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Sarah Rach­ut Ralf P. Schenke

Ulrich Rom­mel­fan­ger

Samu­el Weitz

Recht ohne Wirk­lich­keit? Ein rechts­wis­sen- schaft­li­cher Aus­blick ins Jahr 2035 191–208

Pro­mo­ti­on und Wis­sen­schafts­pla­gia­te: Eine Bestands­auf­nah­me im Rege­lungs­ver­bund zwi- schen Lan­des­ge­setz­ge­bung, Hoch­schu­len und Rich­ter­recht 209–220

Von der Guten Wis­sen­schaft zum wis­sen- schaft­li­chen Fehl­ver­hal­ten 221–224

Die neue Hes­si­sche Hoch­schu­le für öffent- liches Manage­ment und Sicher­heit: Hoch- schul­or­ga­ni­sa­ti­on sui gene­ris – auf Kos­ten der Wis­sen­schafts­frei­heit 225–234

Karo­li­ne Haake

Mai­ke Reimer

Prü­fun­gen im digi­ta­len Zeit­al­ter – aktu­el­le recht­li­che Fra­ge­stel­lun­gen. Bericht über die Tagung des Ver­eins zur För­de­rung des deut- schen und inter­na­tio­na­len Wis­sen­schafts- rechts e.V. am 12.5.2023 235–242

Gover­nan­ce in Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen — Kon­struk­ti­ver Umgang mit Kon­flik­ten und Vor­wür­fen. Bericht über die Tagung am 16. und 17.3.2023 an der Ber­gi­schen Uni­ver­si­tät Wup­per­tal 243–250

Heft 4 / 2023

Auf­sät­ze

Berich­te

ISSN 2197–9197

ORDNUNG DER WISSENSCHAFT (2023)

Aus­ge­gra­ben

Land­stän­di­sche For­de­run­gen einer aus­re­chen- den Finan­zie­rung der Uni­ver­si­tät Frei­burg 251–252

ISSN 2197–9197

I. Eine Bestands­auf­nah­me: 12 Jah­re in Recht und Wirklichkeit

1. Dro­hen­der Wir­kungs­ver­lust des Rechts: Die nor­ma­ti­ve Kraft des Faktischen

2. Gesetz­ge­bung – Ver­lo­re­ner Wett­lauf mit der Rea­li­tät? 3. Recht­spre­chung – In 12 Jah­ren zum Recht?
4. Rechts­um­set­zung
5. Juris­ten­aus­bil­dung – Nach 12 Jah­ren qualifiziert?

6. Zwi­schen­er­geb­nis

II. Ver­stär­ken­de Fak­to­ren
1. Zuneh­men­de Komplexität

a) Kom­ple­xi­tät auf der Sach­ver­halts­ebe­ne b) Kom­ple­xi­tät auf der Rechts­ebe­ne
c) Fol­gen der Komplexität

2. Kei­ne Abhil­fe durch Tech­no­lo­gie­ein­satz
3. Unat­trak­ti­vi­tät der klas­si­schen juris­ti­schen Beru­fe
4. Kul­tur und Selbst­ver­ständ­nis von Jurist*innen
5. Nega­ti­ve Syn­er­gien
6. Zwi­schen­er­geb­nis: Der Rechts­staat in einer Abwärtsspirale

III. Dem Steue­rungs­ver­lust des Rechts begeg­nen 1. Das Ziel: Der Rechts­staat als Stand­ort­fak­tor 2. Moder­ni­sie­rung der juris­ti­schen Aus­bil­dung 3. Netz­wer­ke schaf­fen und fördern

4. Durch­läs­sig­keit und Inter­dis­zi­pli­na­ri­tät stär­ken 5. Feh­ler- und Lern­kul­tur eta­blie­ren
6. Digi­ta­li­sie­rung des Rechts
7. Wan­del der Rechtskultur

IV. Fazit: Das Recht zwi­schen Kon­ti­nui­tät und Adaption

Stellt man sich das Leben im Jahr 2035 vor, wer­den Tech- nolo­gien im Ein­satz sein, die den All­tag weit­ge­hend digi- tali­sie­ren, auto­ma­ti­sie­ren und ver­net­zen. Nahe­zu alles und jeder wird Daten erhe­ben und gleich­zei­tig Gegen- stand von Daten­er­he­bung sein. Ver­net­zung erschließt Poten­tia­le, durch die heu­te noch unbe­kann­te Erkennt- nis­se erlangt wer­den, die die Kraft haben, Gesell­schaft, Staat und Wirt­schaft grund­le­gend zu verändern.1 Neue Geschäfts­mo­del­le wer­den ent­ste­hen, mög­li­cher­wei­se setzt sich der Trend zu mehr Indi­vi­dua­li­sie­rung fort,

* Die Autorin dankt Kath­rin Walt­her für die Erstel­lung der Gra­fik sowie Zoe Nogai für die Anre­gung aus einer rechts­wis­sen­schaft­li- chen Per­spek­ti­ve auf das Jahr 2035 zu blicken.

viel­leicht nimmt aber auch die Gemein­schaft einen grö- ßeren Stel­len­wert gegen­über dem Indi­vi­du­um ein, erle- ben wir eine unge­ahn­te Par­ti­zi­pa­ti­on – wir wis­sen es noch nicht.

Was wir jedoch wis­sen: Das Leben wird schnel­ler und kom­ple­xer, nicht nur der tech­no­lo­gi­sche Fort­schritt, auch Kli­ma­kri­se und Krie­ge wer­den unse­re Gesell­schaft wei­ter her­aus­for­dern. Der Erfas­sung und Ver­ar­bei­tung von Daten wird dabei eine noch grö­ße­re Bedeu­tung zu- kom­men und die Wei­chen, die unse­re Zukunft bestim- men, wer­den bereits jetzt gestellt. Denn längst hat der Wett­lauf um die (digi­ta­le) Sou­ve­rä­ni­tät der Staa­ten, die Ver­tei­lung von Res­sour­cen, den Auf­bau benö­tig­ter Inf- rastruk­tur und das Schaf­fen von inno­va­ti­ons­freund­li- chen, aber siche­ren bzw. „gerech­ten“ Daten­räu­men begonnen.

Einen der wich­tigs­ten Hebel bie­tet dabei das Recht. Wie wir unse­ren Rechts­staat gestal­ten, somit neu­es Recht schaf­fen, bestehen­des anpas­sen und in Rechtsp­re- chung und Rechts­an­wen­dung auf die wech­seln­den He- raus­for­de­run­gen reagie­ren, wird ent­schei­dend dafür sein, ob es uns gelingt, mit dem Wan­del in Tech­no­lo­gie und Gesell­schaft mit­zu­hal­ten. Bei alle­dem darf indes nicht ver­ges­sen wer­den: Egal wie „gut“ das Recht objek- tiv an die Wirk­lich­keit in der Zukunft ange­passt sein wird, es wird ohne uns Men­schen nicht funk­tio­nie­ren. Einer­seits ist der Fak­tor Mensch ent­schei­dend, wenn es um die Akzep­tanz und Legi­ti­mi­tät des Rechts­staa­tes geht. Ande­rer­seits müs­sen auch die Jurist*innen in den Wan­del ein­be­zo­gen wer­den. Denn sie wen­den das Recht tag­täg­lich an und sind ent­schei­dend an des­sen Wei­ter- ent­wick­lung betei­ligt. Ohne sie wird der not­wen­di­ge In- ter­es­sen­aus­gleich kaum gelingen.

Bis zum Jahr 2035 sind es von heu­te an zwölf Jah­re. Was zwölf Jah­re in der Tech­no­lo­gie­ent­wick­lung bedeu- ten, kann man erah­nen, wenn man zurück­blickt, was „Stand der Tech­nik“ in den Jah­ren 2011 und 1999 war. Schaut man sich dem­ge­gen­über die Rechts­ent­wick­lung an, ist ein Jahr­zehnt schnel­ler ver­gan­gen, als man von ei-

Sodan/Möstl, Staats­recht, Mün­chen, 2022, § 121 Rn. 2 spre­chen von den „größ­ten Umwäl­zun­gen der Mensch­heits­ge­schich­te“, die sie mit den „Dis­rup­ti­ons­fak­to­ren Ein­dring­lich­keit, Spreng­kraft, Geschwin­dig­keit und Unmerk­lich­keit“ bemessen.

Heck­mann/Pasch­ke, Digi­ta­li­sie­rung und Grund­rech­te, in: Stern/
Ord­nung der Wis­sen­schaft 2023, ISSN 2197–9197

Sarah Rach­ut

Recht ohne Wirk­lich­keit?
Ein rechts­wis­sen­schaft­li­cher Aus­blick ins Jahr 2035*

192 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208

nem Fort­schritt gesetz­li­cher Anpas­sung an die Lebens- wirk­lich­keit spre­chen kann. Wäh­rend elek­tro­ni­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on im pri­va­ten und beruf­li­chen Umfeld seit Jah­ren Stan­dard ist und sowohl Waren als auch Dienst­leis­tun­gen bequem online bestellt bzw. gebucht wer­den kön­nen, ist dies bei staat­li­chen Ver­wal­tungs­an- gebo­ten wei­ter­hin die Aus­nah­me. So wur­de zum Bei- spiel 2003 erst­mals durch eine Ergän­zung des Ver­wal- tungs­ver­fah­rens­ge­set­zes gere­gelt, dass elek­tro­ni­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Bürger*innen und Ver­wal- tung über­haupt zuläs­sig ist – zunächst nur auf frei­wil­li- ger Basis aller Beteiligten.2 Zehn Jah­re spä­ter sah das E‑Go­vern­ment-Gesetz des Bun­des dann eine Pflicht des Staa­tes zu elek­tro­ni­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on vor3 und durch das Online-Zugangs-Gesetz (OZG)4 soll­te er- reicht wer­den, dass bis Ende des Jah­res 2022 eine nen- nens­wer­te Anzahl an staat­li­chen Leis­tun­gen auch elekt- ronisch zur Ver­fü­gung steht. Nach­dem letz­te­res nicht gelun­gen ist, gibt es nun 2023 einen neu­en Anlauf zur ge- setz­li­chen Umset­zung der Ver­wal­tungs­di­gi­ta­li­sie­rung („OZG 2.0“).5

Um zu ver­ste­hen, war­um Recht und (tech­no­lo­gi­sche) Wirk­lich­keit so weit aus­ein­an­der­klaf­fen, muss man nä- her betrach­ten, wie Recht (im Sin­ne von Rechts­an­wen- dung, Recht­set­zung, Recht­spre­chung, aber auch juris­ti- scher Aus­bil­dung) funk­tio­niert und war­um die­ses mit der Tech­no­lo­gie­ent­wick­lung nicht mit­hal­ten kann – viel­leicht auch gar nicht muss. Am Ende lässt sich mög- licher­wei­se eine Pro­gno­se wagen, wohin uns die­ser Spa- gat von Recht und Tech­nik im Jahr 2035 füh­ren kann.

I. Eine Bestands­auf­nah­me: 12 Jah­re in Recht und Wirklichkeit

Unab­hän­gig davon, wie rasant die Tech­no­lo­gie­ent­wick- lung in den nächs­ten zwölf Jah­ren sein mag: das Recht dürf­te der Wirk­lich­keit immer hin­ter­her­hin­ken. Anschau­lich wird dies ins­be­son­de­re beim Blick auf die Ver­fah­rens­dau­er gericht­li­cher Ent­schei­dun­gen. Bis ein Streit rechts­kräf­tig ent­schie­den ist, gehen oft­mals meh- rere Jah­re vorbei.6 Bis dahin ist der per­sön­li­che Groll viel­leicht schon ver­flo­gen, das Leben wei­ter gegan­gen und der eigent­li­che Streit­punkt nicht mehr als eine

  1. 2  Heck­mann, E‑Government im Ver­wal­tungs­all­tag, in: Kom­mu- nika­ti­on & Recht, 2003, S. 425 ff.; Roß­na­gel, Das elek­tro­ni­sche Ver­wal­tungs­ver­fah­ren. Das Drit­te Ver­wal­tungs­ver­fah­rens­än­de- rungs­ge­setz, in: NJW 2003, 469 ff.
  2. 3  Habam­mer/Denk­haus, Das E‑Go­vern­ment-Gesetz des Bun­des. Inhalt und ers­te Bewer­tung – Gelun­ge­ner Rechts­rah­men für elekt- roni­sche Ver­wal­tung?, in: Mul­ti­me­dia und Recht, 2013, S. 358 ff.
  3. 4  Gesetz zur Ver­bes­se­rung des Online­zu­gangs zu Ver­wal­tungs­leis- tun­gen v. 14.8.17 (BGBl. 2017 I, S. 3122), zul. geän­dert am 28.6.21

unschö­ne Erin­ne­rung. Und ging es bei dem Rechts­streit um eine Tech­no­lo­gie, ist die­se wäh­rend des Gangs durch die Instan­zen oft geal­tert. Eben­so schei­nen Recht­set- zung, Rechts­an­wen­dung und Rechts­aus­bil­dung einem ande­ren Takt zu fol­gen, als man dies aus ande­ren Berei- chen des Lebens gewohnt ist. Frag­lich ist, wie sich dies mit den vor allem durch die digi­ta­le Trans­for­ma­ti­on her- vor­ge­ru­fe­nen Her­aus­for­de­run­gen verträgt.

Das Recht erfüllt dabei inner­halb von Staat und Ge- sell­schaft ver­schie­de­ne Funk­tio­nen, sichert in ers­te Linie das fried­li­che Zusam­men­le­ben und schützt die Frei­heit jedes Ein­zel­nen. Durch die rechts­staat­li­chen Vor­ga­ben wird im Inter­es­se aller sicher­ge­stellt, dass ein fai­rer Inte- res­sen­aus­gleich statt­fin­det, Min­der­hei­ten geschützt und Macht­un­gleich­ge­wich­te aus­ge­gli­chen wer­den. Ein sol- cher Rechts­staat ist trans­pa­rent und vor­her­seh­bar. Wel- che abs­trak­ten Rech­te und Posi­tio­nen dabei als grund­le- gend erach­tet wer­den und wie der Staat auf­ge­baut ist, er- gibt sich im deut­schen Recht aus dem Grund­ge­setz. Die- sen abs­trak­ten Rege­lun­gen liegt das gesamt­ge­sell­schaft­li­che Wer­te­ver­ständ­nis zugrun­de, wel­ches sich durch­aus im Lau­fe der Zeit wan­deln kann. Was heu­te als gerecht emp­fun­den wird, muss es in zwölf Jah­ren nicht mehr sein. Kon­ti­nu­ier­li­che Ver­än­de­run­gen tat­säch­li­cher Umstän­de (z.B. die Ent­wick­lung und Ein- füh­rung neu­er Tech­no­lo­gien oder das Ent­ste­hen von Be- drohungslagen)wirkensichzumindestmittelbaraufdie Gesell­schaft und die Vor­stel­lung des Mit­ein­an­ders aus und sind damit u.a. Gegen­stand der sozio­lo­gi­schen For- schung.7 Das Recht muss ent­spre­chend auf sol­che tat- säch­li­chen und gesell­schaft­li­chen Ände­run­gen regie­ren. Einer­seits kann allein der Wan­del der Wert­vor­stel­lun­gen dazu füh­ren, dass bis­her als gerecht emp­fun­de­ne Rege- lun­gen nun als unge­recht erach­tet wer­den (z.B. bei der recht­li­chen Unter­schei­dung zwi­schen gleich­ge­schlecht- lichen und nicht-gleich­ge­schlecht­li­chen Part­ner­schaf- ten), ande­rer­seits kön­nen sich auf­grund tat­säch­li­cher Ände­run­gen neue Gefah­ren oder Risi­ken erge­ben, für die bis­her kei­ne (gerech­ten) Rege­lun­gen exis­tie­ren. Ge- rade durch die digi­ta­le Trans­for­ma­ti­on und die aktu­el­len glo­ba­len bzw. bevor­ste­hen­den Her­aus­for­de­run­gen be- steht die Mög­lich­keit von Inter­es­sen- und damit Macht- ver­schie­bun­gen. Die­se wie­der­um ber­gen das Risi­ko, dass

(BGBl. 2021 I, S. 2250).
Schus­ter, MMR-Aktu­ell 2023, 455784.
Fob­be hat hier­zu eine umfas­sen­de Aus­wer­tung der Verfahrensdau-

er an deut­schen Gerich­ten, u.a. dem BVerfG vor­ge­nom­men. Die

Daten­sät­ze sind hier abruf­bar: https://zenodo.org/record/7133364. 7 Fried­mann, Das Rechts­sys­tem im Blick­feld der Sozialwissenschaf-

ten, 1981; vgl. auch exem­pla­risch Tamm, Rechts­evo­lu­ti­on — dar­ge- stellt am Bei­spiel des Ver­brau­cher­rechts, KJ 2013, 52 ff.

sich künf­tig ver­mehrt Indi­vi­du­al­in­ter­es­sen gegen­über dem all­ge­mei­nen Wert­ver­ständ­nis durch­set­zen. Auf­ga­be des Rechts ist es daher auch, die­se Ent­wick­lun­gen zu über­bli­cken und die­sen ent­ge­gen­zu­steu­ern. Hier­bei gilt es bei­spiels­wei­se, die sozio­tech­ni­schen Fol­gen zu er- grün­den und auf die­se zu reagie­ren, um so auch zukünf- tig (Rechts-)Frieden und die Wirk­sam­keit der Grund- rech­te – mit­hin unse­re gesell­schaft­li­chen Vor­stel­lun­gen von einem gerech­ten Zusam­men­le­ben – zu gewährleisten.

1. Dro­hen­der Wir­kungs­ver­lust des Rechts: Die nor­ma­ti- ve Kraft des Faktischen

Geschieht dies nicht – ver­liert das Recht somit sei­ne Wirk- und Steue­rungs­kraft – kommt die Macht, Regeln zu set­zen und somit nor­ma­tiv zu wir­ken, ande­ren zu. Hier­bei wird die nor­ma­ti­ve Kraft des Faktischen8 rele- vant: Die­se beruht nicht auf einem gesamt­ge­sell­schaft­li- chen Wer­te­ver­ständ­nis, son­dern ist viel­mehr Ergeb­nis bestehen­der recht­li­cher Lücken oder „Grau­zo­nen“, wel- che das Schaf­fen von Tat­sa­chen, „dem Fak­ti­schen“, ermög­li­chen. Wie sich die nor­ma­ti­ve Kraft des Fak­ti- schen auch in einem ver­meint­lich durch­nor­mier­ten Rechts­staat aus­brei­ten kann, zeigt z.B. das Han­deln des Unter­neh­mens Uber Tech­no­lo­gies Inc.9 Der von Uber ange­bo­te­ne Fahr­dienst umfasst ver­schie­de­nen Beför­de- rungs­mo­del­le, die ste­tig ergänzt oder ver­än­dert wer­den. Die Per­so­nen­be­för­de­rung, die durch Kund*innen direkt über die Uber-App gebucht wird, erfolgt hier­bei durch Pri­vat­per­so­nen mit ihren eige­nen Fahr­zeu­gen. Durch Uber wird ledig­lich die Platt­form bereit­ge­stellt, die ihrer- seits Netz­werk­ef­fek­te nutzt. Das Inter­es­se des Unter­neh- mens Uber besteht dar­in, eine mög­lichst gro­ße Zahl von Per­so­nen an sich zu bin­den. Dabei hat es die Macht, ein- sei­tig die Regeln der Beför­de­rung zu bestim­men und die­se jeder­zeit anzu­pas­sen und somit auch unmit­tel­bar oder mit­tel­bar bestimm­te Personen(-gruppen) von sei- nem Mobi­li­täts­an­ge­bot auszuschließen.

Recht­lich unter­liegt Uber mit sei­nem Fahr­dienst den Rege­lun­gen des Per­so­nen­be­för­de­rungs­ge­set­zes (PBefG), das das Ein­hal­ten bestimm­ter Min­dest­stan­dards hin-

  1. 8  Jel­li­nek, All­ge­mei­ne Staats­leh­re, Ber­lin, 1929, S. 341 ff.
  2. 9  Rach­ut, Poli­zei­be­am­te als Per­so­nen­be­för­de­rer – Geneh­mi­gungs­fä-hig­keit einer Neben­tä­tig­keit als Uber-Fah­rer, in: ZBR 2021, 29 ff.
  3. 10  Rach­ut, ZBR 2021, S. 29 f. m. w. N.
  4. 11  OLG Frank­furt, Urt. v. 20.5.21 – 6 U 18/20 = GRUR 2022, 98; Bay-VerfGH, Beschl. v. 26.4.21 – 11 ZB 20.2076 = Beck­RS 2021, 10964; LG Frank­furt, Urt. v. 17.2.21 – 3–08 O 67/20 = GRUR-RS 2021, 6221;

sicht­lich Sicher­heit und Zuver­läs­sig­keit der Per­so­nen­be- för­de­rung sicher­stel­len soll. Per­so­nen­be­för­de­rungs­auf- trä­ge unter­wegs anzu­neh­men, ist dabei Taxi­un­ter­neh- men vor­be­hal­ten, an die erhöh­te Anfor­de­run­gen gestellt wer­den. Uber unter­läuft mit sei­nem Modell die­se Vor­ga- ben und stellt sich auf den Stand­punkt, dass die Vor­ga- ben für Taxi­un­ter­neh­men für das eige­ne Geschäfts­mo- dell schlicht nicht anwend­bar sei­en. Seit 2015 kam es da- her zwi­schen Uber und den natio­na­len Gerich­ten zu ei- nem stän­di­gen Hin-und-Her.10 Wäh­rend ver­schie­de­ne Gerich­te nach Kla­gen von Taxi­un­ter­neh­men das Modell von Uber auf­grund der Miss­ach­tung der recht­li­chen Vor­ga­ben (u.a. § 49 Abs. 4 S. 2 und 3 PBefG) als rechts- wid­rig ein­stuf­ten und die­ses untersagten,11 stellt sich Uber auf den Stand­punkt, sein Ange­bot (die App) ange- passt zu haben.12 Weil sich das jewei­li­ge Urteil daher auf ein frü­he­res Modell der Uber-App erstre­cke und nicht auf das aktu­el­le Geschäfts­mo­dell, fühlt sich Uber nicht an das Urteil gebun­den und setzt sei­ne Tätig­keit daher fort. Kon­kur­rie­ren­de Unter­neh­men, die die­se Urtei­le er- strit­ten hat­ten, schreck­ten auf Grund­la­ge die­ser Argu- men­ta­ti­on davor zurück, die Urtei­le – wel­che zumin­dest vor­läu­fig voll­streck­bar waren – durch­zu­set­zen. Sie fürch- teten etwa­ige Scha­dens­er­satz­an­sprü­che, soll­te sich her- aus­stel­len, dass die jewei­li­gen Urtei­le tat­säch­lich nicht auf das „neue Uber-Geschäfts­mo­dell“ ange­wandt wer- den könn­ten. Fak­tisch konn­te sich Uber daher auf Dau- er dem gel­ten­den Recht ent­zie­hen. Der Gesetz­ge­ber hat inzwi­schen reagiert und den sog. „Bedarfs­ver­kehr“ so- wie Ver­mitt­ler­diens­te von Mobi­li­täts­platt­for­men im PBefG geregelt13, um der nor­ma­ti­ven Kraft von Uber und ähn­lich agie­ren­der Akteu­re entgegenzuwirken.

