ver­si­té de Sher­broo­ke, Uni­ver­si­té Laval, Uni­ver­si­ty of Alber­ta, Uni­ver-
    sity of Bri­tish Colum­bia, Uni­ver­si­ty of Cal­ga­ry, Uni­ver­si­ty of Mani­to­ba, Uni­ver­si­ty of New Bruns­wick, Uni­ver­si­ty of Otta­wa, Uni­ver­si­ty of Sas­kat­che­wan, Uni­ver­si­ty of Toron­to, Uni­ver­si­ty of Vic­to­ria, Uni­ver­si­ty of Wes­tern Onta­rio, Uni­ver­si­ty of Wind­sor, York Uni­ver­si­ty; LSAC, Cana­di­an Law Schools, https://www. lsac.org/choosing-law-school/find-law-school/canadian-law-

gen eini­ge law schools dann auch die Vor­la­ge aller vor­an- gegan­gen Ergebnisse.20 Daher haben sich bedingt durch den Ergeb­nis­druck bereits kom­mer­zi­el­le Übungsan­ge- bote, ana­log zu den deut­schen Repe­ti­to­ri­en, entwickelt.21

d) Grund­le­gen­der Überlick

Ins­ge­samt gibt es 24 law schools in Kana­da, die den deut- schen juris­ti­schen Fakul­tä­ten entsprechen.22 Die Akk­re- ditie­rung einer kana­di­schen juris­ti­schen Fakul­tät erfolgt durch die Fede­ra­ti­on of Law Socie­ties of Cana­da/­Fé­dé­de- rati­on des orders pro­fes­sio­nels de jurists du Cana­da nachCon­vo­ca­ti­on, also dem monat­li­chen Tref­fen ihrer jewei­li- gen Geschäftsführer.23 Die Stu­di­en­ge­büh­ren vari­ie­ren zwi­schen 3.000 CAD (ca. EUR 2.000) und bis zu 34.000 CAD (ca. EUR 23.400 pro Studienjahr).24 Ins­be- son­der­e­die­ho­hen­Stu­di­en­ge­büh­ren­führ­en­da­bei­im­mer wie­der zu erheb­li­cher Kri­tik an der Juris­ten­aus­bil­dung, weil dadurch die Juris­ten­aus­bil­dung nur Pri­vi­le­gier­ten möglichist.25AnalogzudenUSA,istesauchinKanada beliebt an einem der viel­fäl­ti­gen Sti­pen­di­en­pro­gram­me (scho­lar­ships oder bour­ses d’études) teil­zu­neh­men. Die kana­di­sche Bun­des­re­gie­rung und die jewei­li­gen Pro- vinz­ver­wal­tun­gen bie­ten hier­zu über­sicht­li­che Infor­ma- tio­nen an.26 Im beson­de­ren Maße fällt dabei auf, dass sich vie­le offi­zi­el­le Pro­gram­me expli­zit an unter­re­prä- sen­tier­te Min­der­hei­ten oder indi­ge­ne Bevöl­ke­rungs- grup­pen richten.27 Auch wird teil­wei­se, der erfolgreiche

schools#canadian-legal-ed. Bis Ende 2014 gab es noch zusätz­lich die Facul­ty of Law des Tri­ni­ty Wes­tern Col­leges, die aber als­bald auf­grund gesell­schaft­li­cher Kri­tik an ihrem Wer­te­ver­ständ­nis ge- schlos­sen wur­de (ver­tie­fend hier­zu MathenPlax­t­on, Legal Edu- cati­on, Reli­gious and Secu­lar: TWU and Bey­ond, WP 2014 — 6; Craig, The Case for the Fede­ra­ti­on of Law Socie­ties Rejec­ting Tri­ni­ty Wes­tern University’s Pro­po­sed Law Degree Pro­gram, Cana­di­an Jour­nal of Women and the Law, Vol. 25, No. 1, 2013, 148.

23 Law Socie­ty of Canada/Barreau de l‘Ontario, Con­vo­ca­ti­on, htt- ps://lso.ca/about-lso/convocation (letz­ter Zugriff 17.3.2023). 24 Deut­scher Aka­de­mi­scher Aus­tausch­dienst (DAAD), Studie-

ren und Leben in Kana­da, https://www.daad.de/de/laende- rin­for­ma­tio­nen­/a­me­ri­ka/­ka­na­da/­stu­die­ren-und-leben-in- kanada/#Unterkunft; Mer­cer, The cost of beco­ming a lawy­wer, in Slaw vom 26.2.2019, https://www.slaw.ca/2019/02/26/the-cost-of- beco­ming-a-lawy­er/ (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).

25 Vgl. etwa Mar­tin, Uni­ver­si­ty Legal Edu­ca­ti­on in Cana­da is Cor­rupt Bey­ond Repair, in Cana­di­an Jus­ti­ce Review Board, 25.9.2009.

26 Im All­ge­mei­nen bie­tet die kana­di­sche Bun­des­re­gie­rung auf ihrer ein­heit­li­chen Web­sei­te Canada.ca Infor­ma­tio­nen und Hin­wei­se zu nahe­zu allen Lebens­be­rei­chen an. Ver­tie­fend zu scho­lar­ships: https://www.canada.ca/en/services/benefits/education/student- aid/scholarships.html (let­zer Zugriff am 17.03.2022).

27 Für Onta­rio zum Bei­spiel: Bour­se pour les étu­di­an­tes et étu­di­ants auto­ch­to­nes, https://osap.gov.on.ca/OSAPPortal/fr/A‑ZListofAid/ PRDR019232.html (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).

Deutsch · Juris­ten­aus­bil­dung in Kana­da 1 2 1

122 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 119–126

Abschluss der law school von einer Per­son mit indi­ge­ner Abstam­mung mit einem Sti­pen­di­um in Höhe von 500 CAD (ca. EUR 340) in Que­bec belohnt.28

e) Aus­wahl­ver­fah­ren

Aspi­ran­ten auf ein Jura­stu­di­um sind zu Beginn angehal- ten sich zu ent­schei­den, ob sie im com­mon law oder im civil law prak­ti­zie­ren möch­ten. Im Hin­blick auf das for- male Aus­wahl­ver­fah­ren unter­schei­det sich der Bewer- bungs­pro­zess nur noch über die zuvor beschrie­be­nen Voraussetzungen.