Ver­gleich­ba­re Ent­wick­lun­gen könn­ten sich künf­tig ins­be­son­de­re bei der Erstel­lung bestimm­ter (tech­ni- scher) Stan­dards oder dem Eta­blie­ren von Tech­no­lo­gien zei­gen. Immer dann, wenn die staat­li­che Hand­ha­be na- hezu unmög­lich gemacht wird, wie z.B. aktu­ell bei dem Ver­such, einen Buß­geld­be­scheid an den Mes­sen­ger- dienst Tele­gram zuzustellen,14 kommt die Steue­rungs- macht ande­ren zu.

LG Mün­chen I, Urt. v. 10.2.20 – 4 HK O 14935/16 = MMR 2021, 91;

LG Köln, Beschl. v. 25.10.19 — 81 O 74/19 = Beck­RS 2019, 38797. 12 Rach­ut, ZBR 2021, S. 29 f.
13 Gesetz zur Moder­ni­sie­rung des Per­so­nen­be­för­de­rungs­rechts v.

16.4.21, BGBl. 2021 I, S. 822, vgl. auch BT-Drs. 19/26175, S. 23.
14 Vgl. https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/hass-hetze-telegram-

anwend­bar­keit-netzdg-sozia­les-netz­werk-mes­sen­ger/.

Rach­ut · Recht ohne Wirk­lich­keit? 1 9 3

194 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208

2. Gesetz­ge­bung – Ver­lo­re­ner Wett­lauf mit der Realität?

Die Gesetz­ge­bung befin­det sich daher in einem per­ma- nen­ten Wett­lauf mit der Wirk­lich­keit. Dies führt dazu, dass das in Nor­men kodi­fi­zier­te Wer­te­sys­tem mit­un­ter punk­tu­ell oder in gan­zen Berei­chen nicht mehr mit der Rea­li­tät über­ein­stimmt. Bereits der die­se Ent­wick­lung kenn­zeich­nen­de Begriff „Digi­ta­le Trans­for­ma­ti­on“ zeigt, dass es dabei um mehr als die blo­ße „Tech­no­lo­gi­sie­rung“ ein­zel­ner Lebens­be­rei­che geht, son­dern viel­mehr um eine grund­le­gen­de Transformation.15 Die­se kann sich zunächst im mehr­heit­li­chen Ver­hält­nis zu bestimm­ten (kör­per­li­chen oder nicht-kör­per­li­chen) Din­gen nie­der- schla­gen. So hat sich der pri­va­te Umgang mit Daten in den letz­ten Jahr­zehn­ten ent­schei­dend ver­än­dert. Dass die per­so­nen­be­zo­ge­nen Daten einer jeden Per­son Gegen­stand auto­ma­ti­sier­ter Ver­ar­bei­tung sind, ist inzwi- schen Nor­ma­li­tät. Die aus die­ser Ent­wick­lung nicht weg- zuden­ken­den sozia­len Medi­en sind dar­auf aus­ge­rich­tet, dass höchst­per­sön­li­che Infor­ma­tio­nen mit einer unüber- schau­ba­ren Anzahl von Per­so­nen über­all auf der Welt geteilt wer­den. So ent­steht ein leicht zugäng­li­ches Per­so- nen­ar­chiv. Einer Per­son, die online nicht auf­find­bar ist, begeg­net man viel­leicht sogar mit Miss­trau­en. Wei­te­re Ver­än­de­run­gen erge­ben sich dadurch, dass (digi­ta­le) Tech­no­lo­gien inzwi­schen in Berei­che Ein­zug gefun­den haben, die vor­her „ana­log“ geprägt waren. Vor allem wäh­rend der welt­wei­ten Coro­na-Pan­de­mie wur­den Tech­no­lo­gien ein­ge­setzt, um die auf­grund von Kon­takt- beschrän­kun­gen ent­stan­de­ne Distanz zwi­schen Per­so- nen zu über­brü­cken. Neben Schul-16 und Hochschulun-

15 Hoff­mann-Riem, Recht im Sog der digi­ta­len Trans­for­ma­ti­on, Tübin­gen, 2021, S. 2 m. w. N.

16 Vgl. Helm/Huber/Loisinger, Was wis­sen wir über schu­li­sche Lehr- Lern-Pro­zes­se im Distanz­un­ter­richt wäh­rend der Coro­na-Pan­de- mie? – Evi­denz aus Deutsch­land, Öster­reich und der Schweiz, in: Zeit­schrift für Erzie­hungs­wis­sen­schaft, 2021, S. 237 ff.

17 Vgl. Neuber/Göbel, Zuhau­se statt Hör­saal. Erfah­run­gen und Ein- schät­zun­gen von Hoch­schul­an­ge­hö­ri­gen zur Umstel­lung der Leh­re im ers­ten pan­de­mie-beding­ten Lock­down der Uni­ver­si­tä­ten, in: Medi­en­Päd­ago­gik, 2021, S. 56 ff.

18 Vgl. Reimann/Sievert, Inter­ak­ti­on uner­wünscht? Online-Got­tes- diens­te wäh­rend der Coro­na-Pan­de­mie, in: Cursor_Zeitschrift für explo­ra­ti­ve Theo­lo­gie, 2021, S. 1 ff.

19 Vgl. Waschkau/Steinhäuser, Wan­del des Bedarfs an Video­sprech- stun­den in Zei­ten einer Pan­de­mie. Eine qua­li­ta­ti­ve Betrach­tung, in: Zeit­schrift für All­ge­mein­me­di­zin, 2020, S. 317 ff.

20 War es zuvor unmög­lich, dass beauf­sich­tig­te Hoch­schul­prü­fun- gen außer­halb der Hoch­schu­len geschrie­ben wer­den, wur­den wäh­rend der Pan­de­mie in fast allen Bun­des­län­dern ent­spre­chen­de Rechts­grund­la­gen geschaf­fen. Damit hat­ten alle Studierenden

die Mög­lich­keit, in die­ser Zeit an den Prü­fun­gen teilzunehmen,

terricht17 wichen auch Kirchen18 oder Ärz­te und Ärz­tin- nen19 auf Video­kon­fe­ren­zen aus.

Die digi­ta­le Trans­for­ma­ti­on ist aber auch gera­de des- halb so dis­rup­tiv, da sie mit Macht­ver­schie­bun­gen ein- her­geht. Digi­ta­li­sie­rung, Ver­net­zung und Auto­ma­ti­sie- rung schaf­fen neue Beru­fe und Spar­ten, kön­nen bis­he­ri- ge Ideen und Model­le obso­let machen, Abhän­gig­kei­ten auf­lö­sen und neue ent­ste­hen las­sen. Dane­ben erge­ben sich mit­un­ter Lösun­gen für Her­aus­for­de­run­gen, die zu- vor unlös­bar erschienen.20 Wäh­rend der Gesetz­ge­ber so- mit gefragt ist, das Poten­ti­al und die Chan­cen der digi­ta- len Trans­for­ma­ti­on zu för­dern und ent­spre­chen­de Neu- erun­gen recht­lich zu ermög­li­chen, muss er eben­so den damit ein­her­ge­hen­den Risi­ken und Gefah­ren begegnen.

Aktu­ell erfolgt dies in einem zwei­stu­fi­gen Pro­zess: Der Ent­wick­lung neu­er Tech­no­lo­gien oder Kon­zep­te (Inno­va­ti­on) schließt sich der Ver­such an, die­se zu reg­le- men­tie­ren. Mit­un­ter mani­fes­tiert sich hier das Fak­ti­sche zum Nor­ma­ti­ven. Nur sel­ten wer­den Expe­ri­men­tier­räu- me geschaffen21, in denen regio­nal und zeit­lich begrenzt unter­sucht wird, wel­che tat­säch­li­chen Fol­gen eine be- stimm­te Inno­va­ti­on hät­te, um die­se anschlie­ßend zu re- gulie­ren und dar­auf auf­bau­end Wei­ter­ent­wick­lun­gen zu ermöglichen.22 Dies hat zur Fol­ge, dass Regu­lie­rung nicht nur eine lan­ge Zeit in Anspruch nimmt, son­dern dane­ben oft­mals auch nicht auf einer aus­rei­chen­den Da- ten­grund­la­ge basiert. Teil­wei­se kommt es sogar vor, dass mit­tels einer poli­tisch beding­ten regu­la­to­ri­schen Wen­de (z.B. nach einem Regie­rungs­wech­sel) die zuvor erlas­se- nen Nor­men ins Gegen­teil ver­kehrt wer­den oder sich Rege­lun­gen zu wider­spre­chen scheinen.23 Eine solch un-

was wie­der­um den Stu­die­ren­den half, die sich dem erhöh­ten Infek­ti­ons­ri­si­ko auf dem Weg zu und in den Hoch­schu­len nicht aus­set­zen durf­ten oder woll­ten. Dar­über hin­aus wur­de die Chan­ce genutzt, die­se Art des Prü­fens zu erpro­ben, um Hoch­schul­prü- fun­gen künf­tig inklu­si­ver gestal­ten zu kön­nen. Aus­führ­lich hier­zu Heck­mann/Rach­ut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, Ber­lin, 2023, S. 59 ff., 68 ff.; Rach­ut, ODW 2023, 89 ff.

21 Eine Expe­ri­men­tier­klau­sel ent­hält zum Bei­spiel Art. 56 Bay­DiG. 22 Die Baye­ri­sche Fern­prü­fungs­er­pro­bungs­ver­ord­nung (Bay­FEV)

sieht z. B. die Mög­lich­keit vor, in Übungs­klau­su­ren auto­ma­ti­sier­te Ver­fah­ren zur Beauf­sich­ti­gung von Hoch­schul­prü­fun­gen zu erpro- ben, vgl. § 10 BayFEV.

23 Kri­ti­siert wird dies z. B. beim Nach­weis­ge­setz (Nach­wG). Wäh- rend aktu­ell auf allen Ebe­nen ver­sucht wird, von der Papier­form zur elek­tro­ni­schen Form zu gelan­gen (bspw. mit­tels elek­tro­ni­scher Akten­füh­rung in den Behör­den, den Gerich­ten oder der elek­tro- nischen Pati­en­ten­ak­te) nimmt der Gesetz­ge­ber die elek­tro­ni­sche Form bei der Nach­weis­pflicht der wesent­li­chen Bestim­mun­gen eines Arbeits­ver­hält­nis­ses aus­drück­lich aus, vgl. § 2 Abs. 1 S. 2 NachwG.

ste­te und unvor­her­seh­ba­re Regu­lie­rung kann letzt­lich Skep­sis und Zurück­hal­tung bei der Ent­wick­lung neu­er Ideen hervorrufen.

Die Auf­ga­be der Gesetz­ge­bung obliegt dabei haupt- säch­lich den Par­la­men­ten. Hier­bei kommt der demo­kra- tischen Debat­te sowie der anschlie­ßen­den par­la­men­ta­ri- schen Ent­schei­dung eine wich­ti­ge und bedeu­ten­de Funk­ti­on inner­halb des demo­kra­ti­schen Rechts­staats zu. Bei der zuneh­men­den Kom­ple­xi­tät der zu regu­lie­ren­den Mate­rie und der stei­gen­den Zahl an ver­ab­schie­de­ten Ge- set­zen muss indes auch die Fra­ge nach deren Qua­li­tät ge- stellt werden.24 In der Coro­na-Pan­de­mie hat sich ge- zeigt, dass die Regu­lie­rung ein­zel­ner, durch­aus kom­p­le- xer Sach­ver­hal­te bei einer ent­spre­chen­den Prio­ri­sie­rung deut­lich schnel­ler erfol­gen kann. Zu Beginn der Pan­de- mie kam dem Gesetz­ge­ber auf­grund der bestehen­den Unge­wiss­heit dabei ein deut­lich grö­ße­rer Ein­schät- zungs­spiel­raum zu, auch umfas­sen­de und tief­grei­fen­de Grund­rechts­ein­grif­fe waren recht­mä­ßig und hiel­ten ei- ner Ver­hält­nis­mä­ßig­keits­prü­fung stand.25 Zuneh­mend lagen indes mehr und mehr Daten über das Virus, die Über­tra­gung und den her­vor­ge­ru­fe­nen Krank­heits­ver- lauf vor, was die Anfor­de­run­gen an den Gesetz­ge­ber er- höh­te. Mit die­sen Daten war das Mit­tel zur Hand, die Regu­lie­rung und damit auch die in die Grund­rech­te ein- grei­fen­den Maß­nah­men an die neu­en Erkennt­nis­se an- zupassen.26 Ein­schrän­kun­gen auf­grund der Pan­de­mie muss­ten somit kon­ti­nu­ier­lich über­prüft und an die neu- en Erkennt­nis­se ange­passt werden.27 Nach­dem bei- spiels­wei­se Infor­ma­tio­nen über die häu­figs­ten Über­tra- gungs­we­ge vorlagen,28 muss­ten die infek­ti­ons­schutz- recht­li­chen Maß­nah­men ange­passt und infol­ge­des­sen u.a. die Mas­ken­pflicht für bestimm­te Berei­che (im Frei- en und unter Abstand) auf­ge­ho­ben wer­den. Dass beson- ders weit­ge­hen­de Aus­gangs­be­schrän­kun­gen in Bayern

24 2020 ver­ab­schie­de­te der Deut­sche Bun­des­tag 156 Geset­ze in 64 Sit­zungs­ta­gen, 2021 waren es trotz Regie­rungs­wech­sels 203 Geset- ze in 46 Sit­zungs­ta­gen, s. Deut­scher Bun­des­tag, Par­la­ments­do­ku- men­ta­ti­on, Sta­tis­ti­sche Daten zur Arbeit des Deut­schen Bun­des- tages im Zeit­raum vom 1.1. bis zum 31.12.2020; ders. Sta­tis­tik der Gesetz­ge­bung – 19. Wahl­pe­ri­ode; vgl. auch: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw06- jahresstatistik-2021–879640#:~:text=203%20Gesetze%20hat%20 der%20Deutsche,Deutschen%20Bundestages%20endete.

25 Vgl. z. B. Hof­mann, Ver­hält­nis­mä­ßig­keit mit der Holz­ham­mer­me- tho­de, Ver­fas­sungs­blog v. 13.4.20, abruf­bar unter: https://verfassungsblog.de/verhaeltnismaessigkeit-mit-der- holzhammermethode/.

26 Vgl. u. a. VGH Mün­chen, Beschl. v. 30.3.20 – 20 NE 20.632 = NJW 2020, 1236, 1240.

27 BVerfG, Beschl. v. 8.8.78 – 2 BvL 8/77 = BVerfGE 49, 89; BVerfG,

zu Beginn der Pan­de­mie im Früh­jahr 2020 unver­hält­nis- mäßig waren, stell­te das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt mehr als zwei­ein­halb Jah­re spä­ter fest.29

Obwohl von Sei­ten der Wis­sen­schaft welt­weit über das Sars-CoV-2-Virus geforscht, die gewon­ne­nen Er- kennt­nis­se aus­ge­tauscht wur­den und eine solch umfas- sendewissenschaftlicheBeratungderPolitik,wiesiege- rade in der Anfangs­zeit der Pan­de­mie erfolg­te, in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten wohl ein­zig­ar­tig war, lie­gen bis heu­te wei­ter­hin nicht aus­rei­chend Infor­ma­tio­nen vor, um das Wir­ken der ent­spre­chen­den „Coro­na-Maß­nah- men“ abschlie­ßend bewer­ten und über­prü­fen zu können.30

Zusam­men­fas­send lässt sich fest­hal­ten, dass selbst in einer welt­wei­ten Aus­nah­me­si­tua­ti­on, in der Wis­sen- schaft, Wirt­schaft und Gesell­schaft zusam­men­wirk­ten, um die­ser Her­aus­for­de­rung gemein­sam mit der Poli­tik zu begeg­nen, es auch nach drei Jah­ren nicht gelun­gen ist, mit­tels ent­spre­chen­der Daten die Wirk­sam­keit umfas- sen­der grund­rechts­ein­grei­fen­der Maß­nah­men zu beur- tei­len und so über den mehr­jäh­ri­gen Zeit­raum der Pan- demie eine adäqua­te, d.h. ver­hält­nis­mä­ßi­ge Recht­set- zung zu gewähr­leis­ten. Auf Sei­ten des Gesetz­ge­bers er- scheint es damit aktu­ell unmög­lich, schnell, effek­tiv und vor allem wis­send, d.h. daten­ba­siert, auf Ver­än­de­run­gen zu reagieren.

Der Gesetz­ge­ber ist jedoch nicht nur auf natio­na­ler, son­dern eben­so auf inter­na­tio­na­ler Ebe­ne gefragt. Auch hier gilt es die eige­nen Wer­te und Vor­stel­lun­gen in Re- gulie­rungs­vor­ha­ben ein­flie­ßen zu las­sen und sich bei- spiels­wei­se mit­tels Stel­lung­nah­men am Norm­ge­bungs- ver­fah­ren auf EU-Ebe­ne zu betei­li­gen. Dies setzt jedoch nicht nur vor­aus, dass Deutsch­land über die ent­sp­re- chen­den Kom­pe­ten­zen und Res­sour­cen ver­fügt und auf poli­ti­scher Ebe­ne eine Eini­gung erzielt wer­den kann,31

Beschl. v. 29.4.20 – 1 BvQ 47/20 = Beck­RS 2020, 7210; Gold- hammer/Neuhöfer, Grund­rech­te in der Pan­de­mie – All­ge­mei­ne Leh­ren, in: Juris­ti­sche Schu­lung, 2021, S. 212, 214 m. w. N.

28 Robert Koch Insti­tut, Epi­de­mio­lo­gi­scher Steck­brief zu SARS-CoV‑2 und COVID-19, 2. Über­tra­gungs­we­ge, abruf­bar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_ Coronavirus/Steckbrief.html;jsessionid=C3091F506673DDD7F3711 AEA354526FE.internet101?nn=13490888#doc13776792bodyText2.

29 BVerwG, Beschl. v. 10.11.222 – 3 CN 2.21 = Beck­RS 2022, 31961.
30 Vgl. z. B. Sach­ver­stän­di­gen­aus­schuss nach § 5 Abs. 9 IfSG, Evaluati-

on der Rechts­grund­la­gen und Maß­nah­men der Pandemiepolitik,

2022, S. 8.
31 Dass dies nicht immer gelingt, zeigt z. B. Stier­le, AI Act: Verzö-

gerun­gen und offe­ne Fra­gen, Tages­spie­gel Back­ground v. 14.9.22, abruf­bar unter: https://background.tagesspiegel.de/digitalisierung/ ai-act-verzoegerungen-und-offene-fragen.

Rach­ut · Recht ohne Wirk­lich­keit? 1 9 5

196 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208

son­dern eben­so, dass die not­wen­di­gen Infor­ma­tio­nen vor­lie­gen, um über­haupt ver­schie­de­ne Optio­nen erfas- sen und bewer­ten zu können.

3. Recht­spre­chung – In 12 Jah­ren zum Recht?

Wäh­rend ein Gesetz­ge­bungs­pro­zess die Betei­li­gung einer Viel­zahl von Per­so­nen und Insti­tu­tio­nen zur Her- bei­füh­rung einer Mehr­heits­ent­schei­dung ver­langt, könn­te im Bereich der Recht­spre­chung die Mög­lich­keit bestehen, agi­ler auf Ver­än­de­run­gen und die damit ein- her­ge­hen­den Rechts­un­si­cher­hei­ten zu reagie­ren, um so Defi­zi­te in ande­ren Berei­chen aus­glei­chen zu können.

„Die Gesetz­ge­bung ist an die ver­fas­sungs­mä­ßi­ge Ord­nung, die voll­zie­hen­de Gewalt und die Rechtsp­re- chung sind an Gesetz und Recht gebun­den.“ In die­sem Wort­laut fin­det sich das Recht­staats­prin­zip im Grundge- setz (Art. 20 Abs. 3 GG). Die Recht­spre­chung hat dabei die Auf­ga­be, das staat­li­che Han­deln zu über­prü­fen und den all­ge­mei­nen Rechts­frie­den zu wah­ren. Auch die Ent­schei­dun­gen der Gerich­te sind wie­der­um über­prüf- bar – dar­aus ergibt sich ein aus­ge­klü­gel­tes Instan­zen­sys- tem, das eine unab­hän­gi­ge und gerech­te Judi­ka­ti­ve ge- währ­leis­tet. Für die­ses Sys­tem gibt es gute und gewich­ti- ge Grün­de, die sich nicht zuletzt in der deut­schen His­to- rie fin­den las­sen. Es gibt Raum für rich­ter­li­che Unab­hän­gig­keit und Kon­troll­in­stan­zen, um etwa­ige Fehl­ent­schei­dun­gen zu kor­ri­gie­ren. Gleich­wohl bedeu- tet ein sol­ches Instan­zen­sys­tem aber auch, dass bis zu ei- ner rechts­kräf­ti­gen Ent­schei­dung die­se Instan­zen von den Par­tei­en durch­lau­fen wer­den kön­nen. Ent­schei­dun- gen, die noch nicht rechts­kräf­tig sind, kön­nen mög­li- cher­wei­se vor­läu­fig voll­streck­bar sein, been­den den Rechts­streit jedoch nicht und gehen selbst mit einem ge- wis­sen Risi­ko einher.32 Die Ver­fah­rens­dau­er eines Rechts­streits hängt daher maß­geb­lich von der Dau­er je Instanz und der Anzahl der durch­lau­fe­nen Instan­zen ab.33 Die­se Zeit wird von Betei­lig­ten jedoch häu­fig als zu lang empfunden.34 Auch der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) hat sich bereits mehr­fach mit der teils sehr lan­gen Ver­fah­rens­dau­er an deutschen

  1. 32  Z.B. mit einer Scha­dens­er­satz­pflicht nach § 717 Abs. 2 ZPO.
  2. 33  Fob­be hat hier­zu eine umfas­sen­de Aus­wer­tung der Ver­fah­rens­dau-er an deut­schen Gerich­ten, u.a. dem BVerfG vor­ge­nom­men. DieDa­ten­sät­ze sind hier abruf­bar: https://zenodo.org/record/7133364.

34 So gaben bei einer Befra­gung von 1.069 Per­so­nen 81% an, dass sie

die Ver­fah­rens­dau­er im deut­schen Rechts­sys­tem als viel zu lan­ge emp­fin­den, vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie /167571/­um­fra­ge/­mei­nun­gen-zum-deut­schen-rechts­sys­te­m/.