Inner­halb des Aus­wahl­ver­fah­rens ach­ten man­che law schools auch auf den per­sön­li­chen Gesamt­ein­druck und etwa­ige Enga­ge­ments, wohin­ge­gen ande­re aka­de­mi­sche Leis­tun­gen in den Vor­der­grund stellen.29 Regel­mä­ßig wird zudem ein per­so­nal state­ment, also ein aka­de­mi- sches Moti­va­ti­ons­schrei­ben, ver­langt. Unter­re­prä­sen- tier­te indi­ge­ne Min­der­hei­ten sol­len zudem stets beson- ders berück­sich­tigt werden.30

2. Stu­di­um an den law schools

a) Aus­bil­dungs­in­hal­te

Die Regel­stu­di­en­zeit an den juris­ti­schen Fakul­tä­ten beträgt drei Jahre.31 Inner­halb des ers­ten Jah­res müs­sen Kur­se mit der Ein­füh­rung in die Rechts­kun­de (wohl ver- gleich­bar mit deut­schen Metho­dik­vor­le­sun­gen bzw. Grund­la­gen­vor­le­sun­gen), Kur­se zum öffent­li­chen Recht, Kur­se zum Ver­fas­sungs­recht, Kur­se zum Ver­trags­recht, Kur­se zum Straf­recht, Kur­se zum Eigen­tums­recht sowie Kur­se zum Delikts­recht belegt werden.32 In den fol­gen- den Jah­ren wer­den wis­sen­schaft­li­che und fach­prak­ti­sche Kur­se durch umfang­rei­che Haus­ar­bei­ten und in prak­ti- schen Übun­gen vertieft.33

  1. 28  Bar­reau Qué­bec, Bour­se étu­di­an­tes auto­ch­to­nes, https ://www. barreau.qc.ca/fr/ressources-avocats/devenir- avo­ca­t/­bour­se- etu­di­ants-auto­ch­to­nes/ (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  2. 29  Uni­ver­si­ty of Toron­to, Facul­ty of Law, So, You want to beco­me a lawy­er, https://www.law.utoronto.ca/getstarted (letz­ter Zugriff am 17.03.2023.
  3. 30  Uni­ver­si­ty of Cal­ga­ry, https://law.ucalgary.ca/how-to-apply (letz- ter Zugriff am 17.03.2023).
  4. 31  Mwen­da, Doc­to­ral Degree Pro­grams in Law. An Intern­tio­nal and Com­pa­ra­ti­ve Stu­dy of the Eng­lish-Spea­king World, 2022, 25.
  5. 32  Queen’s Uni­ver­si­ty King­s­ton, https://www.queensu.ca/aca- demic-calen­dar/­la­w/­de­gree-pro­grams/j­d/ (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  6. 33  Queen’s Uni­ver­si­ty King­s­ton, https://www.queensu.ca/aca- demic-calen­dar/­la­w/­de­gree-pro­grams/j­d/ (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  7. 34  Leckey, McGill Uni­ver­si­ty Mon­tré­al, Dean‘s Mes­sa­ge. Bien­ve­nue à la Facul­té de droit de l’Université McGill!, https://www.mcgill.ca/ law/b­cl-jd/­de­ans-mes­sa­ge (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  8. 35  Mwen­da, Doc­to­ral Degree Pro­grams in Law. An Intern­tio­nal and Com­pa­ra­ti­ve Stu­dy of the Eng­lish-Spea­king World, 2022, 49 f.;

b) Aus­bil­dungs­gra­de und Abschlüsse

In Qué­bec wird die law school regel­mä­ßig mit einem Civil Law Bache­lor, LL.B. oder B.C.L. abgeschlossen.34

Die com­mon law Fakul­tä­ten haben frü­her eben­falls noch einen Bache­lor­gradLL.B., ver­lie­hen. Mitt­ler­wei­le bie­ten sie ein­heit­lich nur noch Stu­di­en­gän­ge mit dem Abschluss­grad Juris Doc­tor (J.D.) an. Die­ser aka­de­mi- sche Grad darf jedoch nicht mit einem deut­schen Dok- tor­grad (Dr.) oder einem wis­senschschaft­li­chen Dok­tor- grad (Ph.D.) ver­wech­selt wer­den. Die Umstel­lung er- folg­te aus ver­schie­de­nen Grün­den. Einer­seits woll­te man die Unter­schie­de zwi­schen com­mon law-Abschlüs­sen und civil law-Abschlüs­sen her­vor­he­ben, ins­be­son­de­re umzukennzeichnen,dasscom­mon­law-Absol­ven­ten­be- reits ihren zwei­ten (Hochschul-)Abschluss erwor­ben ha- ben.35 Außer­dem soll dadurch die inter­na­tio­na­le Ver- gleich­bar­keit und Sicht­bar­keit gewähr­leis­tet wer­den. Ins­be­son­de­re in den USA wird der Juris Doc­tor (J.D.) be- reits seit Jahr­zehn­ten ver­ge­ben, daher erhofft man, dass die Abschlüs­se auch im US-Arbeits­markt aner­kannt werden.36 Der Dekan der York Uni­ver­si­ty Mona­han hat 2008 sei­ne Beden­ken dahin­ge­gend geäu­ßert, dass nicht jeder Rekrui­ter oder jede Anwalts­kanz­lei außer­halb Ka- nadas ver­steht, dass der kana­di­sche Abschluss eines com- mon law- Jura­stu­di­ums ein zwei­ter Hoch­schul­ab­schluss sei.37 Daher begrüß­te zumin­dest die Mehr­heit der Stu- die­ren­den an der York Uni­ver­si­ty und der Queens Uni- ver­si­ty auch die Ein­füh­rung des Juris Doc­tor (J.D.).38 Die Kana­di­sche Regie­rung geht hin­ge­gen davon aus, dass die aka­de­mi­schen Gra­de J.D. und LL.B bei­de ein „Bache­lors Degree“ und damit gleich­wer­tig sind.39

Man­che Uni­ver­si­tä­ten bie­ten zudem an, unter ver- schie­de­nen Vor­aus­set­zun­gen, Abschlüs­se in bei­den nati-

https://www.queensu.ca/academic-calendar/law/degree-pro-

grams/jd/ (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
36 Girard, Ame­ri­can Influen­ces, Cana­di­an Rea­li­ties. How ‘Ame­ri­can’

Is Cana­di­an Legal Edu­ca­ti­on, erschie­nen in Bar­tieSan­do­mier­ski,

Ame­ri­can Legal Edu­ca­ti­on Abroad, 2021, 67, 80.
37 Mona­han, Cana­di­an law schools begin swit­ching to JDs, York

Uni­ver­si­ty, 2008, https://yfile.news.yorku.ca/2008/04/03/ cana­di­an-law-schools-begin-swit­ching-to-jds/ (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).