35 Wis­sen­schaft­li­cher Dienst des Deut­schen Bun­des­ta­ges, WD 2 – 3000–190/07, S. 3.

Gerich­ten beschäf­tigt. Allein zwi­schen 1978 und 2008 ver­ur­teil­te der EGMR die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land in 24 Ver­fah­ren wegen über­lan­ger Gerichts­ver­fah­ren und stell­te hier­bei Ver­stö­ße gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein fai­res Ver­fah­ren) sowie teils zudem gegen Art. 13 EMRK (Recht auf wirk­sa­me Beschwer­de) fest.35 Denn gera­de in bestimm­ten Ver­fah­ren (z.B. in Straf­sa- chen, fami­li­en- oder sozi­al­ge­richt­li­chen Ver­fah­ren) stellt ein nicht abge­schlos­se­nes Ver­fah­ren eine erheb­li­che Be- las­tung für die Betei­lig­ten dar. Die Ent­schei­dun­gen ge- gen Deutsch­land bezo­gen sich dabei nicht ledig­lich auf ein­zel­ne Rechts­be­rei­che, son­dern viel­mehr auf unter- schied­li­che Gerichtsbarkeiten36 und zei­gen damit die viel­fach sehr lan­gen Ent­schei­dungs­we­ge im gesam­ten bestehen­den Rechts­sys­tem auf.

Als Kon­se­quenz die­ser EGMR-Ent­schei­dung wur­de 2011 das Gesetz über den Rechts­schutz bei über­lan­gen Gerichts­ver­fah­ren und straf­recht­li­chen Ermitt­lungs­ver- fahren37 erlas­sen. Dar­über hin­aus einig­ten sich Bund und Län­der 2019 auf einen „Pakt für den Rechtsstaat“.38 Die­se bereits im Koali­ti­ons­ver­trag von CDU/CSU und SPD vor­ge­se­he­ne Über­ein­kunft soll­te vor allem durch die Auf­sto­ckung des Per­so­nals zu einer bes­se­ren und schnel­le­ren Rechts­durch­set­zung beitragen.39 Im Sep- tem­ber 2022 folg­te die Ankün­di­gung von Bun­des­jus­tiz- minis­ter Mar­co Busch­mann (FDP) zu einem „Pakt für den digi­ta­len Rechts­staat“, durch wel­chen die Gerich­te bei der Moder­ni­sie­rung und Digi­ta­li­sie­rung unter­stützt wer­den sollen.40

Trotz die­ser Bemü­hun­gen zeigt sich seit Jah­ren ein struk­tu­rel­les Defi­zit in Form einer Über­las­tung der Jus- tiz. Auch wenn nicht sämt­li­che rele­van­ten Kenn­zah­len erfasst wer­den, z.B. die Dau­er zwi­schen Kla­ge­ein­gang beiGerichtundTerminierung,41oderdiesenurlücken- haft oder zeit­ver­zö­gert vor­lie­gen, lässt sich die Über­las- tung durch vor­han­de­ne Daten unter­mau­ern. So wur­de bei­spiels­wei­se von Sei­ten des Deut­schen Rich­ter­bun­des eine ste­tig wach­sen­de Ver­fah­rens­dau­er in Straf­sa­chen bemän­gelt: „Gerech­net ab Ein­gang bei der Staats­an­walt- schaft lau­fen die erst­in­stanz­li­chen Ver­fah­ren beim Land-

36 Wis­sen­schaft­li­cher Dienst des Deut­schen Bun­des­ta­ges, WD 2 – 3000–190/07, S. 4.

37 Vgl. BGBl. 2011 I, S. 2302.
38 Pres­se­kon­fe­renz der Bun­des­re­gie­rung v. 31.01.2019.
39 CDU/CSU/SPD, Koali­ti­ons­ver­trag, Ein neu­er Auf­bruch für Europa

– Eine neue Dyna­mik für Deutsch­land – Ein neu­er Zusammenhalt

für unser Land, 2018, S. 16 f.
40 Vgl. https://www.bmj.de/SharedDocs/Meldungen/DE/2022/0927_

Pakt_Rechtsstaat.html.
41 So u. a. in Bay­ern, s. LT-Drs. 18/2325.

gericht im Schnitt sogar mehr als 20 Mona­te, so lan­ge wie noch nie.“42 Ver­gleicht man die Ver­fah­rens­dau­er der erst­in­stanz­li­chen Ver­fah­ren, zei­gen sich zwi­schen den ein­zel­nen Bun­des­län­dern und den ver­schie­de­nen Ver- fah­rens­ar­ten gro­ße Unter­schie­de. So lag die durch- schnitt­li­che Ver­fah­rens­dau­er an den Ver­wal­tungs­ge­rich- ten 2016 zwi­schen 3,9 Mona­ten (Rhein­land-Pfalz) und 22,6 Mona­ten (Brandenburg).43 Der lan­gen Ver­fah­rens- dau­er steht die hohe Arbeits­be­las­tung der Richter*innen und Staatsanwält*innen gegen­über. Baye­ri­sche Richter*innen an den Amts­ge­rich­ten bear­bei­te­ten bspw. 2018 durch­schnitt­lich 506,5 Zivil­ver­fah­ren und 331,9 Strafverfahren.44 Staatsanwält*innen bear­bei­te­ten 2016 jeweils über 1.300 Verfahren.45

Dass ein Ver­fah­ren, wel­ches meh­re­re Instan­zen bis zur Rechts­kraft durch­läuft, somit meh­re­re Jah­re dau­ern kann, ist somit nicht unüb­lich. Den­noch gibt es be- stimm­te Rechts­strei­tig­kei­ten, die hier her­aus­ste­chen und demons­trie­ren, zu wel­chem Aus­maß sich die Ver­fah- rens­zei­ten sum­mie­ren kön­nen. Neben den über meh­re­re Jah­re dau­ern­den und medi­al inten­siv beglei­te­ten straf- recht­li­chen Ver­fah­ren im NSU-Pro­zes­s46 und zur Auf- klä­rung des Love­pa­ra­de-Unglücks 2010,47 dürf­te das be- kann­tes­te zivil­recht­li­che Ver­fah­ren mit außer­or­dent­li- cher Ver­fah­rens­län­ge jenes der Grup­pe Kraft­werk („Me- tall-auf-Metall“) sein. 1997 wur­de das von Moses Pel­ham pro­du­zier­te Lied „Nur mir“ ver­öf­fent­licht und lös­te da- mit einen Rechts­streit aus, der bis heu­te (26 Jah­re spä­ter) noch immer die Gerich­te beschäf­tigt. Das allein mag be- reits für Auf­se­hen sor­gen, kurio­ser wird es, wenn man bedenkt, dass Gegen­stand der Strei­tig­keit nicht das ge- sam­te Lied, son­dern ein ledig­lich zwei Sekun­den lan­ger „Ton­fet­zen“ ist. Pel­ham hat­te die­se kur­ze Sequenz dem Lied „Metall auf Metall“ der Band Kraft­werk ent­nom- men und sei­nem Song unver­än­dert zugrun­de gelegt (sog. Sam­pling). Ob dies eine Ver­let­zung der Ton­trä­ger- rech­te von Kraft­werk dar­stellt, ist wei­ter­hin umstrit­ten. Kom­pli­ziert macht die­sen Fall einer­seits, dass neben der natio­na­len Rechts­la­ge auch EU-Recht zu beach­ten ist.

  1. 42  Rebehn, Straf­jus­tiz am Limit, abruf­bar unter: https://www.drb. de/­news­room/­pres­se-medi­en­cen­ter/­nach­rich­ten-auf-einen-blick/ nach­rich­t/­news­/s­traf­jus­tiz-am-limi­t‑1.
  2. 43  Vgl. hier­zu: https://www.lto.de/recht/justiz/j/justiz-ranking- 2016-zah­len-deut­sche-gerich­te-erle­di­gungs­quo­te-ver­fah­rens­dau­er- bestaende/IchfragedieStaatsregierungAuslastungderZivilgerichte: 1.1.WieentwickelnsichdieFallzahlenderandenbayerischenZivilge- richtenanh%E4ngigen.

44 LT-Drs. 18/2325, S. 4, 9.
45 Vgl. hier­zu: https://www.lto.de/recht/justiz/j/justiz-ranking-

Die­ses ver­fügt gegen­über den natio­na­len Nor­men über einen Anwen­dungs­vor­rang und ist auf die Nut­zungs- hand­lun­gen ab 2002 anwend­bar. Der Zeit­raum davor be- urteilt sich aus­schließ­lich nach den (dama­li­gen) natio- nalen Vor­schrif­ten. Ande­rer­seits sieht das Recht kei­ne kla­ren Rege­lun­gen für das Sam­pling, eine durch­aus gän- gige Metho­de im Bereich der elek­tro­ni­schen Musik, vor, sodass die Gerich­te im Wege der Rechts­aus­le­gung eine Ent­schei­dung tref­fen müs­sen. Im kon­kre­ten Fall sind sich die Gerich­te jedoch uneins. Immer neue Detail­f­ra- gen müs­sen geklärt wer­den, sodass der Rechts­streit aktu- ell zum fünf­ten Mal beim BGH (nach der Ver­hand­lung am 1. Juni 2023 wird nun über­legt, den Fall noch­mals dem EuGH vor­zu­le­gen) anhän­gig ist. Dabei geht es in- zwi­schen weni­ger um die eigent­li­che Urhe­ber­rechts­ver- let­zung, son­dern um das gene­rel­le Ver­hält­nis von Kunst- frei­heit und Urheberrecht.

Abbil­dung: Ver­fah­rens­gang des Rechts­streits „Metall- auf-Metall“, Stand: August 2023

Die Beant­wor­tung die­ser Fra­ge liegt dabei nicht nur im Inter­es­se der Betei­lig­ten, son­dern zeigt anschau­lich die grund­le­gen­de Bedeu­tung der Recht­spre­chung inner- halb des Rechts­staats. Hier wird sicht­bar, wie sehr Recht und Rea­li­tät aus­ein­an­der­fal­len kön­nen und wie sich der Rechts­staat letzt­lich um eine gerech­te Lösung bemüht. Jede*r kann inzwi­schen mit­hil­fe des Smart­phones und

Rach­ut · Recht ohne Wirk­lich­keit? 1 9 7

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2016-zah­len-deut­sche-gerich­te-erle­di­gungs­quo­te-ver­fah­rens­dau­er- bestaende/IchfragedieStaatsregierungAuslastungderZivilgerichte: 1.1.WieentwickelnsichdieFallzahlenderandenbayerischenZivilge- richtenanh%E4ngigen.

Vgl. https://www.spiegel.de/panorama/nsu-prozess- war­um-dau­er­te-der-pro­zess-fuenf-jah­re-lang- a‑00000000–0003-0001–0000-000002602349.
Vgl. https://www.sueddeutsche.de/panorama/loveparade-prozess- urteil‑1.4896181.

198 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208

ent­spre­chen­der Soft­ware­un­ter­stüt­zung in Sekun­den- schnel­le Wer­ke erstel­len und sich und sei­ne Mei­nung aus­drü­cken. Die Form zu kom­mu­ni­zie­ren, sich aus­zu- tau­schen und aus­zu­drü­cken, wird zuneh­mend mul­ti­me- dia­ler; Memes, Pas­ti­ches oder Reels gehö­ren zum All­tag, wie es frü­her für Brie­fe oder Nach­rich­ten­sen­dun­gen galt. Bei die­ser neu­en Art zu kom­mu­ni­zie­ren, geht es ge- rade dar­um, auf bestehen­de Wer­ke zurück­zu­grei­fen und sie in einen ande­ren Kon­text zu stel­len; dabei wird häu- fig auf eine ganz bestimm­te Situa­ti­on oder ein Gefühl Bezug genom­men, wel­ches als Grund­la­ge für die eige­ne Bot­schaft dient. Der­sel­be Effekt wür­de sich mit einer ei- genen Dar­stel­lung gar nicht errei­chen las­sen. Dem (Kunst-) Urhe­ber­recht war die­se Art der (Mas­sen-) Kom­mu­ni­ka­ti­on indes lan­ge fremd. Aktu­ell sind wei­te­re Ent­wick­lun­gen zu sehen, die von einem neu­en Ver­ständ- nis von und dem Umgang mit Kunst spre­chen. Zu nen- nen sind hier z.B. die Akti­on des Künst­lers Bank­sy, der wäh­rend einer Auk­ti­on bei Sotheby’s sein Bild sich teil- wei­se selbst zer­stö­ren ließ,48 NFT-Kunst­49 oder die Pro- test­ak­tio­nen der „Letz­ten Gene­ra­ti­on“. Letz­te­re lie­ßen bereits die For­de­run­gen nach neu­en Straf­tat­be­stän­den und här­te­ren Stra­fen ent­ste­hen, wobei frag­lich ist, ob der Weg über das Straf­recht tat­säch­lich ziel­füh­rend ist.50

Der Fall „Metall-auf-Metall“ zeigt, wel­che Her­aus­for- derun­gen aus dem Aus­ein­an­der­fal­len von nor­mier­tem Recht und Wirk­lich­keit für die Recht­spre­chung fol­gen und wie sich dies zeit­lich aus­wir­ken kann. Sol­che beson- ders lan­gen Ver­fah­ren belas­ten die Gerich­te zusätz­lich und füh­ren dazu, dass auch hier fak­ti­sche Gren­zen er- reicht wer­den. Es bleibt zu fra­gen, wie die Rechtsp­re- chung auf ähn­li­che Ent­wick­lun­gen reagie­ren und vor al- lem in wel­cher Geschwin­dig­keit dies gesche­hen wird. Gewiss ist jedoch: In der Mas­se wer­den wir uns über 20 Jah­re lau­fen­de Ver­fah­ren nicht mehr leis­ten können.51

4. Rechts­um­set­zung

Neben der Recht­set­zung und der Recht­spre­chung kommt der Rechts­um­set­zung eine zen­tra­le Rol­le zu. Hier zeigt sich, wie die nor­ma­ti­ven Vor­ga­ben kon­kret ange­wandt wer­den und ihre gestal­te­ri­sche Wir­kung ent-

48 Vgl. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/ banksys-zerstoertes-bild-steigert-seinen-wert-15825859.html.

49 Klei­ber, NFT – eine Ein­ord­nung zwi­schen Recht, Kunst und Block­chain, in: MMR-Aktu­ell, 2022, Mel­dung 445475; Heine/Stang, Wei­ter­ver­kauf digi­ta­ler Wer­ke mit­tels Non-Fun­gi­ble-Token aus urhe­ber­recht­li­cher Sicht. Funk­ti­ons­wei­se von NFT und Betrach- tung der urhe­ber­recht­li­chen Nut­zungs­hand­lun­gen, in: MMR 2021, 755.

50 Vgl. Ros­tal­ski, Das Straf­recht ist kei­ne The­ra­pie, libra-rechts­brie- fing v. 15.11.22.

51 S. hier­zu auch Fob­be, Sind zwan­zig Jah­re zuviel?,

fal­ten, ob die beab­sich­tig­te Wir­k­rich­tung des Rechts tat- säch­lich ein­tritt oder bis­her unbe­kann­te bzw. nicht bedach­te Hür­den ent­ste­hen. Wenn bereits der nor­ma­ti­ve Schaf­fens­pro­zess lang­wie­rig ist, könn­te man mei­nen, dass die anschlie­ßen­de Rechts­um­set­zung ent­spre­chend effi­zi­ent und unauf­ge­regt mög­lich ist. Den­noch kommt es auch an die­ser Stel­le immer wie­der zu Pro­ble­men, die dabei nicht immer auf nor­ma­ti­ve Schwä­chen zurück­zu- füh­ren sind, jedoch ein Indiz für sol­che sein können.

Ein Bei­spiel für die beson­ders lang­wie­ri­ge Umset- zung ist die Ein­füh­rung der elek­tro­ni­schen Pati­en­tenak- te.52 Bereits 2003 wur­de mit dem Gesetz zur Moder­ni­sie- rung der gesetz­li­chen Krankenversicherungen53 ange- sto­ßen, dass die wich­ti­gen Gesund­heits­da­ten der Patient*innen nicht mehr aus­schließ­lich dezen­tral bei den Behan­deln­den vor­lie­gen soll­ten. Der ers­te Ansatz hier­zu war die Ein­füh­rung der elek­tro­ni­schen Gesund- heits­kar­te (eGK), die zunächst 2006 erfol­gen soll­te, dann jedoch mehr­fach ver­scho­ben wur­de. Die genaue Funk­ti- ons­wei­se der eGK war dar­über hin­aus zunächst umstrit- ten und wur­de erst 2020 mit der Neu­re­ge­lung des SGB V durch das Pati­en­ten­da­ten-Schutz-Gesetz (PDSG)54 end- gül­tig geklärt. So ver­füg­ten die Ver­si­cher­ten mit der eGK im Gegen­satz zur vor­he­ri­gen Kran­ken­ver­si­cher­ten­kar­te z.B. bereits über die tech­ni­sche Mög­lich­keit, elek­tro­ni- sche Rezep­te zu ver­wen­den oder wei­te­re Daten neben den Pati­en­ten­stamm­da­ten zu spei­chern. Wie genau die- se neu­en elek­tro­ni­schen Funk­tio­nen jedoch aus­ge­stal­tet wer­den soll­ten, war nicht geregelt,55 sodass von die­sen Optio­nen kein Gebrauch gemacht wur­de. Einer­seits hät- te die (tech­ni­sche) Mög­lich­keit bestan­den, auf der eGK mög­lichst vie­le Pati­en­ten­da­ten zu spei­chern, sodass die eGK somit als mobi­le elek­tro­ni­sche Pati­en­ten­ak­te hät­te fun­gie­ren kön­nen („eGK als Spei­cher“), ande­rer­seits hät­te sie aus­schließ­lich eine blo­ße Authen­ti­fi­zie­rungs- und Auto­ri­sie­rungs­funk­ti­on haben kön­nen („eGK als Schlüs­sel“). Durch die aus­führ­li­che Nor­mie­rung der elek­tro­ni­schen Pati­en­ten­ak­te (ePA) in den §§ 341 ff. SGB V und der Neu­re­ge­lung der eGK wur­de durch den Gesetz­ge­ber 2020 schließ­lich klar­ge­stellt, dass die eGK selbst nicht als elek­tro­ni­sche Akte fungieren

Rechts­em­pi­rie v. 1 13.12.2022 DOI 10.25527/re.2022.03.
52 Aus­führ­lich hier­zu Heckmann/Rachut, Elek­tro­ni­sche Patienten-

akte und elek­tro­ni­sche Gesund­heits­kar­te, in: Reh­man­n/­Till- manns, E‑Health / Digi­tal Health, Mün­chen, 2022, Kap. 3 E.; bis 2025 sol­len lt. Bun­des­re­gie­rung mind. 80 Pro­zent der gesetz­lich Kran­ken­ver­si­cher­ten die ePA nut­zen, vgl. https://www.aerzteblatt. de/­nach­rich­ten/137322/­Elek­tro­ni­sche-Pati­en­ten­ak­te-Bund-will- 80-Prozent-Abdeckung-bis-2025.

53 BGBl. 2003 I, S. 2190.
54 BGBl. 2020 I, S. 2115.
55 Vgl. Thüsing/Rombey, NZS 2019, 201, 202.

soll. Statt­des­sen wur­de der stu­fen­wei­se Auf­bau der ePA ab 2021 beschlossen.56 Hier­bei wur­den die Kran­ken­ver- siche­run­gen ver­pflich­tet, die­se ihren Ver­si­cher­ten ab dem 1.1.2021 zur Ver­fü­gung zu stel­len und sie stu­fen­wei- se auszubauen.57 Doch auch die kon­kre­ten Vor­ga­ben hier­zu stell­ten die Kran­ken­ver­si­che­run­gen vor enor­me prak­ti­sche Her­aus­for­de­run­gen. Nicht nur muss­te die ePA tech­nisch umge­setzt wer­den, der Bun­des­be­auf­trag­te für den Daten­schutz und die Infor­ma­ti­ons­frei­heit (BfDI) hielt die Rege­lun­gen der ePA zudem für rechts­wid­rig und rief die Kran­ken­ver­si­che­run­gen unter Andro­hung etwa­iger auf­sichts­recht­li­cher Maß­nah­men dazu auf, von der Bereit­stel­lung einer sei­ner Ansicht nach rechts­wid­ri- gen ePA abzusehen.58 Die­se Debat­te mag zudem dazu bei­getra­gen haben, dass die (mitt­ler­wei­le ein­ge­führ­te) ePA kaum genutzt wird. Es scheint an Wis­sen, Akzep- tanz, Trans­pa­renz und Funk­ti­on der ePA59 zu feh­len. Die gesetz­ge­be­ri­sche Absicht, die Gesund­heits­ver­sor­gung durch eine elek­tro­ni­sche Akten­füh­rung in vie­len Punk- ten zu ver­bes­sern, stößt inhalt­lich auf Zustim­mung, ent- fal­tet in der Rea­li­tät jedoch auch nach meh­re­ren Jah­ren kaum Wir­kung. Die aktu­el­le Regie­rung hat sich daher dazu ent­schlos­sen, das Modell der ePA wei­ter zu refor- mie­ren und die Nut­zung im Wege eines Opt-Out-Ver- fah­rens zu gestalten.60

Die Nor­mie­rung eines Bereichs, um eine bestimm­te Mate­rie nach dem Wil­len des Gesetz­ge­bers zu gestal­ten, reicht nicht immer aus, um die ent­spre­chen­den Verän- derun­gen auch tat­säch­lich her­bei­zu­füh­ren. Mit­un­ter wird erst bei dem Ver­such der Rechts­an­wen­dung deut- lich, dass eine wei­te­re Regu­lie­rung not­wen­dig ist, um Unklar­hei­ten oder Hür­den in der Anwen­dung zu bes­ei- tigen. Dies wie­der­um kos­tet wei­te­re wert­vol­le Zeit und hängt mög­li­cher­wei­se mit der Art und Wei­se der bis­he- rigen Regu­lie­rung zusammen.

56 Heckmann/Rachut, Elek­tro­ni­sche Pati­en­ten­ak­te und elek­tro­ni­sche Gesund­heits­kar­te, in: Rehmann/Tillmanns, E‑Health / Digi­tal Health, Mün­chen, 2022, Kap. 3 E, Rn. 459 ff.

57 Heckmann/Rachut, Elek­tro­ni­sche Pati­en­ten­ak­te und elek­tro­ni­sche Gesund­heits­kar­te, in: Rehmann/Tillmanns, E‑Health / Digi­tal Health, Mün­chen, 2022, Kap. 3 E, Rn. 468 ff.

58 https://www.bfdi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/ DE/2020/20_BfDI-zu-PDSG.html. Hier­zu unter ver­fas­sungs- recht­li­chen Aspek­ten auch Heckmann/Paschke, Daten­schutz, in: Stern/Sodan/Möstl, Staats­recht, Mün­chen, 2022, § 103 Rn. 122 ff.

59 So wur­de bspw. die Ein­füh­rung des elek­tro­ni­schen Rezepts erneut ver­scho­ben, vgl. https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/ news­/ar­ti­kel­/2021/12/20/bmg-e-rezept-start-auf-unbe­stimm­te- zeit-verschoben.