38 https://lawiscool.com/2007/11/13/to-jd-or-not-to-jd/; Mona­han, Cana­di­an law schools begin swit­ching to JDs, York Uni­ver­si­ty, 2008, https://yfile.news.yorku.ca/2008/04/03/canadian-law- schools-begin-swit­ching-to-jds/ (letz­ter Zugriff am17.03.2023).

39 Coun­cil of Minis­ters of Education/Conseil des minis­ters de l’Éducation, Canda­da, Minis­te­ri­al State­ment on Qua­li­ty Assu- rance of Degree Edu­ca­ti­on in Cana­da, 2007, https://www.cmec. ca/­Pu­bli­ca­ti­ons­/­List­s/­Pu­bli­ca­ti­ons­/­At­tach­ment­s/95/­QA-Sta­te- ment-2007.en.pdf; so anders zum Bei­spiel in Aus­tra­li­en, wel­ches von einem Mas­ter-Grad aus­geht: Aus­tra­li­an Qua­li­fi­ca­ti­ons Frame­work Coun­cil. June 2013 (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).

ona­len Rechts­sys­te­men zu erwer­ben. Oft wird dies durch eine Koope­ra­ti­on zwei­er Fakul­tä­ten sicher­ge­stellt, durch die jeweils an der ande­ren Fakul­tät im beschleu­nig­ten Ver­fah­ren ein Abschluss erwor­ben wer­den kann.

Die Uni­ver­si­ty of Otta­wa, bie­tet außer­dem her­aus­ra- gen­den Kan­di­da­ten einen vor­kon­zi­pier­ten 3‑jährigen Dop­pel­ab­schluss an.40 Ande­rer­seits gibt es auch Fakul­tä- ten, die Koope­ra­ti­ons­pro­gram­me mit US-ame­ri­ka­ni- schen Uni­ver­si­tä­ten unter­hal­ten und dadurch einen in- ter­na­tio­na­len Dop­pel­ab­schluss ermöglichen.41

3. Migra­ti­on in das kana­di­sche Rechtssystem

Wie gezeigt, ist es sehr auf­wen­dig ein Jura­stu­di­um in Kana­da zu absol­vie­ren. Daher scheint es auch unter kana­di­schen Juris­ten nicht unüb­lich zu sein, sich außer- halb von Kana­da aus­bil­den zu las­sen und anschlie­ßend in Kana­da beruf­lich tätig zu werden.42

Für inter­na­tio­na­le Inter­es­sen­ten gilt, dass die Migra- tion in das kana­di­sche Rechts­sys­tem sowohl den berufs- recht­li­chen Rege­lun­gen, als auch den auf­ent­halts­recht­li- chen Bestim­mun­gen unter­liegt. Für Letz­te­res bestimmt sich die Geneh­mi­gungs­fä­hig­keit nach der Natio­nal Oc- cup­tio­nal Clas­si­fi­ca­ti­on (NOC), hier ins­be­son­de­re nach NOC 4112 (Lawy­ers and Que­bec nota­ries), die ein­zel­e­ne Berufs­grup­pen enu­me­ra­tiv aufzählt.43 Wei­ter­hin gibt es ver­schie­de­ne Pro­gram­me, wie das Pro­vin­cial Nomi­nee Pro­gram (PNP) oder das Express Ent­ry Sys­tem, die eine Migra­ti­on in das kana­di­sche Rechts­sys­tem ermög­li­chen können.44

Die Akkre­di­tie­rung einer aus­län­disch erwor­be­nen juris­ti­schen Qua­li­fi­ka­ti­on über­nimmt dabei das Natio- nal Com­mi­tee on Accre­di­ta­ti­on (NCA).45 Ins­be­son­de­re hin­sicht­lich ein­schlä­gi­ger Aus­bil­dun­gen an britischen

  1. 40  Uni­ver­si­ty of Otta­wa, https://www.uottawa.ca/faculty-law/ com­mon-law/­pro­grams/jd-natio­nal-pro­gram (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  2. 41  Uni­ver­si­ty of Otta­wa, https://www.uottawa.ca/faculty-law/com- mon-law/­pro­grams/­com­bi­ned-pro­grams/­ca­na­di­an-ame­ri­can- dual-jd-pro­gram (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  3. 42  So Hamil­ton, The Distic­ti­ve Natu­re of Aca­de­mic Inte­gri­ty in Gra­dua­te Legal Edu­ca­ti­on, in EatonHug­hes (Hrsg.), Aca­de­mic Inte­gri­ty in Cana­da. An endu­ring an essen­ti­al chall­enge, 2022, 333, 339.
  4. 43  NOC 4112, https://www23.statcan.gc.ca/imdb/p3VD.pl?CLV=4 &CPV=4112&CST=01012011&CVD=122376&Function=getV D&MLV=4&TVD=122372: Govern­ment of Cana­da/­Gou­ver­ne- ment du Cana­da, Immi­gra­te Canada,https://www.canada.ca/en/ immi­gra­ti­on-refu­gees-citi­zen­ship­/­ser­vice­s/im­mi­gra­te-cana­da/ express-entry/eligibility/find-national-occupation-code.html (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  5. 44  Ven­tor, How to immi­gra­te to Cana­da as a Lawy­er, https://canadi- anvisa.org/blog/jobs/immigrate-to-canada-as-a-lawyer, 14.6.2019 (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  6. 45  Als Teil der Fede­ra­ti­on of Law Socie­ties of Cana­da, https://nca.le-

Fakul­tä­ten erscheint dies wohl auch unter kana­di­schen Ein­hei­mi­schen popu­lär und unpro­ble­ma­tisch, wohin­ge- gen deut­sche Abschlüs­se wohl schwer­lich als gleich­wer- tig aner­kannt werden.46

4. Zulas­sung zur Berufspraxis

Mit erfolg­rei­chem Abschluss einer kana­di­schen law school kann man die Zulas­sung zu einer Rechts­an­walts- kam­mer, also einer bar oder in Qué­bec dem bar­reau, erwir­ken (Bar Admis­si­on Cour­se).

a) Expe­ren­ti­al Training

Alle Aus­bil­dungs­ord­nun­gen sehen dazu eine Art Rechts- refe­ren­da­ri­at, im Sin­ne einer obli­ga­to­ri­schen Prak­ti- kums­zeit vor.

aa) Articling Program

Gemein­hin wird im ang­lo-ame­ri­ka­ni­schen Rechts­ver- ständ­nis ein Refe­ren­da­ri­at regel­mä­ßig als clerk­ship bezeich­net. In Kana­da wer­den aller­dings zwei Arten von clerk­ships unter­schie­den:

Einer­seits das law oder legal clerk­ship, wel­ches wohl mit der wis­sen­schaft­li­chen Mit­ar­beit an deut­schen Bun- des­ge­rich­ten ver­glei­chen wer­den kann,47 ande­rer­seits die soge­nann­ten articling clerkships,48 die von der jewei­li­gen bar/barreau vor­aus­ge­setzt wer­den, um zur Anwalt­schaft zuge­las­sen zu werden.49

Ähn­lich wie in Deutschland50 steht auch in Kana­da der Gedan­ke einer prak­ti­schen Aus­bil­dung nach dem wis­sen­schaft­li­chen Hoch­schul­stu­di­um im Vor­der­grund. Die Ein­zel­hei­ten der Aus­ge­stal­tung oblie­gen der jewei­li- gen bar/barreau einer Pro­vinz oder eines Ter­ri­to­ri­ums. So ver­langt die bar in Onta­rio ein clerk­ship von 10 Mona-

gal/; Im All­ge­mei­nen hier­zu: Aner­ken­nung deut­scher Stu­di­en­ab- schlüs­se und ande­rer Qua­li­fi­ka­tio­nen in Kana­da, https://canada. diplo.de/ca-de/konsularservice/anerkennung-ausbildung-in-ka nada/1148060?openAccordionId=item-1143138–0‑panel (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).

46 Law Socie­ty of Ontario/Barreau de l’Ontario, https://lso.ca/ lawy­er­s/­la­wy­ers-from-out­side-onta­rio; Kiwi Edu­ca­ti­on, How to beco­me a lawy­er in Cana­da, 1.3.2022, https://kiwieducation.com/ ca/­li­fe­hack/how-to-beco­me-a-lawy­er-in-cana­da/ (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).

47 Fede­ral Court/Cour fédé­ra­le, Law Clerk Pro­gram, https://www. fct-cf.gc.ca/en/pages/about-the-court/careers/law-clerk-program (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).

48 In man­chen Pro­vin­zen, wie Sas­kat­che­wan, hei­ßen die Refe­ren­da- re dage­gen auch stu­dent at law.

49 Bow­kerChris­ti­an, Legal Edu­ca­ti­on, in The Cana­di­an Ency­clo- pedia, https://www.thecanadianencyclopedia.ca/en/article/legal- edu­ca­ti­on, 5.2.2012/4.3.2015 (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).

50 Vgl. zum Bei­spiel § 45 II 2 JAPrO BW, dass das Refe­ren­da­ri­at zuvor­derst der Aus­bil­dung dient.

Deutsch · Juris­ten­aus­bil­dung in Kana­da 1 2 3

124 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 119–126

ten unter Auf­sicht eines anlei­ten­den prak­ti­zie­ren­den Rechts­an­walts. In Bri­tish Colum­bia sind es 12 Mona­te von denen 9 Mona­te in einer Anwalts­kanz­lei oder einer ver­gleich­ba­ren Stel­le ver­bracht wer­den sol­len. Zugleich muss hier ein 10-wöchi­ger Pro­fes­sio­nal Legal Trai­ning Cour­se belegt wer­den, um Rechts­pra­xis und ‑ver­fah­ren, juris­ti­sche Fähig­kei­ten, Ethik und Pra­xis­ma­nage­ment zu erlenen.

Von den clerks zu unter­schie­den sind schließ­lich so- genann­te para­le­gals. Die­se haben einen eige­nen Aus­bil- dungs­weg und kön­nen wohl am ehes­ten mit deut­schen Rechts­an­walts­fach­an­ge­stell­ten oder Rechts­pfle­gern ver- gli­chen werden.51

bb) Law Prac­ti­ce Program

In man­chen Pro­vin­zen, wie zum Bei­spiel in Onta­rio, besteht aller­dings auch die Mög­lich­keit anstatt des artic- ling clerk­ships an einem Law Prac­ti­ce Pro­gram für 4 Mona­te teil­zu­neh­men. Hier wird in einer Trai­nings­um- gebung der All­tag eines Anwalts­teams simu­liert und dadurch trai­niert. Die erwor­be­nen Erfah­run­gen sol­len in einem anschlie­ßen­den 4‑monatigen Prak­ti­kum ver- tieft werden.52

cc) For­ma­ti­on pro­fes­sio­nel­le et pratique

Im civil law gepräg­ten Qué­bec ist dage­gen zunächst eine prak­ti­sche Aus­bil­dung an der L’École du Bar­reau in einem der vier Aus­bil­dungs­zen­tren in Qué­bec vor­ge­se- hen.53 An der Éco­le du Bar­reau sol­len den Stu­den­ten in einem 4‑monatigen Kurs beruf­li­che Fer­tig­kei­ten beige- bracht wer­den. Ins­be­son­de­re wer­den sie mit den berufs- ethi­schen Regeln ver­traut gemacht, ler­nen Schrift­sät­ze zu ver­fas­sen, Ver­hand­lun­gen zu füh­ren, ein Plä­doy­er zu hal­ten und eine Kanz­lei zu verwalten.54 Dar­auf­hin folgt eine 6‑monatige prak­ti­sche Aus­bil­dung, zum Bei­spiel in einer Anwaltskanzlei.