60 SPD/Grü­ne/FDP, Mehr Fort­schritt wagen. Koali­ti­ons­ver­trag, 2012, S. 65, abruf­bar unter: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/

5. Juris­ten­aus­bil­dung – Nach 12 Jah­ren qualifiziert?

Nach­dem der Fak­tor Mensch bei Ver­än­de­rungs­pro­zes- sen eine zen­tra­le Rol­le spielt, könn­te auch die Aus­bil- dung der Jurist*innen als Hebel für die Beschleu­ni­gung des Rechts fun­gie­ren. Wie die ande­ren Berei­che des Rechts, zeich­net sich auch die juris­ti­sche Aus­bil­dung durch seit vie­len Jah­ren eta­blier­te Struk­tu­ren aus. Das zwei­stu­fi­ge Aus­bil­dungs­for­mat kann bereits auf eine lan- ge His­to­rie zurück­bli­cken: 1750 wur­de in Preu­ßen eine mehr­stu­fi­ge Aus­bil­dung ein­ge­führt, an deren Ende der Asses­so­ren­ti­tel stand.61 Die Aus­bil­dung mit Refe­ren- dars­examen (nach der uni­ver­si­tä­ren Aus­bil­dung) und dem Asses­sor­ex­amen (nach der wei­te­ren prak­ti­schen Aus­bil­dung) gibt es seit 1869.62 Die Grund­ge­dan­ken stam­men somit aus einer Zeit, in denen Her­aus­for­de- run­gen, wie sie die digi­ta­le Trans­for­ma­ti­on und die aktu- ellen glo­ba­len Ent­wick­lun­gen mit sich brin­gen, noch gar nicht bedacht waren und das Rechts­we­sen nur bestimm- ten Personen(-gruppen) vor­be­hal­ten war. So wur­de vor gera­de ein­mal 100 Jah­ren (am 7.12.1922) erst­mals eine Frau als Rechts­an­wäl­tin zuge­las­sen. Noch heu­te geht man davon aus, dass die Referendar*innen wäh­rend der cir­ca zwei­jäh­ri­gen Vor­be­rei­tungs­zeit auf das zwei­te juris- tische Staats­examen von fami­liä­rer Sei­te finan­zi­ell unter- stützt wer­den. Aus die­sem Grund gewährt der Staat ihnen ledig­lich eine Unter­halts­bei­hil­fe, die „eine Hil­fe zum Bestrei­ten des Lebens­un­ter­halts wäh­rend der Aus- bil­dung darstellt“63 und lässt Neben­tä­tig­kei­ten wäh­rend des Refe­ren­da­ri­ats nur in engen Gren­zen bzw. „in Aus- nah­men“ zu.64 U.a. Referendar*innen aus ein­kom­mens- schwä­che­ren Fami­li­en wird der Erwerb des zwei­ten Staats­examens und damit der Zugang zum Rich­ter­amt oder zur Anwalt­schaft dadurch wei­ter­hin erschwert.

Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf.
61 Vgl. Köb­ler, Zur Geschich­te der juris­ti­schen Aus­bil­dung in

Deutsch­land. in: JZ 1971, 768 ff.
62 Vgl. Weg­ner/­Suchro­w/­Buss­mann-Welsch, Was bis­her nicht geschah

(und war­um), FAZ Ein­spruch v. 25.2.20, abruf­bar unter: https:// www.faz.net/einspruch/reform-des-jurastudiums-was-bisher- nicht-geschah-und-warum-16650988.html?GEPC=s3&premium= 0x261782a4edba5f46303d071148ee73e5&fbclid=IwAR19h0UiiVarFd 4ho7OORQPTrP1wE_iY2xeV-B_lt-t30WoFMqRFHjRplTE.

63 VG Schles­wig, Beschl. v. 29.5.17 – 11 B 15/17 m. w. N. = Beck­RS 2017, 121343; VG Saar­lou­is, Urt. v. 14.9.2010 – 2 K 1112/09 = Beck­RS 2010, 54740.

64 In Bay­ern z.B. Min­dest­punkt­zahl in der ers­ten juris­ti­schen Staats­prü­fung, maxi­ma­le Wochen­ar­beits­zeit der Neben­tä­tig­keit von 9 bzw. 14 Stun­den sowie Anrech­nung der Ver­gü­tung auf die Unter­halts­bei­hil­fe, vgl. Art. 3 Abs. 2, 3 SiGjurVD.

Rach­ut · Recht ohne Wirk­lich­keit? 1 9 9

200 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208

Auch wenn sich die juris­ti­sche Aus­bil­dung, bes­te- hend aus dem Stu­di­um der Rechts­wis­sen­schaft und dem zwei­jäh­ri­gen Rechts­re­fe­ren­da­ri­at, theo­re­tisch inner­halb von sie­ben bis acht Jah­ren durch­lau­fen ließe,65 sieht die Rea­li­tät für vie­le anders aus. Durch das regel­mä­ßi­ge Über­schrei­ten der Regelstudienzeit,66 die Not­wen­dig­keit von Wie­der­ho­lungs­ver­su­chen, um die für den Wunsch- beruf wei­ter­hin aus­schlag­ge­ben­de Examens­punkt­zahl zu erreichen,67 War­te­zei­ten bis zum Beginn des Refe­ren- dariats68 und zur Ver­kün­dung der Prüfungsergebnisse69 dau­ert es deut­lich län­ger. Die­se Zeit kann sich durch Aus­lands­auf­ent­hal­te, Aus­zei­ten, Care­ar­beit oder eine Pro­mo­ti­on wei­ter erhö­hen. An den Abschluss des zwei- ten Examens schließt sodann die wei­te­re Aus­bil­dung („on the job“) in dem kon­kret zu ergrei­fen­den Beruf so- wie der Erwerb von Zusatz­qua­li­fi­ka­tio­nen, z.B. eine Me- dia­ti­ons- oder Fach­an­walts­aus­bil­dung, an.

Dies bedeu­tet, dass es bei der Fra­ge, wie das Recht im Jahr 2035 aus­se­hen soll, nicht um eine fer­ne Zukunft geht. Viel­mehr sind die Per­so­nen, die dann Recht spre- chen, Recht anwen­den und gestal­ten sol­len, die­je­ni­gen, die jetzt mit ihrer juris­ti­schen Aus­bil­dung begin­nen. Wenn aktu­ell dar­über dis­ku­tiert wird, ob und wie die ju- ris­ti­sche Aus­bil­dung moder­ni­siert wer­den soll,70 z.B. durch das Able­gen von Prü­fun­gen am Com­pu­ter (E‑Klausuren)71 statt den bis­he­ri­gen hand­schrift­li­chen Aus­ar­bei­tun­gen, die in fünf Stun­den ange­fer­tigt wer­den müs­sen, dann ist dies eigent­lich zu spät. Die Refor­men müss­ten auf­grund des zeit­li­chen Aus­ma­ßes der juris­ti- schen Aus­bil­dung viel­mehr die Arbeits­welt und deren Anfor­de­run­gen an Jurist*innen in einer fer­ne­ren Zu- kunft in den Blick nehmen.

65 An das min­des­tens fünf bis sechs Jah­re umfas­sen­de Stu­di­um schließt sich der juris­ti­sche Vor­be­rei­tungs­dienst (Refe­ren­da­ri­at) an, an des­sen Ende das zweit juris­ti­sche Staats­examen steht. Die­ses ist Vor­aus­set­zung für das Ergrei­fen der meis­ten (tra­di­tio­nel­len) juris­ti­schen Beru­fe, sie­he auch: Kili­an, Die Zukunft der Juris­ten. Weni­ger, anders, weib­li­cher, spe­zia­li­sier­ter, alter­na­ti­ver – und ent­behr­li­cher?, in: Neue Juris­ti­sche Wochen­schrift, 2017, S. 3043 ff.

66 Die Regel­stu­di­en­zeit betrug zunächst neun, seit Novem­ber 2019 zehn Semes­ter, § 5d Abs. 2 S. 1 DRiG (Deut­sches Rich­ter­ge­setz). Die tat­säch­li­che Stu­di­en­zeit der Stu­die­ren­den betrug 2016 bereits 11,3 Semes­ter (BT-Drs. 19/8581, S. 6.) und dürf­te sich gera­de durch die Coro­na-Pan­de­mie in den letz­ten Jah­ren wei­ter ver­län­gert haben.

67 Bei Nicht­be­stehen oder zur Noten­ver­bes­se­rung haben die Stu­die- ren­den in den meis­ten Bun­des­län­dern zudem die Mög­lich­keit, inner­halb der nächs­ten bei­den Prü­fungs­ter­mi­ne erneut an der Staats­prü­fung teil­zu­neh­men. Nach­dem die erreich­te Examens- note in bei­den Staats­examen nach wie vor ent­schei­dend für die spä­te­ren Berufs­mög­lich­kei­ten sind, wird die­se Opti­on von vie­len Stu­die­ren­den genutzt, sie­he auch: https://www.lto.de/karriere/ jura-refe­ren­da­ria­t/s­to­ries/­de­tail­/­z­wei­tes-staats­examen- wiederholen-verbesserungsversuch-noten-kanzleien.

6. Zwi­schen­er­geb­nis

Zwölf Jah­re im Recht kön­nen sich unter­schied­lich ges­tal- ten. Im schlimms­ten, aber durch­aus rea­lis­ti­schen Fall, gelingt es in die­sem Zeit­raum nicht, eine bestimm­te Mate­rie zu regeln oder ein Vor­ha­ben in der Rechts­pra­xis umzu­set­zen; auch eine rechts­kräf­ti­ge Ent­schei­dung muss nach zwölf Jah­ren noch nicht vor­lie­gen. Ziem­lich sicher wird es in die­ser Zeit jedoch einer Gene­ra­ti­on an Jurist*innen gelin­gen, die juris­ti­sche Aus­bil­dung zu durch­lau­fen. Dabei zeigt sich bereits jetzt: Der Rechts- staat steht vor gro­ßen Her­aus­for­de­run­gen, die sich zukünf­tig wei­ter aus­brei­ten wer­den. Bis­her hat man jedoch kei­nen Ansatz gefun­den, den unter­schied­li­chen Geschwin­dig­kei­ten von Recht und Wirk­lich­keit bei­zu- kom­men. Wäh­rend sich die Welt in allen Lebens­be­rei- chen immer schnel­ler dreht, kommt der Rechts­staat schlicht nicht mit. Ins­be­son­de­re durch die digi­ta­le Trans- for­ma­ti­on wer­den hier­bei Tat­sa­chen geschaf­fen, die sich nach­träg­lich nor­ma­tiv mit­un­ter nicht mehr aus­glei­chen las­sen. Dies birgt die Gefahr, dass es ver­mehrt zu einer nor­ma­ti­ven Kraft des Fak­ti­schen kommt und das Recht sei­ne Funk­ti­on nach und nach ver­liert, bis es schließ­lich wir­kungs­los ist.

II. Ver­stär­ken­de Faktoren

Blickt man in die Zukunft, las­sen sich ver­schie­de­ne Fak- toren aus­ma­chen, wel­che die beschrie­be­ne Dyna­mik ver­stär­ken werden.

68 Je nach Note und Bun­des­land müs­sen die Inter­es­sier­ten hier mit meh­re­ren Mona­ten War­te­zeit rech­nen. In Ber­lin betrug die War­te- zeit 2022 für die Top-Absolvent*innen des ers­ten Examens (mehr als 10 Punk­te) vier bis 19 Mona­te. Für Per­so­nen, die nicht zu den bes­ten Examens­kan­di­da­ten gehör­ten (weni­ger als 10 Punk­te) sogar 19 bis 22 Mona­te (https://www.berlin.de/gerichte/ kammergericht/karriere/rechtsreferendariat/bewerbungsver fahren/wartezeit/). Wäh­rend die Referendar*innen in den nächs- ten zwei Jah­ren ver­schie­de­ne Aus­bil­dungs­sta­tio­nen (z. B. an den Gerich­ten, bei der Staats­an­walt­schaft oder bei Anwält*innen) durch­lau­fen, berei­ten sie sich par­al­lel auf das zwei­te juris­ti­sche Staats­examen vor. Auch hier muss, ver­gleich­bar zum ers­ten Exa- men, mit ent­spre­chen­der Zeit für Kor­rek­tur, münd­li­che Prü­fung und einen etwa­igen Wie­der­ho­lungs­ver­such gerech­net werden.

69 Nach Able­gen der schrift­li­chen Prü­fun­gen des Examens muss mit meh­re­ren Mona­ten bis zur Kor­rek­tur und münd­li­chen Prü­fung gerech­net werden.

70 Hier mach­te ins­be­sond­re die Initia­ti­ve iur.reform auf sich auf- merk­sam, die eine gro­ße Stu­die zum Bedarf der Aus­bil­dungs­mo- der­ni­sie­rung durch­führ­te, https://iurreform.de/.

71 Heckmann/Rachut‚ E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, Ber­lin, 2023, S. 24 ff.

1. Zuneh­men­de Komplexität

Die Kom­ple­xi­tät der Sach­ver­hal­te, denen sich das Recht anneh­men muss, wird kon­ti­nu­ier­lich stei­gen. Nach­dem der Rechts­staat bereits jetzt an sei­ne Gren­zen stößt, erscheint es frag­lich, wie mit die­sen Her­aus­for­de­run­gen auf tat­säch­li­cher und recht­li­cher Sei­te umge­gan­gen wer- den soll.72

a) Kom­ple­xi­tät auf der Sachverhaltsebene

Die Ver­fah­ren zum NSU-Pro­zes­s73 oder im Zuge des Love­pa­ra­de-Unglücks74 zei­gen, dass eine gründ­li­che Auf­ar­bei­tung gro­ßer Sach­ver­hal­te Zeit benö­tigt. Ver­fah- ren, die aktu­ell als beson­ders kom­plex beschrie­ben wer- den, zeich­nen sich vor allem durch eine gro­ße Zeit­span- ne oder Per­so­nen­zahl aus. Hier braucht es die ent­sp­re- chen­den pro­zes­sua­len Mit­tel, um Ver­fah­ren zu bün­deln, sowie Res­sour­cen, um die­se Viel­zahl an Infor­ma­tio­nen auf­zu­ar­bei­ten. Umfang­rei­che Akten bedür­fen schlicht einer län­ge­ren Zeit zum Lesen und Bearbeiten.

Sach­ver­hal­te kön­nen auch der­art kom­plex sein, dass ein blo­ßes Mehr an bestehen­den Res­sour­cen (ins­be­son- dere Zeit und Per­so­nal) nicht genügt. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn für deren Erfas­sung und Bewer­tung Spe­zi­al­kennt­nis­se not­wen­dig sind, etwa wenn es um eine bestimm­te Tech­no­lo­gie geht, die eine beson­de­re Ex- per­ti­se erfor­dert. Ins­be­son­de­re hin­sicht­lich des Ein­sat- zes von KI-gestütz­ten Sys­te­men, Quan­ten­tech­no­lo­gie oder IoT-Diens­ten wird es in den kom­men­den Jah­ren zu recht­li­chen Fra­ge­stel­lun­gen kom­men, die auch durch die Gerich­te beant­wor­tet wer­den müssen.

Gerich­te bzw. Spruch­kör­per, die auf bestimm­te The- men spe­zia­li­siert sind, bil­den die Aus­nah­me, sodass sol- che Situa­tio­nen der Unwis­sen­heit Jurist*innen grund- sätz­lich nicht fremd sind. Nie­mand – auch nicht Richter*innen – muss alles wis­sen und ver­ste­hen. In sol- chen Fäl­len behilft man sich durch das Hin­zu­zie­hen ex- ter­ner Sach­ver­stän­di­ger, die einen bestimm­ten (z.B. vom Gericht vor­ge­ge­be­nen) Fra­gen­ka­ta­log auf­grund ihres spe­zi­el­len Sach­ver­stan­des beant­wor­ten. Dies geschieht bei­spiels­wei­se regel­mä­ßig bei Strei­tig­kei­ten im Zusam- men­hang mit Unfäl­len im Stra­ßen­ver­kehr. Wie schnell das Auto eines Betei­lig­ten war oder ob ein tech­ni­scher Defekt vor­lag, wird dann durch Sach­ver­stän­di­ge ermit- telt. Grund­sätz­lich lässt sich die­ses Prin­zip auch auf neue oder kom­ple­xe­re Sys­te­me über­tra­gen, hat jedoch sehr

  1. 72  Zur Kom­ple­xi­tät als Rechts­pro­blem s. Zoll­ner, Kom­ple­xi­tät und Recht, Ber­lin, 2014, S. 47 ff.
  2. 73  Vgl. https://www.spiegel.de/panorama/nsu-prozess- war­um-dau­er­te-der-pro­zess-fuenf-jah­re-lang- a‑00000000–0003-0001–0000-000002602349.

wohl sei­ne Gren­zen. Zum einen gibt es (tech­ni­sche) Sach­ver­hal­te, wel­che sich nicht auf­klä­ren las­sen bzw. ei- nem ste­ti­gen Wan­del unter­lie­gen, sodass bei­spiels­wei­se der Sach­ver­halt in der Zeit, in der ein Mensch ihn nach- voll­zo­gen hät­te, sich bereits geän­dert hat und für die recht­li­che Beur­tei­lung nicht mehr rele­vant ist. Dies ist z.B. bei selbst­ler­nen­den algo­rith­mi­schen Sys­te­men der Fall. Hier geht es in der Anwen­dung nicht dar­um, zu ver- ste­hen, wie genau das Sys­tem funk­tio­niert, son­dern nur dar­um, dass es (zu einem bestimm­ten Grad) funk­tio- niert. Die­ser Unge­wiss­heit in der Pra­xis steht jedoch das Bedürf­nis des Rechts nach Gewiss­heit gegenüber.

Zum ande­ren stellt sich die Fra­ge, ob ab einem gewis- sen Punkt eine Ent­schei­dung gänz­lich ohne ent­sp­re- chen­des Fach­wis­sen über­haupt noch mög­lich sein wird. Immer neue Gutachter*innen müss­ten zu immer mehr Fra­gen ange­hört wer­den, was den Pro­zess nicht nur im- mer wei­ter ver­lang­sa­men wür­de, son­dern auch die Fra­ge auf­wirft, ob das Gericht über­haupt noch über die not- wen­di­ge Kom­pe­tenz ver­fügt, sei­ne Rol­le auszufüllen.

b) Kom­ple­xi­tät auf der Rechtsebene

Hin­zu kommt, dass die Kom­ple­xi­tät auch auf der recht- lichen Ebe­ne wei­ter steigt. Solan­ge kei­ne spe­zi­el­len Rege- lun­gen für Tech­no­lo­gien wie KI, Block­chain oder NFTs exis­tie­ren, stellt sich in der Rechts­an­wen­dung die Fra­ge, unter wel­che der bestehen­den Nor­men die­se Tech­no­lo- gie zu sub­su­mie­ren ist, ob und wenn ja, wel­che Aus­nah- men oder tele­lo­gi­schen Reduk­tio­nen vor­zu­neh­men sind. Ähn­lich dem recht­li­chen Umgang mit Musik­sam­pling, herrscht gera­de in Hin­blick auf den Ein­satz bestimm­ter Tech­no­lo­gien oder der Zu- bzw. Ein­ord­nung bestimm­ter Kon­zep­te (etwas des Meta­ver­se oder Web 3.0) eine all­ge- mei­ne Rechts­un­si­cher­heit. Neben den Ent­wick­lun­gen auf der natio­na­len Ebe­ne muss zudem ver­mehrt auch das inter­na­tio­na­le Gesche­hen in den Blick genom­men wer­den. Ins­be­son­de­re die EU bemüht sich gera­de um ein umfas­sen­des Regu­lie­rungs­pa­ket und hat sich mit ihrer Daten­stra­te­gie zum Ziel gesetzt, in den nächs­ten Jah­ren an die Spit­ze der daten­ge­steu­er­ten Gesell­schaf­ten zu gelan­gen sowie einen ein­heit­li­chen Bin­nen­markt für Daten zu errich­ten, sodass eine EU-wei­te und bran­chen- über­grei­fen­de Daten­wei­ter­ga­be zum Nut­zen von Unter- neh­men, For­schen­den und öffent­li­chen Ver­wal­tun­gen mög­lich sein soll.75 Dar­auf basie­rend befin­den sich aktu- ell ver­schie­de­ne regu­la­to­ri­sche Vor­ha­ben auf dem Weg

74 Vgl. https://www.sueddeutsche.de/panorama/loveparade-prozess- urteil‑1.4896181.

75 Euro­päi­sche Kom­mis­si­on, Eine euro­päi­sche Daten­stra­te­gie, COM(2020) 66 final.

Rach­ut · Recht ohne Wirk­lich­keit? 2 0 1

202 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208

(u.a. AI Act, Data Gover­nac­ne Act, Data Act, Digi­tal Mar­kets Act, Digi­tal Ser­vices Act), deren kon­kre­tes Zusam­men­wir­ken noch nicht genau abseh­bar ist. Ande- re Rechts­fra­gen, wie bei­spiels­wei­se hin­sicht­lich der Mög­lich­keit, per­so­nen­be­zo­ge­ne Daten in Dritt­staa­ten – vor allem die USA – zu über­tra­gen, sind nach dem letz- ten Urteil des EuGH,76 trotz Ange­mes­sen­heits­be­schluss erneut in der Schwebe.77

c) Fol­gen der Komplexität

Eine Kom­ple­xi­täts­re­duk­ti­on ist zum Erhalt einer funk­ti- onie­ren­den Rechts­ord­nung not­wen­dig, Wege dort­hin aber bis­her nicht abseh­bar. Was am Bei­spiel der Gerich- te erläu­ter­tet wur­de, gilt eben­so für die ande­ren Berei­che des Rechts­staats. Die dro­hen­den Fol­gen des­sen kön­nen von Qua­li­täts­ver­lust bis hin zum (zumin­dest par­ti­el­len) Still­stand im Hin­blick auf Recht­set­zung, Rechts­an­wen- dung und Recht­spre­chung reichen.