  1. 51  Law Socie­ty of Canada/Barreau de l‘Ontario, Para­le­gals, https:// lso.ca/paralegals (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  2. 52  Toron­to Metro­po­li­tan Uni­ver­si­ty, Law Prac­ti­ce Pro­gram, https:// lpp.torontomu.ca/ (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  3. 53  Bar­reau du Qué­bec, Res­sour­ces pour les avo­cats. Deve­nir avoat, https://www.barreau.qc.ca/fr/ressources- avo­cats/­de­ve­nir-avo­ca­t/ (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  4. 54  Bar­reau du Qué­bec, Res­sour­ces pour les avo­cats. Deve­nir avoat, https://www.barreau.qc.ca/fr/ressources- avo­cats/­de­ve­nir-avo­ca­t/, Zum neu­en Schul­jahr hin, wird das Cur­ri­cu­lum ange­passt, um dem Bedürf­nis, den Aus­zu­bil­de­nen mehr prak­ti­sche Erfah­run­gen zu ver­mit­teln, bes­ser gerecht zu wer­den, Éco­le du Bar­reau, Le nou­veau pro­gram­me de l’école – entrée en vigueur en 2023–2024, https://www.ecoledubarreau.qc.ca/fr/formation/nouveau-pro- gramme/ (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
  5. 55  „Call to the bar”, https://lso.ca/becoming-licensed/lawyer-licen- sing-pro­ces­s/­call-to-the-bar (letz­ter Zugriff am 17.03.2022).
  6. 56  Law Socie­ty Act, R.S.O. 1990, c. L.8, https://www.ontario.ca/laws/statute/90l08; Law Socie­ty of Canada/Barreau de l‘Ontario,

b) Bar Exam

Ein wesent­li­cher Bestand­teil für die Zulas­sung zu einer bar ist das abschlie­ßen­de bar exam. Bestrei­ten die Anwär­ter die­ses erfolg­reich, wer­den sie „zur Bar beru- fen“.55

Anders als in der bri­ti­schen Juris­ten­aus­bil­dung müs- sen sich Anwär­ter in Kana­da sowohl dem Bar­ris­ter- als auch dem Soli­ci­tor-Examen stellen.56 Die Durch­füh­rung ist dabei wie­der­um in den Ein­zel­nen Pro­vin­zen unter- schied­lich, teil­wei­se sogar gegen­sätz­lich, gere­gelt. In Onta­rio sind bei­spiels­wei­se die Prü­fun­gen unter Selbst- auf­sicht und als soge­nann­te open-book exams durch­zu- führen,57 wäh­rend in Nova Sco­tia eine Prä­senz­prü­fung vor­ge­se­hen ist.58 Zeit­lich sind auch ver­schie­de­ne Rege- lun­gen vor­ge­se­hen. In Onta­rio sind die Prü­fun­gen zum Bei­spiel auf 7 Stun­den konzipiert.59

Das bar exam soll ein­heit­lich in allen Pro­vin­zen und Ter­ri­to­ri­en nicht nur das fach­li­che Wis­sen, son­dern auch die mora­li­sche Inte­gri­tät und ein pro­fun­des All­ge- mein­wis­sen prüfen.60 Kon­kret wer­den ver­schie­de­ne Prü­fungs­fä­cher, wie ethi­sche und beruf­li­che Pflich­ten; Rechts­kennt­nis­se (also Gesetz­ge­bung und Rechtsp­re- chung); Auf­bau und Pfle­ge der Bezie­hung zwi­schen An- walt und Man­dant; Iden­ti­fi­zie­rung, Ana­ly­se und Bewer- tung von Pro­ble­men, alter­na­ti­ve Streit­bei­le­gung, Pro- zess­füh­rung, Pra­xis­ma­nage­ment, Zivil­pro­zess­recht, Straf­ver­fah­ren, Fami­li­en­recht, Han­dels­recht, Gesell- schafts­recht, Erbrecht, Immo­bi­li­en­recht geprüft. In man­chen Ter­ri­to­ri­en, wie Nova Sco­tia wird zudem auch im Recht indi­ge­ner Stäm­me geprüft.61

c) Good cha­rac­ter requirements

Alle Zulas­sungs­an­wär­ter müs­sen zudem good cha­rac­ter requi­re­ments ent­spre­chen. In Onta­rio wird dies durch einen umfang­rei­chen Selbst­fra­ge­bo­gen und einen

Licen­sing Exami­na­ti­ons, https://lso.ca/becoming-licensed/ lawy­er-licen­sing-pro­ces­s/­li­cen­sing-exami­na­ti­ons (letz­ter Zugriff am 17.03.2023); vgl. Häcker, JuS 2014, 872, 873.

57 Law Socie­ty of Canada/Barreau de l‘Ontario, Licen­sing Exami­na- tions, https://lso.ca/becoming-licensed/lawyer-licensing-process/ licen­sing-exami­na­ti­ons (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).

58 Wiley, Steps to beco­me a Lawyer/Attorney in Cana­di­an Pro­vin­ces /Territories, https://www.lawyeredu.org/canada/ (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).

59 Wiley, Steps to beco­me a Lawyer/Attorney in Cana­di­an Pro­vin­ces / Ter­ri­to­ries, https://www.lawyeredu.org/canada/ (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).

60 Vgl. Law Socie­ty Ontario/Barreau de l’Ontario, Sam­ple Licen­sing Exami­na­ti­on Ques­ti­ons, https://lso.ca/becoming-licensed/lawyer- licen­sing-pro­ces­s/­li­cen­sing-exami­na­ti­ons (letz­ter Zugriff am 17.3.2023).

61 Nova Sco­tia Bar­rist­ers’ Socie­ty, Bar review mate­ri­als, https://nsbs. org/­le­gal-pro­fes­si­on/ar­tic­led-clerks/­bar-exam/ (letz­ter Zugriff am 17.3.2023).

review pro­cess nach dem Law Socie­ty Act, Sta­tu­te 90/8 sichergestellt.62

Einen guten Cha­rak­ter zu haben zeich­net dabei die Eig­nung für die Pra­xis, die Ach­tung der Rechts­staat­lich- keit und der Rechts­pfle­ge, Ehr­lich­keit und finan­zi­el­le Ver­ant­wor­tung aus.63 Ver­gleich­ba­re Zulas­sungs­vor- schrif­ten, die auch die Wür­dig­keit eines Bewer­bers erfor- dern, fin­den sich auch in Deutsch­land zum Bei­spiel in § 7 S. 1 Nr. 5 Bun­des­rechts­an­walts­ord­nung (BRAO) oder § 5 II 1, IV Juris­ten­aus­bil­dungs­ge­setz BW (JAG BW) res- pek­ti­ve § 26 I 2 Juris­ten­aus­bil­dungs­ge­setz Hes­sen (JAG HE).

III. Berufs­ein­stieg

Die Rechts­an­walt­schaft ist auch in Kana­da der pri­mä­re Ein­stiegs­be­ruf von Nach­wuchs­ju­ris­ten. Anders als in Groß­bri­tan­ni­en müs­sen in Kana­da dabei sowohl das Bar­ris­ter- als auch Soli­ci­ter-Examen absol­viert wer­den. Hin­rei­chend für eine Zulas­sung zur bar ist damit auch das bar exam.64 Das Prak­ti­zie­ren in ande­ren Pro­vin­zen ist, mit abwei­chen­den Rege­lun­gen für die Ter­ri­to­ri­en, durch das Ter­ri­to­ri­al Mobi­li­ty Agree­ment von 2011 ermög­licht worden.65

Ent­spre­chend dem bri­ti­schen Vor­bild ist die kana­di- sche Rich­ter­schaft auch kei­ne eige­ne Berufs­rich­ter­schaft, also auch kein eige­ner Berufs­weg, son­dern krönt den er- folg­rei­chen Wer­de­gang vom Anwalt zum Richter.66 In Onta­rio ist zum Bei­spiel eine Min­dest­lauf­bahn von 5 Jah­ren erfor­der­lich. An höhe­ren Instanz­ge­rich­ten sind regel­mä­ßig min­des­tens 10 Jah­re Berufserfahrung

  1. 62  Law Socie­ty Ontario/Barreau de l’Ontario, Good Cha­rac­ter Requi­re­ment, https://lso.ca/becoming- licen­se­d/­pa­ra­le­gal- licen­sing-pro­ces­s/­good-cha­rac­ter-requi­re­ment (letz­ter Zugriff am 17.3.2023).
  2. 63  Umfasst ist auch ein etwa­iges aka­de­mi­sches Fehl­ver­hal­ten, s. hier- zu mwN Hamil­ton, The Distic­ti­ve Natu­re of Aca­de­mic Inte­gri­ty in Gra­dua­te Legal Edu­ca­ti­on, in EatonHug­hes (Hrsg.), Aca­de­mic Inte­gri­ty in Cana­da. An endu­ring an essen­ti­al chall­enge, 2022, 333, 339 f.
  3. 64  Uni­ver­si­ty of Water­loo, https://uwaterloo.ca/future-students/ miss­ing-manu­al/­care­er­s/how-beco­me-lawy­er- cana­da (letz­ter Zugriff am 17.3.2023).
  4. 65  Fede­ra­ti­on of Law Socie­ties of Canada/Féderation des orders pro­fes­si­on­nels de juris­tes du Cana­da, Ter­ri­to­ri­al Mobi­li­ty Ag- ree­ment, https://www.lawsociety.nu.ca/sites/default/files/public/ TMA%202011.pdf (letz­ter Zugriff am 17.3.2023).
  5. 66  Daher auch der geflü­gel­te Aus­druck, dass man von der bar auf die bench wech­selt. Vgl. dazu Häcker, JuS 2014, 872, 873.
  6. 67  Govern­ment of Onta­rio, Jud­ges NOC 4111, https://www.services. labour.gov.on.ca/labourmarket/jobProfile/jobProfileFullView.

vorgesehen.67
Auch ein Ein­stieg als Staats­an­walt, crown att­or­ney, ist

nach dem bar exam mög­lich. Auf­grund begrenz­ter Platz- ange­bo­te sind Vor­er­fah­run­gen im Rah­men des articling pro­grams oder her­aus­ra­gen­de aka­de­mi­sche Leis­tun­gen an der law school für einen Berufs­ein­stieg hilfreich.68

Mög­lich ist auch eine wis­sen­schaft­li­che Kar­rie­re. Im All­ge­mei­nen wird in die­sen Fäl­len die aka­de­mi­sche Aus- bil­dung an der Uni­ver­si­tät fort­ge­setzt und unter ande- rem mit einem Mas­ter of Laws, LL.M.69 oder einem re- search doc­to­ra­te degree, Doc­tor of Juri­di­cal Sci­en­ces (SJD/ JSD) abgeschlossen.70 Zu beach­ten gilt, dass Dok­tor­gra­de im ang­lo-ame­ri­ka­ni­schen Rechts­raum unter­schied­li­che Bedeu­tun­gen haben. Eine Ver­gleich­bar­keit mit dem Er- werb eines deut­schen Dok­tor­gra­des (Dr.) oder einem ang­lo-ame­ri­ka­ni­schen wis­sen­schaft­li­chen Dok­tor­gra­des (Ph.D.) ist damit nicht immer mög­lich. Bereits für den Abschluss an der law school wird oft ein Juris Doc­tor, J.D., also ein aka­de­mi­scher Grad ver­lie­hen. Auf­bau­en­de Reser­ach pro­grams kön­nen hin­ge­gen mit einem wis­sen- schaft­li­chem Dok­tor­grad (SJD/JSD oder Ph.D.) oder ei- nem kon­se­ku­ti­ven Mas­ter (LL.M) abschlie­ßen.

IV. Erkennt­nis­se

Die Beschäf­ti­gung mit dem kana­di­schen Rechts­sys­tem und der kana­di­schen Rechts­aus­bil­dung füh­ren zu eini- gen Erkennt­nis­sen. Dabei darf aller­dings, wie Rey­don zurecht mahnt, nicht der Feh­ler unter­lau­fen, dass aus- län­di­sche Fach­ter­mi­ni mit deut­schen Begrif­fen inhalt- lich gleich­ge­setzt werden.

xhtml?nocCode=4111#educati onAnd­Trai­ning­Pa­thwaysSec­tion; Work­stu­dy­vi­sa, 5 Steps to beco­me a judge in Cana­da, https:// workstudyvisa.com/become-a-judge-in-canada/ (letz­ter Zugriff am 17.3.2023).

68 Ben­din, Crown Att­or­ney, 5.6.2014, https://www.thecanadia- nencyclopedia.ca/en/article/crown-attorney; How to Beco­me a Pro­se­cu­tor (With Duties and Skills), https://ca.indeed.com/care- er-advice­/­fin­ding-a-job­/how-to-beco­me- pro­se­cu­tor, 28.11.2022 (letz­ter Zugriff am 17.3.2023).

69 Im Über­blick für deut­sche Absol­ven­ten, Greif, LL.M. in Ka- nada – Die Alter­na­ti­ve zu den USA, Anwalts­blatt 30.6.2020, https://anwaltsblatt.anwaltverein.de/de/studium-und-referen- daria­t/l­l‑m/­de­tail­s/ll-m-in-kana­da-die- alter­na­ti­ve-zu-den- usa#collapse_326826; e‑fellows.net, Stu­die­ren in Kana­da. Stu­di- um mit Natur­er­fah­rung garan­tiert, https://www.e‑fellows.net/ Stu­di­um/­Stu­di­en­wis­sen/Aus­lands­stu­di­um/­Stu­die­ren-in-Kana­da/ (page)/all (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).