2. Kei­ne Abhil­fe durch Technologieeinsatz

Inso­weit könn­te man nun dar­auf hof­fen, dass auch der Rechts­staat sich bestimm­ter Tech­no­lo­gien zur Unter- stüt­zung bedient. Aller­dings hat sich gera­de in der Coro- na-Pan­de­mie gezeigt, wie schlecht u.a. die Gerich­te tech- nisch aus­ge­stat­tet sind. Zwar besteht z.B. im Zivil­recht mit § 128a ZPO bereits seit 2013 die Mög­lich­keit, eine Ver­hand­lung im Wege der Bild- und Ton­über­tra­gung durch­zu­füh­ren, sodass nicht mehr alle Par­tei­en vor Ort sein müssen.78 Doch auch knapp zehn Jah­re spä­ter ist eine sol­che Ver­hand­lung wei­ter­hin die Aus­nah­me. Haut- li und Schlicht haben über 3000 Anträ­ge von Anwält*innen auf Durch­füh­rung einer Video­ver­hand- lung aus­ge­wer­tet und kom­men zu einem ernüch­tern­den Ergebnis79: Knapp die Hälf­te der Anträ­ge (48,4 Pro­zent) wur­de nega­tiv beschie­den, wobei als Grün­de dafür sei- tens der Gerich­te auf eine feh­len­de tech­ni­sche Aus­stat- tung, Feh­len des hin­rei­chend tech­nisch versierten

76 EuGH, Urt. v. 16.7.20 – C‑311/18 = NJW 2020, 2613.
77 Für eine tech­no­lo­gi­sche, statt recht­li­che Lösung s. Heck­mann,

libra-rechts­brie­fing v. 10.5.22.
78 Vgl. zur Ent­wick­lung der Digi­ta­li­sie­rung in der Jus­tiz Anne

Pasch­ke, Digi­ta­le Gerichts­öf­fent­lich­keit, Ber­lin, 2018, S. 235 ff.
79 Hautli/Schlicht, Ableh­nun­gen von Video­ver­hand­lun­gen: Eine Ana-

lyse von 3.000 „Die­sel­ver­fah­ren“, zpo-blog v. 27.5.2021, abruf­bar unter: https://anwaltsblatt.anwaltverein.de/de/zpoblog/hautli- schlicht-ableh­nung-video­ver­hand­lun­gen-128a-zpo-die­sel verfahren.

80 S. z. B. Mül­ler, BSG: Signa­tur bei Über­mitt­lung elek­tro­ni­scher Doku­men­te über das beA, in: NJW 2022, 1336; Oel­schlä­gel, Zu- mut­bar­keit der Nut­zung des beA, in: IT-Rechts­be­ra­ter 2021, S. 79; Gün­ther, Haf­tungs­fal­len rund ums beA, in: NJW 2020, 1785; NZA 2019, S. 825; Sieg­mund, Das beA von A bis Z, in: NJW, 2017, S. 3134; BGH, Urt. v. 22.3.21 – AnwZ (Brfg) 2/20 = NJW 2021, 2206; BGH,

Gerichts­per­so­nals oder die Nicht­not­wen­dig­keit auf- grund eines aus­rei­chend gro­ßen Gerichts­saals wäh­rend der Pan­de­mie ver­wie­sen wurde.

Auch in ande­ren Berei­chen, etwa der elek­tro­ni­schen Kom­mu­ni­ka­ti­on, zeigt sich, wie schwer sich die über Jahr­zehn­te bis Jahr­hun­der­te gewach­se­nen Struk­tu­ren des deut­schen Rechts­staats mit der Digi­ta­li­sie­rung tun. Das beson­de­re elek­tro­ni­sche Anwalts­post­fach (beA) bei- spiels­wei­se dient zur siche­ren elek­tro­ni­schen Kom­mu­ni- kat­ion der Anwält*innen mit den Gerich­ten. Bereits 2013 wur­de hier der Grund­stein zur akti­ven Nut­zungs­pflicht (Pflicht zur Über­sen­dung von bestimm­ten Doku­men­ten an die Gerich­te aus­schließ­lich in elek­tro­ni­scher Form) gelegt. In den Jah­ren des Auf­baus des beA sowie im ers- ten Jahr der akti­ven Nut­zungs­pflicht ereig­ne­ten sich den­noch zahl­rei­che Pannen.80

Vom Ein­satz unter­stüt­zen­der, z.B. auto­ma­ti­sier­ter Sys­te­me oder eines KI-Ein­sat­zes in der Brei­te ist die Jus- tiz noch weit ent­fernt. Auch wenn es hier bereits ers­te Über­le­gun­gen gibt, benö­ti­gen all die­se Tech­no­lo­gien ne- ben der Infra­struk­tur zunächst eine ent­spre­chen­de Da- ten­grund­la­ge. Dabei geht es nicht nur dar­um, dass die Infor­ma­tio­nen über­haupt elek­tro­nisch bestehen und so- mit ver­ar­bei­tet wer­den kön­nen, son­dern auch, wo, in wel­cher Qua­li­tät und wie die­se aus­ge­tauscht wer­den. Aktu­ell besteht nicht ein­mal ein voll­stän­di­ges Bild über die in Deutsch­land getrof­fe­nen gericht­li­chen Entsch­ei- dun­gen. Denn nur ein ver­schwin­dend klei­ner Teil davon (ca. 1 Pro­zent) wird über­haupt ver­öf­fent­licht und elekt- ronisch zugäng­lich bereitgestellt.81

3. Unat­trak­ti­vi­tät der klas­si­schen juris­ti­schen Berufe

Nimmt man den demo­gra­fi­schen Wan­del hinzu82, müs- sen kom­ple­xe­re Ver­fah­ren per­spek­ti­visch von immer weni­ger Per­so­nen bear­bei­tet wer­den, was zu einer wei­te- ren Erhö­hung der Bear­bei­tungs­zeit und damit Ver­län­ge- rung der Ver­fah­ren an den Gerich­ten führt.

Beschl. v. 29.9.21 – VII ZB 12/21 = NJOZ 2022, 93; BGH, Beschl. v.

11.5.21 – VIII ZB 9/20 = NJW 2021, 2201;
81 https://www.lto.de/recht/justiz/j/studie-veroeffentlichung-gerichts

ent­schei­dun­gen-deutsch­land-trans­pa­renz-jus­ti­z/; zur Ver­öf­fent- lichungs­pflicht von Gerichts­ent­schei­dun­gen s. z.B. kürz­lich OVG Müns­ter, Beschl. v. 11.1.2023 – 15 E 599/22 = NJW 2023, 1232.

82 Bun­des­weit geht man von einem Aus­schei­den von gut 40 Pro­zent aller Jurist*innen bis 2030 aus. So Deut­scher Rich­ter­bund, Die per­so­nel­le Zukunfts­fä­hig­keit der Jus­tiz in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, S. 7, abruf­bar unter: http://rba-nw.de/uploads/DRB- Positionspapier%20Nachwuchsgewinnung_kl.pdf; jüngst warn­ten zudem meh­re­re Gewerk­schaf­ten in die­sem Zusam­men­hang vor der Hand­lungs­un­fä­hig­keit des Staa­tes, s. https://www.welt.de/ wirt­schaf­t/ar­tic­le246878548/­Fach­kraef­te­man­gel-Gewerk­schaf­ten- warnen-vor-staatlicher-Handlungsunfaehigkeit.html.

83 Gleich­zei­tig könn­te man von den Wer­ten und Sicht­wei­sen der

Zwar könn­te man den bestehen­den und auf­kom­men- den Per­so­nal­man­gel mög­li­cher­wei­se durch die Einstel- lung von jun­gen, moti­vier­ten und idea­ler­wei­se digi­tal­af- finen Jurist*innen beseitigen.83 Dies wirft jedoch ein wei­te­res Pro­blem auf: Die für die Auf­recht­erhal­tung von Jus­tiz und Ver­wal­tung wich­ti­gen Beru­fe (also sämt­li­che Orga­ne der Rechts­pfle­ge oder Verwaltungsjurist*innen) wer­den zuneh­mend als unat­trak­tiv wahr­ge­nom­men. Sie erfor­dern einer­seits ein zwei­tes juris­ti­sches Staats­e­xa- men – immer mehr Absolvent*innen ent­schei­den sich nach dem ers­ten Examen jedoch gegen das Refe­ren­da­ri- at und damit gegen den Ein­tritt in die klas­si­schen juris­ti- schen Berufe.84 Ande­rer­seits ent­ste­hen auch im juris­ti- schen Bereich neue Berufs­fel­der, die eine fle­xi­ble­re, indi- vidu­el­le­re aber gleich­zei­tig sinn­stif­ten­de Tätig­keit er- mög­li­chen. Legal Tech ermög­licht bspw. die Ver­knüp­fung neu­es­ter Tech­no­lo­gien mit Rechts­fra­gen. Mit­tels Legal Design erhält dar­über hin­aus der Design Thin­king-An- satz Ein­zug in das Bear­bei­ten von Rechts­fra­gen und zahl­rei­che Jurist*innen haben ihren Weg in Unter­neh- men gefun­den, wo sie als eine Art Übersetzer*innen tä- tig sind, um recht­li­che Gesichts­punk­te z.B. früh­zei­tig in Ent­wick­lungs­pro­zes­se ein­zu­brin­gen. Selbst wenn man das zwei­te Examen mit den vom Staat gefor­der­ten guten Noten ablegt, bedeu­tet dies nicht zwangs­läu­fig, dass der Weg in Jus­tiz und Ver­wal­tung vor­ge­ge­ben ist, um dort im Bereich von Recht­spre­chung und Rechts­an­wen­dung oder der Vor­be­rei­tung von Regu­lie­rungs­ver­fah­ren mit- zuwir­ken. Der öffent­li­che Dienst ist hier gegen­über vie- len mög­li­chen Alter­na­ti­ven schlicht im Nach­teil. Dies bezieht sich in ers­ter Linie nicht auf die nied­ri­ge­re Ver- gütung, son­dern vor allem auf die gerin­ge­ren Mög­lich- kei­ten von indi­vi­du­el­ler För­de­rung, Auf­stiegs­chan­cen und Selbst­be­stimmt­heit der Arbeit.

4. Kul­tur und Selbst­ver­ständ­nis von Jurist*innen

Des Wei­te­ren zei­gen sich Jurist*innen ver­mehrt auch in ande­ren Rol­len, die nicht unbe­dingt eine neue Berufs- spar­te bedeu­ten. Gera­de bei der Fra­ge des Daten­schut­zes bzw. der Beur­tei­lung der dahin­ter­ste­hen­den Rech­te (auf EU-Ebe­ne: Ach­tung des Pri­vat- und Fami­li­en­le­bens sowie Schutz bezo­ge­ner Daten, Art. 7, 8 GrCh; auf natio- naler Ebe­ne: Recht auf infor­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim- mung, Art. 2 Abs. 1 i.V.m Art. 1 Abs. 1 GG) hat sich in den letz­ten Jah­ren eine inten­si­ve und kon­tro­vers geführ­te Dis­kus­si­on gezeigt. Hier­bei kommt es vor, dass

Jün­ge­ren pro­fi­tie­ren.
84 Deut­scher Rich­ter­bund ebda., S. 10 ff.
85 Zur Grund­rechts­ge­währ­leis­tung durch Daten­nut­zung sie­he Heck-

mann/Paschke, Daten­schutz, in: Stern/Sodan/Möstl, Staatsrecht,

Mün­chen, 2022, § 103 Rn. 97 ff.
86 Hes­se, Grund­zü­ge des Ver­fas­sungs­rechts der Bundesrepublik

Jurist*innen, die eigent­lich dazu ange­hal­ten wären, den Umgang mit Daten in einen recht­lich zuläs­si­gen Rah- men zu len­ken und dabei die ver­schie­de­nen recht­lich geschütz­ten Posi­tio­nen in einen ange­mes­se­nen Aus- gleich zu brin­gen, sich eher als Lobbyist*innen her­vor- getan haben. Kei­ne Fra­ge, Jurist*innen dür­fen par­tei­isch sein, wenn ihre Posi­ti­on dies erfor­dert. Wer­den sie aber (im staat­li­chen und damit all­ge­mei­nen Inter­es­se) für bestimm­te Auf­ga­ben, z.B. als Daten­schutz­be­auf­trag­te, bestellt, so gilt es, alle rele­van­ten Posi­tio­nen ein­zu­be­zie- hen. Neben dem Schutz per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten bein- hal­tet das auch das Recht auf Nut­zung (per­so­nen­be­zo­ge- ner) Daten.85 Des Öfte­ren scheint in der (öffent­li­chen) Debat­te ver­ges­sen zu wer­den, dass bspw. die DSGVO nicht nur „Vor­schrif­ten zum Schutz natür­li­cher Per­so- nen bei der Ver­ar­bei­tung per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten“, son­dern auch „zum frei­en Ver­kehr sol­cher Daten“ ent- hält, vgl. Art. 1 Abs. 1 DSGVO. Das Recht auf Daten- schutz ist kein „Über­grund­recht“ und über­trumpft daher auch nicht pau­schal ande­re Inter­es­sen. Wie bei ande­ren Kol­li­sio­nen eben­falls, gilt es, die betrof­fe­nen Rechts­po­si- tio­nen in einen ange­mes­se­nen Aus­gleich zu brin­gen. Kol­li­die­ren ver­schie­de­ne Grund­rech­te mit­ein­an­der, muss ihnen im Wege der prak­ti­schen Kon­kor­danz zu Gel­tung ver­hol­fen wer­den. Dem­nach gilt es, eine Lösung zu fin­den, bei der bei­de Grund­rech­te best­mög­lich zum Tra­gen kom­men, durch das eine das ande­re jedoch nicht an Wirk­kraft verliert.86

Das Daten­schutz­recht ist hier­bei nur ein Bei­spiel da- für, dass sich Jurist*innen durch­aus als „Ver­hin­de­rer“ und weni­ger als „Ermög­li­cher“ posi­tio­nie­ren. Statt in den auf­ge­wor­fe­nen Rechts­fra­gen die Mög­lich­keit zu se- hen, Chan­cen zu ergrei­fen und Wege auf­zu­zei­gen, wird oft­mals betont, was nicht geht. Damit wird mit­un­ter der Weg zu einer mög­li­chen funk­tio­nie­ren­den und rechts- kon­for­men Lösung verbaut.

Eng mit dem Selbst­ver­ständ­nis der Jurist*innen ver- bun­den ist die bestehen­de Kul­tur. Die Aus­bil­dung för- dert wei­ter­hin Einzelkämpfer*innen und belohnt Indi­vi- duen, die sich von der Grup­pe abhe­ben. Der Fokus der Aus­bil­dung und Bewer­tung liegt dabei auf dem Repro- duzie­ren bestimm­ter Streit­stän­de und Recht­spre­chung. Mit­tel­bar wird dadurch die Abgren­zung unter den Stu- die­ren­den geför­dert, Aus­wen­dig­ler­nen geht Ver­ständ­nis vor und zusätz­li­che Akti­vi­tä­ten und das Erler­nen wei­te- rer Kompetenzen87, die nicht examens­re­le­vant sind,

Deutsch­land, Hei­del­berg, 1999, S. 71.
87 Zur Team­fä­hig­keit und ihrer Ein­be­zie­hung in Aus­bil­dung und

Prü­fung sie­he auch Heckmann/Seidl/Pfeifer/Koch c.t. <com­pli­ant team­work>. Team­ori­en­tier­tes Ler­nen in den Rechts­wis­sen­schaf- ten, Ber­lin, 2015.

88 Vgl. Heck­mann, Gel­tungs­kraft und Gel­tungs­ver­lust von Rechts-

Rach­ut · Recht ohne Wirk­lich­keit? 2 0 3

204 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208

wer­den nur sel­ten hono­riert. Es wun­dert daher nicht, dass man auch den „fer­ti­gen Jurist*innen“ nach­sagt Einzelkämpfer*innen zu sein und sich schwer tun, als Grup­pe oder Team etwas zu errei­chen. Mög­li­cher­wei­se bedingt dies eben­falls, dass Feh­ler eher ver­steckt wer­den, als die­se öffent­lich zu machen, um einen gemein­sa­men Lern­pro­zess anzustoßen.

5. Nega­ti­ve Synergien

Hin­zu kommt, dass sich die vor­ge­nann­ten Fak­to­ren gegen­sei­tig ver­stär­ken. Das immer wei­te­re Ent­fer­nen von Recht und Wirk­lich­keit sorgt für eine ste­ti­ge Aus- wei­tung von Rechts­un­si­cher­heit und damit zu nega­ti­ven Fol­gen für das Indi­vi­du­um und die Gesell­schaft. Ein Staat, der nicht in der Lage ist, Inno­va­tio­nen durch einen ent­spre­chen­den Rechts­rah­men zu ermög­li­chen und zu för­dern, ver­liert sei­ne Attrak­ti­vi­tät als Wirt­schafts­stand- ort. Feh­len­de Res­sour­cen bei stei­gen­dem Bedarf sowie die im Ver­hält­nis unat­trak­ti­ver wer­den­den beruf­li­chen Aus­sich­ten, ver­stär­ken den bestehen­den Per­so­nal­man­gel und ver­rin­gern die Hand­lungs­mög­lich­kei­ten des Staa­tes wei­ter. Eine Lösung erscheint hier nicht mehr allein über das Auf­brin­gen enor­mer finan­zi­el­ler Mit­tel mög­lich, son­dern es droht zumin­dest ein zeit­wei­ses Abfal­len der Qua­li­tät. Schließ­lich kön­nen die indi­vi­du­el­len nega­ti­ven Erfah­run­gen mit dem Recht in all sei­nen Facet­ten zum Schwin­den der Akzep­tanz in der Gesell­schaft bei­tra­gen und die Steue­rungs­mög­lich­keit des Rechts wei­ter ein- schrän­ken, bis der Rechts­staat schließ­lich ganz zum Erlie­gen kommt.

6. Zwi­schen­er­geb­nis: Der Rechts­staat in einer Abwärts- spirale

Ein Aus­ein­an­der­fal­len von Recht und Wirk­lich­keit ist unse­rem Rechts­staat zu einem gewis­sen Grad nicht fremd.88 Die zöger­li­che bzw. über­leg­te Adap­ti­on des Rechts mag zum Teil sogar als Vor­teil im Sin­ne eines Ge-

nor­men, 1997, S. 173 ff.; Brin­ge­wat, Gel­tungs­ver­lust von Nor­men und Ver­fü­gun­gen des öffent­li­chen Bau­rechts im Span­nungs­ver- hält­nis von Recht und Wirk­lich­keit, Baden-Baden, 2012, S. 19; vgl. auch, jedoch mit stär­ke­rem Fokus auf Öster­reich Scham­beck, Vom Sinn­wan­del des Rechts­staa­tes, Ber­lin, 1970, S. 30.

89 Zum Ent­wi­ckeln von Visio­nen aus Sci­ence-Fic­tion s. Her­mann, Von Sci­ence-Fic­tion ler­nen: Wel­che Digi­tal- und Daten­po­li­tik wol­len wir?, Tages­spie­gel Back­ground v. 2.12.22, abruf­bar unter: https://background.tagesspiegel.de/digitalisierung/von-science- fiction-lernen-welche-digital-und-datenpolitik-wollen-wir.

90 So beein­fluss­ten die im Grund­ge­setz der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ver­an­ker­ten Wer­te und Kon­zep­te die Ver­fas­sun­gen einer Viel­zahl von Demo­kra­tien, u.a. erkenn­bar z. B. auch bei der Ver­an­ke­rung der Unan­tast­bar­keit der Wür­de des Men­schen in die post-fran­quis­ti­sche Ver­fas­sung Spa­ni­ens von 1978, vgl. Oeh­ling de

gen­pols an Bestän­dig­keit zu den sich ansons­ten so schnell ver­än­dern­den Umstän­den ange­se­hen werden.

Gewiss bedeu­tet Kon­ti­nui­tät im Recht auch Ver­läss- lich­keit, Absi­che­rung und Vor­her­seh­bar­keit; Attri­bu­te, die man mit einem funk­tio­nie­ren­den Rechts­staat ver­bin- den soll­te. Nichts­des­to­trotz kann die Dis­kre­panz zwi- schen Recht und Wirk­lich­keit irgend­wann so groß wer- den, dass die bei­den Ebe­nen nur noch los­ge­löst von­ein- ander exis­tie­ren, das Recht mit­hin sei­ne Steue­rungs­kraft im Wesent­li­chen verliert.

In einer sol­chen Situa­ti­on hel­fen auch abs­trak­te Wer- te oder Ord­nungs­prin­zi­pi­en nicht, wenn sie nicht (mehr) mit Vor­stel­lung und Moral der gegen­wär­ti­gen Gesell- schaft als Sub­jek­te der Rechts­ord­nung über­ein­stim­men. Die Fol­ge einer sol­chen Abwärts­spi­ra­le ist der schlich­te Akzep­tanz­ver­lust des Rechts und mit ihm die feh­len­de Mög­lich­keit, zu wirken.

Die­ser Abwärts­spi­ra­le ent­ge­gen­zu­wir­ken wird daher zen­tra­le Auf­ga­be der kom­men­den Jah­re sein, um auch unter Zeit­druck den ver­schie­de­nen Kri­sen trot­zen zu können.

III. Dem Steue­rungs­ver­lust des Rechts begegnen

Aus die­ser beschrie­be­nen Abwärts­spi­ra­le ergibt sich nichts weni­ger als ein dro­hen­der Steue­rungs­ver­lust des Rechts, dem es ganz­heit­lich zu begeg­nen gilt.

1. Das Ziel: Der Rechts­staat als Standortfaktor

Ziel der Maß­nah­men kann dabei nicht nur sein, die Steue­rungs­kraft in irgend­ei­ner Art zu erhal­ten, son­dern viel­mehr einer kla­ren Visi­on zu folgen.89 Das deut­sche Rechts­sys­tem ist im EU-wei­ten und inter­na­tio­na­len Ver- gleich hoch ange­se­hen, ver­fügt über vie­le Stär­ken und sowohl Recht­spre­chung als auch Geset­ze gel­ten als Vor- bil­der und Ori­en­tie­rungs­mar­ken für ver­schie­de­ne Län- der weltweit.90 Ein funk­tio­nie­ren­der, im Sin­ne von Kon-

91

los Reyes, El con­cep­to con­sti­tu­cio­nal de digni­dad de la per­so­na: For­ma de com­pren­sión y modelos pre­do­mi­nan­tes de recep­ción en la Euro­pa con­ti­nen­tal, in: Revis­ta Espa­ño­la de Der­echo Con­sti­tu- cio­nal, 2011, S. 164 ff. Auch im zivil- und straf­recht­li­chen Bereich konn­ten zahl­rei­che deut­sche jur. Kon­zep­te und Stan­dards ihren Fin­ger­ab­druck in diver­sen inter­na­tio­na­len Rechts­ord­nun­gen hin­ter­las­sen (v.a. in Est­land, Asi­en und Süd­ame­ri­ka), vgl. Kull, Reform of Con­tract Law in Esto­nia: Influen­ces of Har­mo­ni­sa­ti­on of Euro­pean Pri­va­te Law, in: Juri­di­ca Inter­na­tio­nal, 2008, S. 122 ff.; Zaffaroni/ Cro­x­at­to, El pen­sa­mi­en­to ale­mán en el der­echo penal argen­ti­no, in: Jour­nal of the Max Planck Insti­tu­te for Euro­pean Legal Histo­ry, 2014, S. 192 ff.; Lun­ey Jr., Tra­di­ti­ons and for­eign influen­ces: Sys­tems of Law in Chi­na and Japan, in: Law and Con- tem­po­ra­ry Pro­blems, 1989, S. 129 ff.
Vgl. z.B. LL.B Legal Tech (Pas­sau), https://www.uni-passau.de/

tinui­tät und Zuver­läs­sig­keit getra­ge­ner, Rechts­staat stellt hier­bei auch einen wich­ti­gen Stand­ort­fak­tor dar, auf den es sich zu besin­nen und die­sen es auch künf­tig zu för- dern gilt. Frag­lich ist daher, mit wel­chen Impul­sen es gelin­gen kann, den Rechts­staat auch im Jah­re 2035 (noch) als wert­vol­len Stand­ort­fak­tor zu eta­blie­ren bzw. zu för­dern. Denn die oben dar­ge­stell­ten nega­ti­ven Syn- ergien auf Wirt­schaft, Poli­tik und Zivil­ge­sell­schaft könn- ten mit einem star­ken Rechts­staat eben­so ins Gegen­teil ver­kehrt wer­den. Der Rechts­staat wäre somit Garant für eine Gesell­schaft nach unse­ren frei­heit­lich demo­kra­ti- schen Vor­stel­lun­gen und Wer­ten – mit­hin im Sin­ne aller.