70 Vgl. hier­zu ver­tie­fend Mwen­da, Doc­to­ral Degree Pro­grams in Law. An Intern­tio­nal and Com­pa­ra­ti­ve Stu­dy of the Eng­lish- Spea­king World, 2022, 50.

Deutsch · Juris­ten­aus­bil­dung in Kana­da 1 2 5

126 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 119–126

71

72

73 74

75

• •

Das Erfor­der­nis eines under­gra­dua­te degree gleicht dem Sinn und Zweck nach einem obli­ga­to­ri­schem Stu­di­um Generale.71
Durch den LSAT wer­den berufs­spe­zi­fi­sche Fähig- kei­ten in den Vor­der­grund der Aus­wahl gestellt. Dies könn­te auch eine Alter­na­ti­ve zum in Deutsch- land weit­hin ange­wand­ten Nume­rus Clau­sus sein.72 Das Bar Exam in Onta­rio prüft nicht nur das fach­li- che Wis­sen, son­dern will auch hin­sicht­lich der mora­li­schen Inte­gri­tät tes­ten und einen beson­de­ren Stand an All­ge­mein­wis­sen sichern.73 Wenn­gleich All­ge­mein­wis­sen wohl schwer­lich zu prü­fen ist, soll damit der Kan­di­dat umfas­send auf die Berufs­rei­fe geprüft werden.

Hin­sicht­lich der Pro­ble­me um die Ein- und Durch- füh­rung von Open-book-Prü­fun­gen in Deutsch­land könn­te das bar exam in Onta­rio wei­ter unter­sucht werden.74

Der Umgang mit per­sön­li­chem oder wis­sen­schaft­li- chem Fehl­ver­hal­ten, das auch hin­n­rei­chen­de Zulas- sungs­vor­aus­set­zung zum Refe­ren­da­ri­at in Deutsch- land ist, könn­ten die Erfah­run­gen mit den good cha- rac­ter requi­re­ments und ins­be­son­de­re den good cha­rac­ter hea­rings, in denen auch aka­de­mi­sches Fehl­ver­hal­ten erör­tert und ent­schie­den wird, berück­sich­tigt werden.75 Ins­be­son­de­re die Dis­kus­si- on über den Umgang mit poli­ti­schem Extre­mis­mus bei der Ein­stel­lung von Rechts­re­fe­ren­da­ren ver­deut- licht, dass eine trag­fä­hi­ge Lösung deutsch­land­ein- heit­lich gefun­den wer­den muss.76

Auch Lebens­er­fah­rung kann eine Aus­le­gungs­hil­fe sein und da-
durch die juris­ti­sche Arbeit erleich­tern. Vgl. auch Paw­lik, Wel­che 76 Chan­cen ein Stu­di­um gene­ra­le bie­tet, 23.1.2015, https://www. abendblatt.de/wirtschaft/karriere/article136677511/Welche- Chan­cen-ein-Stu­di­um-gene­ra­le- bietet.html (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
Vgl. für die Ein­füh­rung eines Medi­zi­ner­tests: BrehmBrehm-
Kai­ser, 
Die Beschlüs­se zur Zulas­sung zum Medi­zin­stu­di­um im Rah­men des Mas­ter­plans Medi­zin 2020, OdW 2017, 215, 216.
Vgl. Law Socie­ty Ontario/Barreau de l’Ontario, Sam­ple Licen­sing Exami­na­ti­on Ques­ti­ons (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
Vgl. hier­zu in Deutsch­land: Mor­gen­roth, Die Behand­lung eines 77 Täu­schungs­ver­dachts in Zei­ten von Open-book-Prü­fun­gen –
Eine Ana­ly­se des Beschlus­ses des Säch­si­schen Ober­ver­wal­tungs- gerichts vom 16. Febru­ar 2022, OdW 2022, 273. 78 Hamil­ton, The Distic­ti­ve Natu­re of Aca­de­mic Inte­gri­ty in
Gra­dua­te Legal Edu­ca­ti­on, in EatonHug­hes (Hrsg.), Aca­de-
mic Inte­gri­ty in Cana­da. An endu­ring an essen­ti­al challenge,

Kana­di­sche und US-Ame­ri­ka­ni­sche law schools ver- geben auf­grund des Erfor­der­nis­ses eines under­gra- dua­te degree, zur Aner­ken­nung der auf­bau­en­den Stu­di­en­leis­tun­gen einen Juris-Doc­tor, J.D. Ori­en­tiert man sich bei Refor­men der deut­schen Juris­ten­aus- bil­dung am Nord­ame­ri­ka­ni­schen Sys­tem, so wür­de es sich auch für Deutsch­land emp­feh­len, die juris­ti- sche Aus­bil­dung auch auf ein Grund­stu­di­um zu begren­zen (im Sin­ne eines First Years77) und auf die- sen Bache­lor­stu­di­en­gang auf­bau­end einen kon­se­ku- tiven Staats­examens­stu­di­en­gang anzu­bie­ten. Ein mög­li­cher Jura-Bache­lor soll­te dann sinn­vol­ler­wei­se so auf­ge­baut und inhalt­lich umfas­send gestal­tet sein, dass er auch als under­gra­dua­te degree aner- kannt wird, damit eine Juris­ten­aus­bil­dung auch im ang­lo-ame­ri­ka­ni­schen Rechts­raum mög­lich wird. So könn­te auch eine Diver­si­tät von Kar­rie­re­we­gen, wie sie von Befür­wor­tern des stu­di­en­in­te­grier­ten Bache­lors in des­sen Ein­füh­rung gese­hen wird, erreicht werden.78 Frei­lich müss­te dann aber mit einer län­ge­ren Aus­bil­dungs­dau­er und einer Erwei- terung des Prü­fungs­stoffs gerech­net werden.

Johan­nes M. Deutsch ist wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei- ter an der For­schungs­stel­le für Hoch­schul­ar­beits­recht an der Uni­ver­si­tät Frei­burg. Mit die­sem Auf­satz erin- nert der Autor an sei­nen eige­nen Auf­ent­halt in Kana- da und dankt ins­be­son­de­re für die viel­fäl­ti­gen und berei­chern­den Dis­kus­sio­nen an der Uni­ver­si­ty of Water­loo und im Water­loo Regi­on Court­house in Kit- chener.