2. Moder­ni­sie­rung der juris­ti­schen Ausbildung

Das Recht ist ohne die Men­schen nichts. Wie bei ande- ren Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­sen, hängt des­sen Erfolg maß­geb­lich von den Per­so­nen ab, die sie bewir­ken und die von ihnen betrof­fen sind. Der effek­tivs­te Pro­zess und die bes­ten Tech­no­lo­gien sind wert­los, wenn sie nicht genutzt wer­den. Aus die­sem Grund gilt es, die juris­ti­sche Aus­bil­dung an die Arbeits­welt und Her­aus­for­de­run­gen von Gegen­wart und Zukunft anzu­pas­sen. Neben der mate­ri­ell-recht­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung mit Digi­ta­li- sie­rungs­the­men (wie z.B. durch die Mög­lich­keit sich bereits wäh­rend der Aus­bil­dung dar­auf zu spe­zia­li­sie­ren (sog. Schwer­punkt­be­reich oder Berufs­feld) oder im Rah­men spe­zi­el­ler und inter­dis­zi­pli­nä­rer Stu­di­en­gän- ge91), bedarf es eben­so der Ver­mitt­lung der prak­ti­schen Fähig­kei­ten. Jurist*innen arbei­ten bereits jetzt zu wesent- lichen Tei­len am Com­pu­ter, nut­zen ver­schie­de­ne Daten- ban­ken und Soft­ware zur Erstel­lung der Schrift­sät­ze oder Berech­nung von Ansprü­chen. Eine Reform der juris­ti­schen Aus­bil­dung hät­te nicht nur den Vor­teil, dass die­se inklu­si­ver und chan­cen­ge­rech­ter gestal­tet wäre und die Absolvent*innen die tat­säch­lich benö­tig­ten Fähig­kei­ten ver­mit­telt bekämen,92 son­dern auch, dass die ten­den­zi­ell bestehen­de Hem­mung gegen­über Inno- vatio­nen im Rechts­be­reich abge­baut wer­den könn­te. Dies ebnet den Weg dafür, das tech­nisch Mög­li­che gekonnt ein­zu­set­zen und so zur drin­gend benö­tig­ten Ent­las­tung des knap­pen Per­so­nals bei­zu­tra­gen. Jurist*innen sind nicht ersetz­bar, es gibt jedoch Aspek­te der juris­ti­schen Arbeit, die sich auto­ma­ti­sie­ren oder zumin­dest ver­ein­fa­chen lie­ßen, wenn man es denn zulie- ße.

legal­tech, sowie LL.M. Legal Tech (Regens­burg), https://www. legaltech-ur.de/.

92 Vgl. Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fernprü-

Initia­ti­ven wie iur.reform93 set­zen sich bereits jetzt für eine Moder­ni­sie­rung der juris­ti­schen Aus­bil­dung ein. Dazu wur­de die seit über 20 Jah­ren bestehen­de Re- form­dis­kus­si­on aus­ge­wer­tet und in 44 zen­tra­le The­sen gefasst, wel­che schließ­lich in die bun­des­weit größ­te Um- fra­ge unter Jurist*innen geflos­sen sind. Sol­che Best­re- bun­gen gilt es zu för­dern und deren Ergeb­nis­se als ers­ten Impuls zu nutzen.

3. Netz­wer­ke schaf­fen und fördern

Netz­wer­ke sind auch für Jurist*innen wich­tig. Sie soll­ten weni­ger mit dro­hen­den Befan­gen­heits­an­trä­gen asso­zi- iert und statt­des­sen bewusst geschaf­fen und genutzt wer- den. Sol­che Netz­wer­ke ent­ste­hen aktu­ell vor allem auf natür­li­che Wei­se in den ver­schie­de­nen Insti­tu­tio­nen und über die übli­chen beruf­li­chen Kon­tak­te. In eini­gen Berei­chen fin­den sich auf Initia­ti­ve Ein­zel­ner bereits orts- bzw. insti­tu­ti­ons­über­grei­fend Men­schen zum Aus- tausch zusam­men. Foren wie die digi­ta­le Rich­ter­schaft oder Ver­ei­ne wie der Next e.V. ermög­li­chen es Inte­res- sier­ten einer­seits, sich mit ihren Erfah­run­gen und Fra- gen an ein grö­ße­res Publi­kum zu wen­den und per­sön­li- che Kon­tak­te zu knüp­fen. Dies schafft Ver­trau­en unte­rei- nan­der und för­dert einen ehr­li­chen Umgang mit Pro­ble­men und Her­aus­for­de­run­gen. Ande­rer­seits infor- mie­ren sol­che Initia­ti­ven und len­ken Auf­merk­sam­keit auf bestimm­te The­men, sor­gen somit für eine gewis­se Sicht­bar­keit und moti­vie­ren mög­li­cher­wei­se zum eige- nen Enga­ge­ment. Dadurch wie­der­um kön­nen ver­meint- liche Einzelkämpfer*innen ermu­tigt und zusam­men­ge- bracht wer­den. Die­se Netz­wer­ke sind zudem not­wen­dig, um der stei­gen­den Kom­ple­xi­tät auf tech­ni­scher und recht­li­cher Ebe­ne zu begeg­nen. Es gilt daher, sie aktiv ein­zu­rich­ten und zu fördern.

4. Durch­läs­sig­keit und Inter­dis­zi­pli­na­ri­tät stärken

Die Viel­sei­tig­keit der juris­ti­schen Beru­fe und die unter- schied­li­chen Erfah­run­gen, die dadurch gesam­melt wer- den kön­nen, bie­ten eine wei­te­re gro­ße Chan­ce von­ein- ander zu ler­nen. Den­noch sind Per­spek­tiv­wech­sel eher eineSeltenheit.NurwenigeJurist*innenwechselnaus der Anwalt­schaft ins Rich­ter­amt und umge­kehrt, oft- mals wird der nach dem Examen ein­ge­schla­ge­ne Kar­rie- reweg über vie­le Jah­re wei­ter­ver­folgt. Gera­de das Dienst- und Beam­ten­recht bie­tet hier nur wenig Durchlässigkeit

fung, Ber­lin, 2023, S. 22. 93 Vgl. https://iurreform.de/.

94 Zum bis­he­ri­gen Stand und Ver­ständ­nis s. Wrase/Scheiwe, Rechts-

Rach­ut · Recht ohne Wirk­lich­keit? 2 0 5

206 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208

und Anrei­ze, die in ande­ren Berei­chen erwor­be­nen Fähig­kei­ten (zeit­wei­se) in den Dienst des Staa­tes zu stel- len.

Anpas­sun­gen in die­sem Bereich müs­sen zudem nicht auf Jurist*innen beschränkt sein. Bereits jetzt stellt die­se Berufs­grup­pe z.B. einen gro­ßen Teil der minis­te­ri­el­len Beamt*innen und schließt dadurch wert­vol­le Per­spek­ti- ven und Metho­den ande­rer Fach­rich­tun­gen aus. Fel­low- ship-Pro­gram­me wie Work4Germany haben den Mehr- wert die­ses Ansat­zes bereits unter Beweis gestellt und ge- zeigt, dass inter­dis­zi­pli­nä­res Arbei­ten auch im öffent­li- chen Sek­tor gelin­gen kann.

Neben der Durch­läs­sig­keit zwi­schen den ver­schie­de- nen Beru­fen, gilt es daher, die Rechts­wis­sen­schaft mit wei­te­ren Dis­zi­pli­nen zu ver­knüp­fen. Recht und Rechts- staat sind jetzt auf die Erkennt­nis­se ande­rer Wis­sen- schaf­ten und Dis­zi­pli­nen ange­wie­sen. So wird es auf- grund der digi­ta­len Trans­for­ma­ti­on immer wich­ti­ger, neben der tech­ni­schen Funk­ti­ons­wei­se auch die Aus­wir- kun­gen auf Gesell­schaft oder Wirt­schaft zu begreifen.

Damit dies gelingt, mit­hin eine „gute“ Recht­set­zung ermög­licht wird, die den Rege­lungs­be­darf erkennt und im Rah­men der (verfassungs-)rechtlichen Vor­ga­ben und anhand des poli­ti­schen Wil­lens umsetzt, bedarf es mehr als die aktu­ell im Gesetz­ge­bungs­pro­zess eta­blier­ten An- hörun­gen. Es ist viel­mehr ein früh­zei­ti­ger und ech­ter in- ter­dis­zi­pli­nä­rer Aus­tausch not­wen­dig. Dies umfasst ins- beson­de­re eine Kom­mu­ni­ka­ti­on auf Augen­hö­he, die Fä- hig­keit, sich in ande­re Posi­tio­nen hin­ein­zu­ver­set­zen und das Hin­ter­fra­gen der eige­nen Annah­men. Inter­dis­zi­pli- näres Arbei­ten ist mehr als das Betei­li­gen ver­schie­de­ner Dis­zi­pli­nen. Es erfor­dert weni­ger die höchs­ten Fer­tig­kei- ten im eige­nen Fach­be­reich, son­dern viel­mehr bestimm- te, oft unter der Kate­go­rie soft skills zusam­men­ge­fass­te Fähig­kei­ten, die somit als „Zukunfts­skills“ in den Mit­tel- punkt rücken.

5. Feh­ler- und Lern­kul­tur etablieren

Auch wenn ein Rechts­staat danach strebt, Feh­ler zu ver- mei­den, so kom­men sie zwangs­läu­fig vor und wer­den sich mög­li­cher­wei­se häu­fen, wenn man inno­va­ti­ve Ansät­ze ver­folgt. Eine Kul­tur, in der Feh­ler unwei­ger­lich nega­ti­ve Kon­se­quen­zen für den Ein­zel­nen haben, regt dazu an, die­se zu ver­schwei­gen. Dass Feh­ler nicht ver- schwie­gen, son­dern offen behan­delt wer­den soll­ten, ist per se nicht Neu­es. Wich­tig ist jedoch sich bewusst zu machen, dass der trans­pa­ren­te Umgang mit Feh­lern nicht nur aus Sicht des Ein­zel­nen wün­schens­wert ist,

wir­kungs­for­schung revi­si­ted, in: Zeit­schrift für Rechtssoziologie,

2018, S. 5 ff.
95 S. Les­sig, Code: And Other Laws Of Cyber­space, New York, 1999,

son­dern vor allem die Mög­lich­keit bie­tet, durch Auf­klä- rung und Adap­ti­on des Sys­tems wei­te­re Feh­ler zu ver- mei­den. Daher müs­sen sol­che Struk­tu­ren geschaf­fen wer­den, die sicher­stel­len, dass etwa­ige Feh­ler nicht nur kom­mu­ni­ziert, son­dern aus ihnen auch die not­wen­di­gen Schlüs­se gezo­gen wer­den, somit neben einer Feh­ler- auch eine Lern­kul­tur sicherstellen.

6. Digi­ta­li­sie­rung des Rechts

Ent­schei­dend wird zudem sein, ob es gelingt, die Poten- tia­le der Digi­ta­li­sie­rung auch im und für das Recht zu nut­zen. Eine flä­chen­de­cken­de elek­tro­ni­sche Akten­füh- rung kann hier­bei nur ein ers­ter Schritt sein, um eine umfas­sen­de elek­tro­ni­sche Grund­la­ge für die wei­te­re Arbeit zu schaf­fen. Es bedarf dar­über hin­aus einer umfas­sen­den Daten­grund­la­ge und der qua­li­ta­ti­ven Auf- berei­tung die­ser, um den künf­ti­gen Her­aus­for­de­run­gen zu begeg­nen. Nicht nur wür­de z.B. eine Ver­öf­fent­li­chung und Auf­be­rei­tung sämt­li­cher Gerichts­ent­schei­dun­gen in anony­mi­sier­ter Form dazu bei­tra­gen, dass Richter*innen bei ihren Ent­schei­dun­gen im gesam­ten Bun­des­ge­biet auf umfas­sen­de Mate­ria­li­en zur Bewer­tung und Ein­schät- zung zurück­grei­fen könn­ten, son­dern ebne­te dies auch den Weg zu einer umfas­sen­den Rechts­wir­kungs­for- schung. Auf der einen Sei­te wür­den dadurch die Entscheidungsträger*innen in Exe­ku­ti­ve, Legis­la­ti­ve und Judi­ka­ti­ve ent­las­tet, da sie ihre wert­vol­len Kapa­zi­tä- ten nicht mehr zur müh­sa­men Erfas­sung und Auf­be­rei- tung des Sach­ver­halts, der Beauf­tra­gung von wei­te­ren Gut­ach­ten oder Stu­di­en sowie der Tat­sa­che, dass bestimm­te Infor­ma­tio­nen schlicht nicht ein­ge­holt wer- den kön­nen, ver­wen­den müss­ten. Zudem schafft ein solch daten­ba­sier­tes Recht Trans­pa­renz und dadurch nicht nur Ver­trau­en in den Rechts­staat, son­dern ermög- licht es eben­so, dass das Recht gerech­ter wird. Ver­hält- nis­mä­ßig leicht könn­ten z.B. regio­na­le Unter­schie­de in der recht­li­chen Bewer­tung dar­ge­stellt und hin­ter­fragt wer­den. Zudem könn­te dadurch über­prüft wer­den, ob die Rege­lungs­in­ten­ti­on des Gesetz­ge­bers mit einer kon- kre­ten Norm tat­säch­lich erreicht wird sowie, ob und wo sich Pro­ble­me in der Rechts­an­wen­dung stel­len, um ent- spre­chend schnell dar­auf reagie­ren zu kön­nen (Rechts- wirkungsforschung94). Wei­ter könn­ten Regu­lie­rungs- wir­kun­gen von Umstän­den oder Drit­ten auf­ge­deckt wer­den, die bei der bis­he­ri­gen Fokus­sie­rung auf for­mel- les und mate­ri­el­les Recht unbe­rück­sich­tigt blei­ben. Neben der nor­ma­ti­ven Kraft des Fak­ti­schen gilt es eben- so, die nor­ma­ti­ven Wir­kun­gen von Code95, (Indus­trie-)

S. 3 ff.
96 Ins­bes. auch nicht gesetz­lich nor­mier­te Regu­la­ri­en, sog. (Indust-

Standards96 oder die Macht nicht­staat­li­cher und/oder glo­ba­ler Akteu­re zu untersuchen.97

In die­sem Zusam­men­hang ist zudem zu hin­ter­f­ra- gen, inwie­weit durch tech­ni­sche oder sys­tem­im­ma­nen­te Vor­ga­ben Rechts­brü­che bereits ver­mie­den wer­den kön- nen. So mag es auf der einen Sei­te vor­teil­haft erschei­nen, dass bestimm­te rechts­wid­ri­ge Hand­lun­gen schlicht un- mög­lich gemacht wür­den, auf der ande­ren Sei­te darf nicht ver­ges­sen wer­den, dass Gegen­stand einer sol­chen Regu­lie­rung durch Tech­nik der Mensch ist, des­sen indi- vidu­el­le (Entscheidungs-)Freiheit es durch das Recht zu schüt­zen gilt. Eine sol­che Lösung löst daher nur das ober­fläch­li­che Pro­blem der Über­las­tung, schützt in Wahr­heit aber nicht die indi­vi­du­el­le Frei­heit und ist da- her im Ergeb­nis abzu­leh­nen. So mag es viel­leicht kein „Recht auf Rechts­bruch“ geben, jedoch schüt­zen grund- recht­li­che Frei­hei­ten vor einer voll­stän­di­gen Deter­mi- nie­rung mensch­li­cher Ent­schei­dun­gen und Hand­lungs- wei­sen durch umfas­sen­de tech­no­lo­gisch ermög­lich­te Auto­ma­ti­sie­rung des Normvollzugs98.

Mehr Daten führ­ten dar­über hin­aus kei­nes­falls dazu, dass Jurist*innen obso­let wür­den. Die kom­ple­xen Ein- schät­zungs­spiel­räu­me und Abwä­gun­gen erfor­dern gera- de eine mensch­li­che Ent­schei­dung, die nicht auto­ma­ti- siert wer­den kann. Daten und der Ein­satz ent­spre­chen- der daten­ba­sier­ter Tech­no­lo­gien (z.B. durch Legal Tech) kön­nen jedoch die not­wen­di­ge Ent­las­tung im Bereich des Rechts schaf­fen. Dies kann indes nur gelin­gen, wenn neben der tech­ni­schen Infra­struk­tur, dem Auf­bau der Daten und der Kom­pe­tenz­ver­mitt­lung auch ein all­ge- mei­nes Bekennt­nis zur Daten­nut­zung erfolgt. Dies be- deu­tet, dass eine etwa­ige bestehen­de ein­sei­ti­ge Fokus­sie- rung auf Daten­schutz in einen ver­hält­nis­mä­ßi­gen Aus- gleich mit den Inter­es­sen an der Daten­nut­zung gebracht wer­den muss.

Dar­über hin­aus müs­sen die Fra­gen der prak­ti­schen Umset­zung, u.a. das Auf­brin­gen der not­wen­di­gen finan- ziel­len Mit­tel, dis­ku­tiert wer­den. Im Bun­des­rat wur­de hier­zu bei­spiels­wei­se schon ein Vor­schlag für eine dies- bezüg­li­che Grund­ge­setz­än­de­rung eingebracht.99

rie-)Standards (z. B. DIN-Nor­men), neh­men mitt­ler­wei­le einen hohen Stel­len­wert im inter­na­tio­na­len Han­del ein, vgl. Sandl, Tech­ni­sche Nor­men und Stan­dards – unter­schätz­te Grö­ßen im geo­po­li­ti­schen Macht­wett­be­werb, in: Zeit­schrift für Außen- und Sicher­heits­po­li­tik, 2021, S. 265 ff.

97 Bspw. Gewerk­schaf­ten als kon­struk­ti­ve Veto­spie­ler, vgl. Urban, Gewerk­schaf­ten als kon­struk­ti­ve Veto­spie­ler. Kon­tex­te und Prob- leme gewerk­schaft­li­cher Stra­te­gie­bil­dung, in: For­schungs­jour­nal NSB, 2005, S. 44 ff.

7. Wan­del der Rechtskultur

Kein Zwei­fel: Wir wer­den inner­halb der nächs­ten 12 Jah- re einen Wan­del des Rechts – von der Art, wie es ent- steht, über die Mecha­nis­men sei­ner Ver­wirk­li­chung bis zu der Rol­le der (mensch­li­chen) Akteu­re in der Rechts- ord­nung – erle­ben, wie es dies über all die Jah­re, Jahr- zehn­te, Jahr­hun­der­te nicht gab, in denen Rechts­staat- lich­keit zum prä­gen­den Ele­ment moder­ner Gesell­schaf- ten avan­cier­te. Die rasan­te tech­no­lo­gi­sche Ent­wick­lung schafft neue Zugän­ge zum Recht durch Digi­ta­li­sie­rung, Kon­flikt­ver­mei­dung durch Auto­ma­ti­sie­rung, pro­duk­ti­ve Mensch-Maschi­ne-Inter­ak­tio­nen und Ver­fah­rens­ef­fi­zi- enz durch smar­te Pro­zes­se auf bes­se­rer Daten­ba­sis. So forscht man bereits an algo­rith­men­ba­sier­ter Gesetz­ge- bung, die künf­tig Grund­la­ge des auto­ma­ti­sier­ten Geset- zes­voll­zugs, aber auch der digi­ta­len Ver­mitt­lung von Nor­m­in­hal­ten an die (rechts­un­kun­di­gen) Norm­adres­sa- ten sein wird.

Es leuch­tet ein, dass dies alles schon auf­grund sei­ner Kom­ple­xi­tät und Dyna­mik nicht in die Denk­wei­se über- kom­me­ner Rechts­pra­xis und Juris­ten­aus­bil­dung passt. Um so mehr (und schnel­ler) muss man umden­ken und die Rechts­ord­nung – behut­sam anpas­send – umge­s­tal- ten, solan­ge dies noch in beherrsch­ba­ren Schrit­ten erfol- gen kann. Das alles gelingt unter­des­sen nur, wenn man das über­kom­me­ne Recht nicht gegen inno­va­ti­ve Rechts- ideen aus­spielt, ganz nach dem Mot­to: Die hier dar­ge- stell­ten juris­ti­schen Inno­va­tio­nen sei­en letzt­lich rechts- wid­rig und schon des­halb zu unter­bin­den. Um genau dies zu ver­hin­dern, for­dert Dirk Heck­mann einen Rechts- kulturwandel100 hin zu einer kon­struk­tiv-abwä­gen­den Hal­tung gegen­über dem Neu­en, dem Unbe­kann­ten: „Kon­struk­tiv in dem Sin­ne, dass man auch als Jurist nicht ein­fach Beden­ken in den Raum stellt, son­dern so- fort Lösun­gen anbie­tet oder zumin­dest anstrebt – und dabei zugleich den Wert der digi­ta­len Inno­va­ti­on aner- kennt. Sowie abwä­gend in dem Sin­ne, dass man bei dem (im Übri­gen not­wen­di­gen) Rechts­gü­ter­schutz nicht nur das eine Rechts­gut benennt und ver­tei­digt, um das man

98 So zutref­fend in Anleh­nung an das Böcken­för­de-Dik­tum Pasch­ke, Digi­ta­le Gerichts­öf­fent­lich­keit und Deter­mi­nie­rungs­ge­samt­rech- nung, in: MMR 2019, 563: „Nur ein tota­li­tä­rer Staat ver­hin­dert flä­chen­de­ckend den Rechts­bruch, erzwingt die Ein­hal­tung des­sen, was er als Recht setzt, durch Total­über­wa­chung oder all­ge­gen­wär- tigen tech­ni­schen Zwang.“

99 BR-Drs. 165/1/18, S. 10 f.
100 Sie­he den IFO-Schnell­dienst 08/2023 vom 16. August 2023, S. 22 ff. 101 Hier­zu der Werk­statt­be­richt von Rach­ut, ODW 2023, 89 ff.

Rach­ut · Recht ohne Wirk­lich­keit? 2 0 7

208 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208

sich sorgt, son­dern zugleich kol­li­die­ren­de Rechts­gü­ter in den Blick nimmt, deren Wert und Wich­tig­keit eben­so auf die Waag­scha­le gehören.“

Das alles lässt sich aber nur bewäl­ti­gen, wenn man stär­ker als je zuvor wis­sen­schaft­li­che Exper­ti­se in all die- se Pro­zes­se ein­be­zieht, und zwar von der Kon­zep­ti­ons- pha­se über Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­ten in der Pro­jekt- ent­wick­lung bis zur fach­li­chen Unter­stüt­zung vor, wäh- rend und nach einer Eva­lua­ti­on. Eine sol­che Rol­le nimmt etwa das TUM Cen­ter for Digi­tal Public Ser­vices (www. tum-cdps.de) seit sei­ner Ent­ste­hung im Juni 2020 mit Erfolg ein.101

Die Neu­ge­stal­tung einer (digi­ta­li­sier­ten) Rechts­ord- nung kann nicht „von innen her­aus“ gelin­gen – viel­mehr soll­te hier die (Rechts-)Wissenschaft sol­che Trans­for­ma- tions­pro­zes­se beglei­ten: sie hat die not­wen­di­ge Exper­ti- se, Glaub­haf­tig­keit und Gestal­tungs­kraft. Rechts­wis­sen- schaft, zumal in ihrer inter­dis­zi­pli­nä­ren Ver­flech­tung, kann mehr als nur das Recht erklä­ren und Debat­ten lei- ten. Sie kann und soll­te auch Gesetz­ge­bung, Ver­wal­tung und Recht­spre­chung dar­in unter­stüt­zen, sich unter den Bedin­gun­gen fort­wäh­ren­der Digi­ta­li­sie­rung, Auto­ma­ti- sie­rung und Ver­net­zung zu erneuern.

IV. Fazit: Das Recht zwi­schen Kon­ti­nui­tät und Adap- tion

Die vor­ste­hen­den Maß­nah­men zei­gen ers­te Ansatz- punk­te auf, um den Rechts­staat zukunfts­fä­hig zu machen. Unbe­nom­men wird das Recht stets auf Verän- derun­gen reagie­ren müs­sen. Denn Auf­ga­be des Rechts ist es nicht, zu regu­lie­ren, was in fer­ner Zukunft sein könn­te, son­dern all­ge­mein gül­ti­ge abs­trakt-gene­rel­le Rege­lun­gen für das Heu­te auf­zu­stel­len und über deren Anwen­dung zu wachen. Die­se Nor­men anzu­pas­sen kann aus ver­schie­de­nen Grün­den not­wen­dig sein. Inno- vatio­nen kön­nen ein Trei­ber die­ser Ent­wick­lung sein, nicht jeder Fort­schritt erfor­dert jedoch eine Anpas­sung des Rechts. Die bekann­ten Her­aus­for­de­run­gen in die-

sem Anpas­sungs­pro­zess erhal­ten durch die aktu­ell bes­te- hen­den, zu erwar­ten­den und noch nicht abseh­ba­ren Ent­wick­lun­gen eine neue Dimen­si­on. Die digi­ta­le Trans- for­ma­ti­on und der ste­ti­ge tech­no­lo­gi­sche Fort­schritt sind nur ein Bei­spiel für Her­aus­for­de­run­gen in einer Grö­ße, dass, soll­ten sie igno­riert wer­den, sie zu einem Steue­rungs­ver­lust des Rechts füh­ren könnten.

Die Fra­gen, mit denen sich der Rechts­staat kon­fron- tiert sieht, haben sich durch das Digi­ta­le bereits ver­viel- facht und wer­den dies künf­tig in immer schnel­le­rer Ab- fol­ge tun. Damit der Rechts­staat wei­ter­hin hand­lungs­fä- hig blei­ben kann und nicht exter­nen Zwän­gen unter- worfen wird, sind bereits heu­te weit­sich­ti­ge Anpas­sun­gen erfor­der­lich. Bei dem Ruf nach Adap­ti­on und Inno­va­ti- on, darf gleich­zei­tig nicht ver­ges­sen wer­den, dass die Kon­ti­nui­tät des Rechts ein zen­tra­ler Erfolgs­fak­tor unse- res Rechts­staats ist. Eine gewis­se Zer­ris­sen­heit des Rechts zwi­schen Kon­ti­nui­tät und Adap­ti­on ist daher un- aus­weich­lich. Statt zu ver­su­chen die­sen Kon­flikt auf­zu- lösen oder zu umge­hen, kann er statt­des­sen genutzt wer- den, um das Gleich­ge­wicht zwi­schen die­sen bei­den Po- len her­zu­stel­len und zu bewah­ren. Dies mag sich als be- son­ders her­aus­for­dernd und in der Pra­xis durch­aus auf­rei­bend gestal­ten, kann letzt­lich jedoch die Zukunfts- fähig­keit des frei­heit­lich-demo­kra­ti­schen Rechts­staa­tes gewähr­leis­ten. Alle­mal lohnt es sich, über die Rol­le des Rechts in der digi­ta­len Trans­for­ma­ti­on inno­va­tiv, krea­tiv und auch dis­rup­tiv nach­zu­den­ken – und dies jetzt, nicht erst in 12 Jahren.

Sarah Rach­ut ist wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­te­rin am Lehr­stuhl für Recht und Sicher­heit der Digi­ta­li­sie­rung (Prof. Dr. Dirk Heck­mann) an der Tech­ni­schen Uni­ver­si- tät Mün­chen und Geschäfts­füh­re­rin der For­schungs- stel­le TUM Cen­ter for Digi­tal Public Ser­vices. Sie forscht und lehrt zu ver­fas­sungs­recht­li­chen Fra­gen der Digi­ta­li­sie­rung, schwer­punkt­mä­ßig in den Berei­chen E‑Government, E‑Health und E‑Education.

Über­sicht*

I. Ein­lei­tung

II. Grund­recht­li­che Einordnung

III. Über­blick über die gel­ten­den Rechts­grund­la­gen 1. Hoch­schul­ge­set­ze der Län­der
2. Pro­mo­ti­ons­ord­nun­gen
3. Zwi­schen­be­trach­tung

IV. Neue­re Ent­wick­lun­gen in der Recht­spre­chung
1. Täu­schung und „gel­tungs­er­hal­ten­de Reduk­ti­on“
2. Sank­tio­nie­rung und Gren­zen der Satzungsautonomie

V. Fazit und rechts­po­li­ti­scher Ausblick

I. Ein­lei­tung

Seit im Febru­ar 2011 ers­te Mel­dun­gen über Unre­gel­mä- ßig­kei­ten in der Dok­tor­ar­beit des dama­li­gen Ver­tei­di- gungs­mi­nis­ters Karl-Theo­dor zu Gut­ten­berg die Runde

* Der Bei­trag ist in Dank­bar­keit und Ver­eh­rung mei­nem aka­de- mischen Leh­rer Tho­mas Wür­ten­ber­ger zu sei­nem 80. Geburts­tag gewid­met. Dem gesam­ten Team des Lehr­stuhls für Öffent­li­ches Recht, Dt., Europ. und Intern. Steu­er­recht, Uni­ver­si­tät Würz­burg dan­ke ich ganz herz­lich für die wert­vol­le Unter­stüt­zung bei der Abfas­sung des Bei­trags, ins­be­son­de­re bei der umfang­rei­chen Sich­tung der Rechtsquellen.

  1. 1  Ange­sto­ßen wor­den ist die Affä­re bekannt­lich durch Fischer- Lesca­no, Rezen­si­on zu Gut­ten­berg, Ver­fas­sung und Ver­fas­sungs- ver­trag, KJ 2011, 112, auf­ge­grif­fen in der SZ vom 16.02.2011 Preuß/ Schultz, Gut­ten­berg soll bei Dok­tor­ar­beit abge­schrie­ben haben, Süd­deut­sche Zei­tung 16.2.2011 (https://www.sueddeutsche.de/ poli­ti­k/­pla­gi­ats­vor­wurf-gegen-ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter-gut­ten­berg- soll-bei-doktorarbeit-abgeschrieben-haben‑1.1060774–0#seite‑2, zuletzt abge­ru­fen am 17.07.2023).
  2. 2  Tages­schau Mel­dung v. 23.02.2011 (Uni Bay­reuth ent­zieht Gut­ten- berg den Dok­tor www.tagesschau.de/inland/guttenberg-ts-198. html, zuletzt abge­ru­fen am 17.07.2023); Wiki­pe­dia-Ein­trag zur Pla­gi­ats­af­fä­re Gut­ten­berg (wikipedia.org, zuletzt abge­ru­fen am 17.07.2023); maß­geb­li­chen Anteil hat­te Gut­ten­Plag Wiki, ein offe­nes Wiki, des­sen Mit­ar­bei­ter pla­gi­ier­te Stel­len der Dis­ser­ta­ti­on doku­men­tier­ten (https://guttenplag.fandom.com/de/wiki/Gutten Plag_Wiki, zuletzt abge­ru­fen am 17.07.2023).
  3. 3  Scha­van ver­liert Dok­tor­ti­tel — und kün­digt Kla­ge an, Süd­deut­sche Zei­tung 5.2.2013; Annet­te Scha­van bei
    Wiki­pe­dia (https://de.wikipedia.org/wiki/Annette_ Schavan#Plagiatsvorw%C3%BCrfe,_Aberkennung_des_Doktor grads_und_R%C3%BCcktritt, zuletzt abge­ru­fen am17.07.2023); Ent­zug gericht­lich bestä­tigt durch VG Düs­sel­dorf,
    Urt. v .20.03.2014, 15 K 2271/13, ZUM 2014, 602; sie­he auch https://

machten,1 ver­geht prak­tisch kein Monat, in dem das The­ma Wis­sen­schafts­pla­gia­te nicht die Öffent­lich­keit bewegt. Die Lis­te der­je­ni­gen, die sich gegen Pla­gi­ats­vor- wür­fe ver­tei­di­gen muss­ten, ist lang und pro­mi­nent. Auf Ebe­ne der Bun­des­mi­nis­ter hat dies nicht nur bei Karl- Theo­dor zu Guttenberg,2 son­dern auch bei Annet­te Schavan3 sowie Fran­zis­ka Giffey4 zum Titel­ent­zug geführt. Nicht bestä­tigt haben sich oder jeden­falls fol- gen­los geblie­ben sind hin­ge­gen die Vor­wür­fe, die gegen die frü­he­re Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­rin und heu­ti­ge Prä­si- den­tin der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on Ursu­la von der Leyen5 sowie den frü­he­ren Außen­mi­nis­ter und heu­ti­gen Bun­des­prä­si­den­ten Frank-Wal­ter Steinmeier6 erho­ben wor­den sind.

Die Grün­de, war­um das The­ma Wis­sen­schafts­pla­gia- te an Rele­vanz gewon­nen hat, sind viel­fäl­tig. Gele­gen­heit macht bekannt­lich Die­be. Mit dem Inter­net ist eine na- hezu unbe­grenz­te Wis­sens­res­sour­ce nur einen Maus- klick entfernt.7 Auch Bücher und Zeitschriftenartikel,

schavanplag.wordpress.com, zuletzt abge­ru­fen am 31.08.2023.
4 Mel­dung der FU Ber­lin vom 10.06.2021 (Freie Uni­ver­si­tät Ber­lin ent­zieht Fran­zis­ka Gif­fey den Dok­tor­grad – https://www.fu-

berlin.de/presse/informationen/fup/2021/fup_21_109-ergebnis- pruefverfahren-franzsiska-giffey/index.html, zuletzt abge­ru­fen am 17.07.2023); Wiki­pe­dia Ein­trag zu Fran­zis­ka Gif­fey u.a. zur Pla­gi­ats­af­fä­re (wikipedia.org, zuletzt abge­ru­fen am 17.07.2023); die Dis­ser­ta­ti­on wur­de von Vro­ni­Plag Wiki über­prüft, sie­he dazu https://vroniplag.fandom.com/de/wiki/Dcl, zuletzt abge­ru­fen am 31.08.2023.

Greiner/Gebauer/Töpper, Dar­um darf von der Ley­en ihren Dok­tor behal­ten, Spie­gel 9.3.2016; Ursu­la von der Ley­en bei Wiki­pe­dia (https://de.wikipedia.org/wiki/Ursula_von_der_Leyen#Plagiate_ in_der_Dissertation, zuletzt abge­ru­fen am 17.07.2023); sie­he auch Ursu­la von der Ley­en bei Vro­ni­Plag Wiki (https://vroniplag. fandom.com/de/wiki/Ugv, zuletzt abge­ru­fen am 17.07.2023).

6 Pla­gi­ats­ver­dacht gegen SPD-Poli­ti­ker Stein­mei­er – Vor­wür­fe aus umstrit­te­ner Quel­le, Süd­deut­sche Zei­tung vom. 29.9.2013 (https:// www.sueddeutsche.de/bildung/plagiatsverdacht-gegen-spd- politiker-steinmeier-vorwuerfe-aus-umstrittener-quelle‑1.1783302, zuletzt abge­ru­fen am 17.07.2023); auch the­ma­ti­siert im Wiki­pe­dia- Ein­trag zu Frank-Wal­ter Stein­mei­er (https://de.wikipedia.org/ wiki/Frank-Wal­ter_Stein­mei­er, zuletzt abge­ru­fen am 17.07.2023); Über­prü­fung der Dis­ser­ta­ti­on auf Vro­ni­Plag Wiki, sie­he dazu https://vroniplag.fandom.com/de/wiki/Fws, zuletzt abge­ru­fen am 31.08.2023.

7 Trotz Pla­gi­ats­vor­wür­fen lesens­wert zu den Mög­lich­kei­ten der juris­ti­schen Recher­che im Inter­net (Holznagel/Schumacher/Ricke, Juris­ti­sche Arbeits­tech­ni­ken und Metho­den, 1. Aufl. 2012, S. 35 ff.).

Ralf P. Schenke*

Pro­mo­ti­on und Wis­sen­schafts­pla­gia­te: Eine Be- stands­auf­nah­me im Rege­lungs­ver­bund zwi­schen Lan­des­ge­setz­ge­bung, Hoch­schu­len und Richterrecht

Ord­nung der Wis­sen­schaft 2023, ISSN 2197–9197

210 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 209–220

die nicht ori­gi­när digi­tal ange­bo­ten wer­den, kön­nen ein- gescannt, sprach­lich ver­schlei­ert und dann als eige­ner Text aus­ge­ge­ben wer­den. Wich­ti­ger als die Mühe­lo­sig- keit des Pla­gi­ie­rens durch „Copy and Pas­te“ ist aber ein ande­res Moment. Der digi­ta­le Fort­schritt hat gegen­läu­fig auch ver­bes­ser­te Mög­lich­kei­ten geschaf­fen, Pla­gia­to­ren auf die Schli­che zu kom­men. Um einen ers­ten Pla­gi­ats- ver­dacht zu begrün­den, muss kein gro­ßer tech­ni­scher Auf­wand betrie­ben wer­den. Sofern aus frei zugäng­li­chen Inter­net­quel­len pla­gi­iert wur­de, kann sich bereits die schlich­te Ein­ga­be ein­zel­ner Pas­sa­gen der Arbeit in eine Such­ma­schi­ne als ziel­füh­rend erwei­sen. Auf­wen­di­ger ist eine sys­te­ma­ti­sche Pla­gi­ats­su­che, wenn die Refe­renz­tex- te hin­ter Bezahl­schran­ken ver­bor­gen oder zunächst nicht digi­tal ver­füg­bar sind. Hier führt kein Weg dar­an vor­bei, die Ver­gleichs­tex­te zunächst in digi­ta­ler Form zu erfas­sen. Schon wer über begrenz­te Pro­gram­mier­kennt- nis­se ver­fügt, kann sich dann aber einen Pla­gi­ats­de­tek­tor auf einem Stan­dard­rech­ner instal­lie­ren, der die Ein­spei- sung zuvor ein­ge­scann­ter Refe­renz­tex­te ermöglicht.8 Die noch bes­se­re Alter­na­ti­ve sind pro­fes­sio­nel­le Pro­gram­me zur Pla­gi­ats­su­che, wie bei­spiels­wie­se Ithenicate.9

Zusätz­lich befeu­ert wor­den ist die Auf­de­ckung von Pla­gia­ten durch die kol­la­bo­ra­ti­ve Pla­gi­ats­su­che. Gold- stan­dard der kol­la­bo­ra­ti­ven Pla­gi­ats­su­che ist die Inter- net­platt­form vroniplag-wiki.10 Die Sei­te ging Ende März 2011 online. Namens­ge­be­rin war Vero­ni­ca Saß, die Toch- ter des frü­he­ren baye­ri­schen Minis­ter­prä­si­den­ten Ed- mund Stoi­ber, deren Dok­tor­ar­beit zunächst im Rah­men des Wiki Gut­ten­plag dis­ku­tiert wur­de. Auf vro­ni­plag-wi- ki sind Stand Juli 2023 217 Dis­ser­ta­tio­nen gelis­tet, die sich einer kol­la­bo­ra­ti­ven Pla­gi­ats­su­che unter­zie­hen muss­ten. Nach eige­nen Anga­ben sind die Mit­wir­ken­den rein ehren­amt­lich tätig. Nach den Regeln der Com­mu­ni- ty setzt eine Auf­nah­me in die öffent­li­che Lis­te pla­gi­ats- ver­däch­ti­ger Arbei­ten einen Anfangs­ver­dacht vor­aus, der eine gewis­se Erheb­lich­keits­schwel­le über­schrit­ten haben muss.11 Die Qua­li­tät der dort geleis­te­ten Arbeit darf bei aller Kri­tik, die an der Ein­rich­tung geübt wird,

8 https://github.com/topics/plagiarism-checker?l=python (zuletzt abge­ru­fen am 11.09.2023).

9 https://www.ithenticate.com/ (zuletzt abge­ru­fen am 11.09.2023).

  1. 10  Abruf­bar unter https://vroniplag.fandom.com/de/wiki/Home.Nicht ver­wech­selt wer­den darf vro­ni­plag-wiki mit vroniplag.de. Hier­bei han­delt es sich um ein kom­mer­zi­el­les Ange­bot zur Pla­gi- ats­su­che, das sei­nen Auf­trag­ge­bern strik­te Anony­mi­tät zusi­chert und für den „Ein­stieg in die Pla­gi­ats­su­che” offen­sicht­lich noch nicht ein­mal einen Anfangs­ver­dacht vor­aus­setzt (https://www.vroniplag.de/plagiatssuche/articles/plagiatsuche-der- einstieg.html, zuletzt abge­ru­fen am 31.08.2023).
  2. 11  https://vroniplag.fandom.com/de/wiki/VroniPlag_Wiki:FAQ — Wie wird die Pla­gi­ats­do­ku­men­ta­ti­on finan­ziert? (zuletzt abge­ru­fen am 19.7.2023).

kei­nes­falls unter­schätzt wer­den. Dies unter­streicht schon die Anzahl der Ent­zie­hun­gen, die auf der Sei­te von vro- niplag-wiki doku­men­tiert und in den aller­meis­ten Fäl- len wohl ent­schei­dend durch den auf der Sei­te geäu­ßer- ten Pla­gi­ats­ver­dacht ange­sto­ßen wor­den sind.

Wenn Titel ent­zo­gen wur­den, hat­te dies in nicht we- nigen Fäl­len ein juris­ti­sches Nach­spiel. Die Ver­su­che, sich dage­gen ver­wal­tungs­ge­richt­lich zur Wehr zu set­zen, sind zahl­reich. Ins­ge­samt waren sie aber nur von sehr beschei­de­nem Erfolg gekrönt.12 Bei den Ver­wal­tungs­ge- rich­ten kön­nen Pla­gia­to­ren offen­sicht­lich auf wenig Sym­pa­thie hof­fen. Soweit ersicht­lich, sind bis­lang nahe- zu sämt­li­che Kla­gen erfolg­los abge­wie­sen worden.13 Dies grün­det in wesent­li­chen Tei­len dar­auf, dass der Stan­dard­ein­wand, die Arbeit wei­se trotz der Pla­gia­te noch hin­rei­chend viel Sub­stanz auf, regel­mä­ßig zurück- gewie­sen wurde.14

Die rela­ti­ve Geräusch­lo­sig­keit der admi­nis­tra­ti­ven und juris­ti­schen Ver­ar­bei­tung des Phä­no­mens erweckt auf den ers­ten Blick den Ein­druck, die rechts­wis­sen- schaft­li­chen Fra­gen der Ent­zie­hung des Dok­tor­gra­des sei­en abschlie­ßend und zufrie­den­stel­lend beant­wor­tet. Anlass, die­sen Befund in Zwei­fel zu zie­hen, bie­ten aber sowohl jün­ge­re Ent­wick­lun­gen im Lan­des­hoch­schul- recht, den Pro­mo­ti­ons­ord­nun­gen der Fakul­tä­ten, aber auch in der Recht­spre­chung, die im Fol­gen­den nach­ge- zeich­net wer­den sollen.

Um die Ana­ly­se vor­zu­be­rei­ten, soll die The­ma­tik in einem ers­ten Schritt zunächst grund­recht­lich ein­ge­ord- net wer­den (dazu II.). Dies ist not­wen­dig, weil die grund- recht­li­che Dimen­si­on nicht nur im Rah­men von Ermes- sens­ent­schei­dun­gen über die Aberken­nung mit­ge­dacht wer­den muss, son­dern bereits die Anfor­de­run­gen an die Rechts­grund­la­gen für den Titel­ent­zug bestimmt. Im An- schluss ist ein Über­blick über die gel­ten­den Rege­lun­gen in den Lan­des­hoch­schul­ge­set­zen und den Pro­mo­ti­ons- ord­nun­gen zu geben (dazu III.). Mit Recht viel Beach- tung haben eine bereits 2017 ergan­ge­ne Ent­schei­dung des Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richts zum Täuschungstatbe-

12 Espo­si­toAnna/Schäfer, Ans­gar, Über­blick über die Recht­spre­chung zu Pla­gia­ten in Hoch­schu­le und Wis­sen­schaft, 07.02.2017 (aus- gewer­tet wur­de eine Aus­wahl von rund 80 beson­ders rele­van­ten ein­schlä­gi­gen Gerichts­ent­schei­dun­gen in Deutschland).

13 Gär­ditz, Der Ent­zug von Dok­tor­grad oder Habi­li­ta­ti­on wegen wis­sen­schaft­li­chen Fehl­ver­hal­tens, WissR 2021, 150 (167) unter Ver­weis auf VG Köln, Urt. v. 12.01.2017, 6 K 7332/15 und einen wei- teren Fall, in dem ver­wal­tungs­ge­richt­li­che Ent­schei­dun­gen nicht ver­öf­fent­licht wur­den. In bei­den Fäl­len grün­de­te der Erfolg der Anfech­tungs­kla­gen auf for­mel­len Män­geln, weil die ent­schei­den- den Hoch­schul­gre­mi­en falsch besetzt waren.