2022, 333, 339 f.
Ver­tie­fend zur Ein­stel­lung eines Funk­tio­närs des III. Wegs: Dey­da, Nazis im Staats­dienst? Diver­gie­ren­de Recht­spre­chungs­li- nien zum Aus­schluss aus dem juris­ti­schen Vor­be­rei­tungs­dienst, Ver­fas­sungs­blog vom 4.1.2022, https://verfassungsblog.de/ nazis-im-staats­diens­t/; Sehl, Jura-Refe­ren­dar in Sach­sen. „Der III. Weg“-Aktivist darf Voll­ju­rist wer­den, LTO vom 8.12.2021, https://www.lto.de/karriere/jura-referendariat/stories/detail/ verfgh- sach­sen-96-iv-21-refe­ren­dar-iii-weg-akti­vist-recht­sex- trem-par­tei-jura-aus­bil­dung-refe­ren­da­ri­at (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
Ana­log zur Queen’s Uni­ver­si­ty, https://www.queensu.ca/ aca­de­mic-calen­dar/­la­w/­de­gree-pro­grams/j­d/ (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).
Vgl. u.a. Schim­mel, Der „Loser-Bache­lor“. War­um die Debat­te uns Juris­ten scha­det, in LTO, https://www.lto.de/karriere/jura- stu­di­um/s­to­ries/­de­tail­/­lo­ser-bache­lor-debat­te-scha­det-uns-juris- ten, 8.7.2022 (letz­ter Zugriff am 17.03.2023).

Die Absicht einer mög­lichst guten Aus­bil­dung der Jugend ist vor­nehm­lich auf zwei Din­ge zu rich­ten: (1) auf die noch in den Schu­len sich befin­den­de Jugend, (2) auf die bereits zu Char­gen und Bedienungen2 tüch­ti­gen Per- sonen.

Beim ers­ten Punkt ist bekannt, was für ein gro­ßer Miss­brauch bei dem Stu­die­ren vor­geht. Ein Jeder, der nur etwas Mit­tel hat, will sei­ne Kin­der stu­die­ren las­sen; der Sohn ist gewid­met, künf­tig einen Geist­li­chen, einen Advo­ka­ten oder einen Medi­zi­ner abzu­ge­ben, obgleich der­sel­be den Qua­li­tä­ten nach bes­ser zu einem Hand- werk, zum Acker­bau oder zum Pfer­de­knecht geschickt ist. Daher geschieht es, dass vie­le in ihren Stu­di­en kei­nen Fort­schritt machen, zu kei­nen Bedie­nun­gen zu gebrau- chen, also dem Vater­land zur Last sind, in Armut gera­ten und den Eltern ver­geb­li­che Kos­ten ver­ur­sa­chen. Man kann zwar die­se Frei­heit nie­man­dem ver­sa­gen, es wäre aber sehr dien­lich, den Rek­to­ren und den Leh­rern der gro­ßen und klei­nen Schu­len über­all scharf zu befeh­len, dass sie unter dem gro­ßen Hau­fen der stu­die­ren­den Ju- gend die­je­ni­gen, die sich vor Ande­ren her­vor­he­ben, sich durch ihr Gedächt­nis und ihren Ver­stand unter­schei­den … der Obrig­keit jeg­li­chen Ortes zu mel­den. Dabei sol­len sie allen Fleiß auf Infor­ma­tio­nen ver­wen­den, wozu die-

sel­ben am ehes­ten hin­stre­ben und sie nicht zu sol­chen Wis­sen­schaf­ten füh­ren, zu denen sie kei­ne Lust haben. Denn in den Schu­len ist es ein gro­ßer Feh­ler, dass man Alle auf glei­che Art trak­tiert, und zuwei­len einen jun­gen Men­schen, der einen natür­li­chen Trieb zur Mathe­ma­tik oder zu ande­ren Wis­sen­schaf­ten hat, mit Gewalt … mit der grie­chi­schen Spra­che oder ihm kon­trä­ren Din­gen plagt.

Die vor­treff­li­chen Ingenia3 könn­ten den ört­li­chen Behör­den oder gewis­sen hier­mit beauf­trag­ten Per­so­nen gemel­det wer­den, damit man Sor­ge tra­gen kann, denen (falls sie selbst kei­ne Mit­tel haben) zu Hil­fe zu kom­men, sie zu ermun­tern und in allem för­der­lich zu sein. Von die­sen soll­ten auch bil­lig die Stif­tun­gen, Stipendien4 und ande­ren Wohl­ta­ten fest­ge­legt und kei­nes­falls den Un- wür­di­gen, aus Gunst oder auf beson­de­re Weisung,5 zu- gewen­det wer­den. Und wenn die Stif­tun­gen nicht aus­rei- chen, müss­te eine pro­por­tio­nier­te Bei­hil­fe ex cas­sa pub- lica6 gereicht wer­den, damit ein guter Baum die ge- wünsch­ten Früch­te tra­gen kann. Die­se wür­den nicht viel kos­ten, weil sich außer­or­dent­li­che Inge­nia so häu­fig sich nicht fin­den. Die Unfä­hi­gen, zum Stu­die­ren nicht Tüch- tigen könn­ten abge­wie­sen und ihren Eltern … zurück­ge- schickt werden.

1 Aus Johann Hein­rich Gott­lob Jus­ti, Deut­sche Memoi­res, oder Samm­lung ver­schie­de­ner Anmer­kun­gen, die Staats­klug­heit,
das Kriegs­we­sen, die Jus­tiz, Mora­le, Oeco­no­mie, Com­mer­ci- um, Cam­mer- und Poli­zey- auch ande­re merk­wür­di­ge Sachen betref­fend, wel­che im mensch­li­chen Leben vor­kom­men, Leip­zig 1741, S. 543 f. Der Text aus dem Erst­lings­werk des sei­ner Zeit ein- fluss­rei­chen Staats­wis­sen­schaft­lers und Kame­ra­lis­ten ist zwecks

bes­se­rer Les­bar­keit sprach­lich über­ar­bei­tet.
2 Alter­tüm­lich für beruf­li­che Arbeit.
3 Alter­tüm­lich für Bega­bun­gen.
4 Zu Sti­pen­di­en sie­he Heft 1/2023 unter Aus­ge­gra­ben. 5 Jus­ti ver­wen­det hier den Begriff der „Inter­ces­si­on“. 6 Aus dem öffent­li­chen Haushalt.

Johann Hein­rich Gott­lob Justi

Über die stu­die­ren­de Jugend1

Ord­nung der Wis­sen­schaft 2023, ISSN 2197–9197

128 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 127–128