14 VGH BW, Urt. v. 18.11.1980, IX 1302/78, ESVGH 31, 54 (57); VGH BW, Urt. v. 19.4.2000, 9 S 2435/99, juris Rn. 25; VG Düs­sel­dorf, Urt. v. 20.03.2014, 15 K 2271/13, ZUM 2014, 602, juris Rn. 149.

stand15 sowie ein 2020 ergan­ge­ner Nicht­an­nah­me­be- schluss des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts zum Rege­lungs- ver­bund zwi­schen Lan­des­ge­setz­ge­bung und Sat­zung­s­au- tono­mie der Hochschulen16 erfah­ren. Nach der Ana­ly­se der Ent­schei­dungs­grün­de und den sich aus ihnen erge- ben­den Fol­ge­run­gen (dazu IV.) schließt die Unter­su- chung mit einem rechts­po­li­ti­schen Aus­blick (dazu VI.).

II. Grund­recht­li­che Einordnung

Aus grund­recht­li­cher Per­spek­ti­ve bewegt sich der Ent- zug eines Dok­tor­gra­des in einem kom­ple­xen Span- nungsfeld.17 Vor­sätz­li­ches eben­so wie grob fahr­läs­si­ges wis­sen­schaft­li­ches Fehl­ver­hal­ten steht außer­halb des Schutz­be­reichs der Wissenschaftsfreiheit.18 Solan­ge ein ent­spre­chen­der Nach­weis nicht erbracht ist, müs­sen sich aber die von einem Pla­gi­ats­ver­dacht Betrof­fe­nen zunächst auf die Wis­sen­schafts­frei­heit beru­fen kön- nen.19 Unab­hän­gig vom Aus­gang des Ver­fah­rens ist zuguns­ten der Betrof­fe­nen die Berufs­frei­heit (Art. 12 Abs. 1 GG) zu berück­sich­ti­gen. Da im Fall der Aberken­nung regel­mä­ßig mit Nach­tei­len im beruf­li­chen Wer­de­gang zu rech­nen ist, wird dies zumin­dest ein Ein- griff in die Frei­heit der Berufs­aus­übung sein (Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG).20 Sofern die Pro­mo­ti­on, wie ins­be­son­de­re im Bereich der Hoch­schul­leh­re, Vor­aus­set­zung für die Aus- übung eines Berufs ist, berührt ein Ent­zug dar­über hin- aus sogar die Frei­heit der Berufs­wahl (Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG).21 Vor dem mit der Aberken­nung ver­bun­de­nen sozia­len und gesell­schaft­li­chen Anse­hens- ver­lust schützt das Per­sön­lich­keits­recht der Betrof­fe­nen (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG).

Gegen­läu­fi­ger grund­recht­lich geschütz­ter Belang ist die den Hoch­schu­len und ihren Fakul­tä­ten anver­trau­te Pfle­ge der Wis­sen­schaft (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG).22 Dass ein sys­te­ma­ti­sches Pla­gi­ie­ren der Wis­sen­schaft schwe­ren Scha­den zufügt, ver­steht sich von selbst. Pla­gia­to­ren bau­en wis­sen­schaft­li­che Repu­ta­ti­on auf Kos­ten Drit­ter auf, ent­hal­ten den wah­ren Autoren die ver­dien­te wis­sen- schaft­li­che Aner­ken­nung vor und unter­gra­ben so die In- tegri­tät und das Ver­trau­en in die Wis­sen­schaft insge-

15 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerw­GE 159, 148.
16 BVerfG, Nicht­an­nah­me­be­schluss v. 25.05.2020, 1 BvR 2103/17,

WissR 2020, 385.
17 Vgl. etwa Zent­hö­fer, Pla­gia­te in der Wis­sen­schaft, 2022, S. 108 ff. 18 Vgl. Feh­ling, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 5 Abs. 3 (Wis­sen-

schafts­frei­heit) Rn. 167.
19 Schul­ze-Fie­litz, Reak­ti­ons­mög­lich­kei­ten des Rechts auf wissen-

schaft­li­ches Fehl­ver­hal­ten, WissR 2012, 1 (51); Gär­ditz (Fußn. 13)

(154).
20 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerw­GE 159, 148 Rn. 16.

samt. Zu Recht geht das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt des- halb davon aus, dass die Uni­ver­si­tä­ten nicht nur berech- tigt, son­dern sogar ver­pflich­tet sind, wis­sen­schaft­li­ches Fehl­ver­hal­ten zu sanktionieren.23

Auch im Hoch­schul­be­reich wirkt sich die Grund- rechts­re­le­vanz einer Maß­nah­me auf das “Ob” und das “Wie” einer gege­be­nen­falls not­wen­di­gen Ermäch­ti- gungs­grund­la­ge aus. Aller­dings muss die tra­dier­te We- sent­lich­keits­leh­re, die den Vor­be­halt des Geset­zes kon- kre­ti­siert, hier modi­fi­ziert wer­den. Übli­cher­wei­se stei- gen die Anfor­de­run­gen an die Rege­lungs­dich­te, je inten- siver staat­li­ches Han­deln Grund­rech­te berührt.24 Ange­sichts der oben skiz­zier­ten Grund­rechts­be­zü­ge wür­de dies auf den ers­ten Blick für eine hohe Rege­lungs- dich­te mit­tels par­la­ments­ge­setz­li­cher Ermäch­ti­gungs- grund­la­ge spre­chen. Ein der­ar­ti­ger Schluss ist aber zu- min­dest vor­ei­lig und ver­kennt die insti­tu­tio­nel­le Bedeu­tung der Wis­sen­schafts­frei­heit und die Rol­le der Hoch­schu­len. Die­se ver­fü­gen als Selbst­ver­wal­tungs­kör- per­schaf­ten über Satzungsautonomie.25 Durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG ist ihnen das Recht ver­lie­hen, ihren Wis­sen­schafts­be­trieb, d. h. Ange­le­gen­hei­ten von For- schung und Leh­re, eigen­ver­ant­wort­lich zu regeln. Die- sem geschütz­ten Bereich ist nach ein­hel­lig ver­tre­te­ner Auf­fas­sung auch das Pro­mo­ti­ons­we­sen zuzu­ord­nen, das inner­halb der Hoch­schu­le den Fakul­tä­ten anver­traut ist.

Was dies spe­zi­ell für den Rege­lungs­ver­bund von Lan- des­ge­setz­ge­bung und Pro­mo­ti­ons­ord­nun­gen im Fall der Aberken­nung aka­de­mi­scher Gra­de bedeu­tet, war Ge- gen­stand jün­ge­rer Ent­schei­dun­gen sowohl des Bun­des- ver­wal­tungs­ge­richts als auch des Bun­des­ver­fas­sungs­ge- richts. Hier­auf wird noch im Ein­zel­nen im Teil IV 2 nä- her ein­zu­ge­hen sein.

III. Über­blick über die gel­ten­den Rechtsgrundlagen

Die Rechts­grund­la­gen für den Ent­zug eines Dok­tor­gra- des fin­den sich im Hoch­schul­recht der Län­der sowie in den Pro­mo­ti­ons­ord­nun­gen der Fakul­tä­ten. Die fol­gen­de Ana­ly­se muss sich auf anfäng­li­che Män­gel beschränken.

Schen­ke · Pro­mo­ti­on und Wis­sen­schafts­pla­gia­te 2 1 1

21 22 23

24 25

BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerw­GE 159, 148 Rn. 16. BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerw­GE 159, 148 Rn. 23. BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerw­GE 159, 148 Rn. 40;
s. auch Hebe­ler, Ent­zie­hung des Dok­tor­gra­des wegen Pla­gi­ats, JA 2018, 399 (400).

Zur Wesent­lich­keits­leh­re nur Zippelius/Würtenberger, Deut­sches Staats­recht, 33. Aufl. 2018, § 12 Rn. 43 ff.
All­ge­mein zu den Gren­zen der Sat­zungs­au­to­no­mie Zip­pe­li­us/­Wür- ten­ber­ger (Fußn. 24), § 45 Rn. 135 ff.

212 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 209–220

1. Hoch­schul­ge­set­ze der Länder

Auf ein­fach­ge­setz­li­cher Ebe­ne war die Mate­rie lan­ge Zeit bun­des­ein­heit­lich durch § 4 Abs. 1 Buchst. a GFaG (Gesetz über die Füh­rung aka­de­mi­scher Grade)26 gere- gelt, auf den auch viel­fach in frü­he­ren Pro­mo­ti­ons­ord- nun­gen ver­wie­sen wur­de. Nach die­ser vor­kon­sti­tu­tio- nel­len Norm konn­te der von einer deut­schen staat­li­chen Hoch­schu­le ver­lie­he­ne aka­de­mi­sche Grad wie­der ent­zo- gen wer­den, „wenn sich nach­träg­lich her­aus­stellt, dass er durch Täu­schung erwor­ben wor­den ist, oder wenn wesent­li­che Vor­aus­set­zung für die Ver­lei­hung irri­ger- wei­se als gege­ben ange­nom­men wor­den sind.“ Wei­te­re Ent­zie­hungs­tat­be­stän­de waren die „Unwür­dig­keit“ ent- weder bereits bei Ver­lei­hung des aka­de­mi­schen Gra­des (§ 4 Abs. 1 Buchst. b GFaG) oder durch spä­te­res Verhal- ten nach der Ver­lei­hung (§ 4 Abs. 1 Buchst. c GFaG). Das GFaG ist über Art. 123 Abs. 1 GG in die bun­des­deut­sche Rechts­ord­nung über­führt wor­den. Da sein Rege­lungs­ge- gen­stand zum maß­geb­li­chen Zeit­punkt des Inkraftt­re- tens des Grund­ge­set­zes kom­pe­tenz­recht­lich der Gesetz- gebungs­ho­heit der Län­der zuzu­ord­nen war, galt das GFaG als Lan­des­recht fort.27 Ein­zi­ge Aus­nah­me war die auf Ebe­ne des Bun­des­rechts ein­zu­ord­nen­de Straf­rechts- norm des § 5 GFaG, die erst 2010 auf­ge­ho­ben wor­den ist. Hin­sicht­lich des Titel­ent­zugs stand es den Län­dern hin- gegen von Anfang an frei, das GFaG durch eigen­stän­di- ge Rege­lun­gen zu ersetzen.

Von die­ser Mög­lich­keit ist mitt­ler­wei­le durch­ge­hend Gebrauch gemacht worden.28 Gegen­wär­tig kön­nen auf Ebe­ne des förm­li­chen Lan­des­rechts drei Rege­lungs­kon- zep­tio­nen unter­schie­den wer­den, die sich nach dem Grad der Bin­dung der Sat­zungs­au­to­no­mie durch den Lan­des­ge­setz­ge­ber aus­dif­fe­ren­zie­ren. Sämt­li­chen Lan- des­hoch­schul­ge­set­zen ist gemein, dass sie die Uni­ver­si- täten zum Erlass von Pro­mo­ti­ons­ord­nun­gen ermäch­ti- gen. Das ers­te Rege­lungs­mo­dell, wie es in Brandenburg,

26 G. v. 07.06.1939 RGBl. I S. 985; auf­ge­ho­ben durch Arti­kel 9 Abs. 2 G. v. 23.11.2007 BGBl. I S. 2614.

27 BVerwG, Urt. v. 31.07.2013, 6 C 9.12, BVerw­GE 147, 292. Abwei- chen­des gilt allein für die Straf­rechts­norm des § 5 GFaG. In die­ser war das Ange­bot, gegen Ver­gü­tung den Erwerb eines aus­län­di- schen aka­de­mi­schen Gra­des zu ver­mit­teln, mit Freiheitsstrafe

bis zu einem Jahr oder mit Geld­stra­fe bewährt. Die­se Norm galt im Rang von Bun­des­recht und ist erst durch Art. 9 Abs. 2 des Zwei­ten Geset­zes über die Berei­ni­gung von Bun­des­recht im Zustän­dig­keits­be­reich des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums der Jus­tiz (G. v. 23.11.2007 BGBl. I S. 261) auf­ge­ho­ben worden.

28 Die ein­schlä­gi­gen Lan­des­hoch­schul­ge­set­ze wer­den wie folgt zitiert: Baden-Würt­tem­berg: BW LHG; Bay­ern: Bay­HIG; Ber­lin: BerlHG; Bran­den­burg: BbgHG; Bre­men: BremHG; Ham­burg: HmbHG; Hes­sen: HessHG; Meck­len­burg-Vor­pom­mern: LHG M‑V; Nie­der­sa­chen: NHG; Nord­rhein-West­fa­len: HG-NRW; Rhein­land-Pfalz: Hoch­SchG; Saar­land: SHSG; Sach­sen: SächsHSG;

Bre­men, Ham­burg, Nie­der­sa­chen, Rhein­land-Pfalz so- wie Schles­wig-Hol­stein umge­setzt wor­den ist, lässt es dabei bewenden.29 In Meck­len­burg-Vor­pom­mern, Nord­rhein-West­fa­len und dem Saar­land sind die ein- schlä­gi­gen Bestim­mun­gen in den Pro­mo­ti­ons­ord­nun- gen zum Titel­ent­zug noch zusätz­lich durch Sat­zungs­er- mäch­ti­gun­gen abge­si­chert, die die Hoch­schu­len zum Er- lass von Prü­fungs­ord­nun­gen ein­schließ­lich der Fol­gen von Ver­stö­ßen gegen Prü­fungs­vor­schrif­ten ermäch­ti- gen.30 Deut­lich stär­ke­ren Bin­dun­gen unter­liegt die Sat- zungs­au­to­no­mie im zwei­ten Rege­lungs­mo­dell, das sich in Ber­lin, Hes­sen, Sach­sen, Sach­sen-Anhalt sowie Thü- rin­gen durch­ge­setzt hat. Dort sieht das Lan­des­hoch- schul­ge­setz Son­der­tat­be­stän­de für den Titel­ent­zug vor, die an eine Täuschung31 anknüp­fen. Der Ent­zug steht dann ent­we­der im Ermes­sen (Sach­sen, Sach­sen-An- halt)32 oder ist als Sollvorschrift33 aus­ge­stal­tet. Das drit­te Rege­lungs­mo­dell liegt den baden-würt­tem­ber­gi­schen und den baye­ri­schen Vor­schrif­ten zugrun­de. Bei­de Län- der ver­wei­sen in ihren Lan­des­hoch­schul­ge­set­zen für Ent­zug eines Hoch­schul­gra­des auf die Par­al­lel­vor­schrif- ten im Lan­des­recht zur Rück­nah­me von Ver­wal­tungs­ak- ten.34 Ergänzt wird der Ver­weis durch die Gene­ra­ler- mäch­ti­gung zum Erlass von Pro­mo­ti­ons­ord­nun­gen so- wie durch eine wei­te­re Ermäch­ti­gung, im Fal­le von Ver- stö­ßen gegen die Prü­fungs­ord­nung auch Sank­tio­nen zu regeln.35

Im ers­ten und zwei­ten Rege­lungs­mo­dell, d.h. außer- halb von Baden-Würt­tem­berg und Bay­ern, stellt sich die Fra­ge, ob und inwie­weit ein Titel­ent­zug neben den spe- zial­ge­setz­li­chen Vor­schrif­ten in den Lan­des­hoch­schul- geset­zen bzw. den Pro­mo­ti­ons­ord­nun­gen auch auf die Par­al­lel­vor­schrif­ten zu § 48 VwVfG im Lan­des­recht ge- stützt wer­den kann. Tat­be­stand­lich setzt § 48 VwVfG zu- nächst nicht mehr, aber auch nicht weni­ger als die schlich­te Rechts­wid­rig­keit voraus.36 Wären die Par­al­lel- vor­schrif­ten zu § 48 VwVfG gene­rell neben den spezial-

Sachen-Anhalt: HSG LSA; Schles­wig-Hol­stein: HSG SH; Thüring-

en: ThürHG.
29 § 32 Abs. 3 S. 2 BbgHG; § 65 Abs. 4 BremHG; § 70 Abs. 6 HmbHG;

§ 43 Abs. 3 S. 1 LHG M‑V; § 9 Abs. 3 NHG; § 67 Abs. 3 S. 3 HG- NRW; § 34 Abs. 8 S. 2 Hoch­SchG; §§ 69 Abs. 3 S. 1 i.V.m. 64 SHSG; § 54 Abs. 3 S. 1 HSG SH.

30 § 38 Abs. 2 Nr. 12 LHG M‑V; § 64 Abs. 2 Nr. 9 HG-NRW; § 69 Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 64 Abs. 3 Nr. 10 SHSG.

31 § 34 Abs. 7 Nr. 1 BerlHG; § 32 S. 1 Alt. 1 HessHG;
§ 40 Abs. 4 Nr. 1 SächsHSG; § 21 Abs. 1 Nr. 1 HSG LSA; § 58 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ThürHG.

32 § 40 Abs. 4 SächsHSG; § 21 Abs. 1 HSG LSA.
33 § 34 Abs. 7 BerlHG; § 32 HessHG; § 58 Abs. 7 S. 1 ThürHG.
34 Sie­he § 36 Abs. 7 S. 1 BW LHG; Art. 101 S. 1 Bay­HIG.
35 Art. 84 Abs. 3 Nr. 9 Bay­HIG.
36 Suer­baum, in: Mann/Sennekamp/Uetrichtz, VwVfG, 2. Aufl. 2019,

§ 48 VwVfG Rn. 252.

gesetz­li­chen Rege­lun­gen anwend­bar, könn­ten so die spe- ziel­len Ent­zugs­tat­be­stän­de aus­ge­he­belt wer­den, die den Ent­zug an qua­li­fi­zier­te Vor­aus­set­zun­gen binden.37 Dies spricht dafür, dass die all­ge­mei­nen Vor­schrif­ten im Lan- des­recht zur Rück­nah­me von Ver­wal­tungs­ak­ten durch die spe­zi­el­le­ren Rege­lun­gen im Lan­des­hoch­schul­recht ver­drängt werden.38

2. Pro­mo­ti­ons­ord­nun­gen

An die­ser Stel­le kann kein umfas­sen­der und fakul­tä­ten- über­grei­fen­der Über­blick über die Rege­lun­gen für den Titel­ent­zug in den Pro­mo­ti­ons­ord­nun­gen gege­ben wer- den. Viel­mehr wird sich fol­gen­de Aus­wer­tung von vorn- her­ein auf Pro­mo­ti­ons­ord­nun­gen juris­ti­scher Fakul­tä­ten beschrän­ken und je Bun­des­land jeweils auch nur eine Pro­mo­ti­ons­ord­nung berück­sich­ti­gen. Aus­ge­wählt wur- den die Pro­mo­ti­ons­ord­nun­gen der juris­ti­schen Fakul­tä- ten in Tübin­gen, Mün­chen, Ber­lin (FU), Pots­dam, Bre- men, Ham­burg (Lan­des­uni­ver­si­tät), Frank­furt am Main, Greifs­wald, Han­no­ver, Düs­sel­dorf, Mainz, Saar­brü­cken, Leip­zig, Hal­le, Kiel und Jena.39 Aus Grün­den der Ein- fach­heit wird auf die exak­te Bezeich­nung der Ord­nun- gen ver­zich­tet und abkür­zend allein die jewei­li­ge Uni- ver­si­täts­stadt benannt.

Auf­fäl­lig ist, dass sich die unter­schied­li­chen Rege- lungs­kon­zep­tio­nen in den Landeshochschulgesetzen

37 OVG-NRW, Urt. v. 10.12.2015, 19 A 2820/11, juris Rn. 47.
38 S. auch OVG-NRW, Urt. v. 10.12.2015, 19 A 254/13, Beck­RS 2016,

40861 Rn. 52 sowie Hebe­ler (Fußn. 23) (400), aller­dings mit pro­ble­ma­ti­schem Rück­griff auf § 1 Abs. 1 LVwVfG; dif­fe­ren­zie­rend Löwer, Aus der Welt der Pla­gia­te, RW 2012, 116 (133), der von einem Vor­rang der Rück­nah­me­vor­schrif­ten aus­geht, sofern im Lan­des­hoch­schul­recht nicht zumin­dest eine Ermäch­ti­gung an den Sat­zungs­ge­setz­ge­ber ent­hal­ten ist, Rechts­fol­gen für die Ver­stö­ße gegen Prü­fungs­nor­men in der Prü­fungs­ord­nung zu regeln.

39 Im Ein­zel­nen wur­den aus­ge­wählt: für Baden-Würt­tem­berg die Pro­mo­ti­ons­ord­nung der Eber­hard-Karls-Uni­ver­si­tät Tübin­gen (amtl. Bek. der zen­tra­len Ver­wal­tung, Jahr­gang 41 – Nr. 12 – 30.07.2015), für Bay­ern die Pro­mo­ti­ons­ord­nung der Lud­wig-Maxi- mili­ans-Uni­ver­si­tät Mün­chen (Bekannt­ma­chung durch Anschlag in der Lud­wig-Maxi­mi­li­ans-Uni­ver­si­tät Mün­chen am 03.11.2017), für Ber­lin die Pro­mo­ti­ons­ord­nung der Frei­en Uni­ver­si­tät Ber­lin (Amts­blatt der Frei­en Uni­ver­si­tät Ber­lin 13/2017, 251, 24. Mai 2017), für Bran­den­burg die Pro­mo­ti­ons­ord­nung der Uni­ver­si­tät Pots­dam (amtl. Bek., 1998, Nr. 1, I. Rechts- und Ver­wal­tungs­vor­schrif­ten), für Bre­men die Pro­mo­ti­ons­ord­nung der Uni­ver­si­tät Bre­men (bekannt­ge­macht am 13.11.2017), für Ham­burg die Pro­mo­ti­ons­ord- nung der Uni­ver­si­tät Ham­burg (amtl. Anz. Nr. 100 vom 21.12.2010, S. 2634), für Hes­sen die Pro­mo­ti­ons­ord­nung der Goe­the-Uni­ver- sität Frank­furt am Main (Uni­Re­port Sat­zun­gen und Ord­nun­gen vom 23.07.2015), für Meck­len­burg-Vor­pom­mern die Pro­mo- tions­ord­nung der Uni­ver­si­tät Greifs­wald (Hoch­schul­öf­fent­lich be- kannt­ge­macht am 25.08.2021), für Nie­der­sa­chen die Pro­mo­ti­ons- ord­nung der Leib­niz Uni­ver­si­tät Han­no­ver (Ver­kün­dungs­blatt 20/2017 der Gott­fried Wil­helm Leib­niz Uni­ver­si­tät Han­no­ver vom 07.09.2017), für Nord­rhein-West­fa­len die Pro­mo­ti­ons­ord­nung der

nur sehr bedingt in den Pro­mo­ti­ons­ord­nun­gen wider- spie­geln. Grund- bzw. Zen­tral­tat­be­stand der Aberken- nung wegen anfäng­li­cher Män­gel ist durch­ge­hend die Täu­schung. Dies gilt auch für Tübingen40 und Mün- chen41. An die Stel­le der Täu­schung tre­ten in Düsseldorf42„ein nicht nur gering­fü­gi­ges wis­sen­schaft­li- ches Fehl­ver­hal­ten“ und in Kiel43 der Erwerb durch „gro- be Ver­stö­ße gegen die gute wis­sen­schaft­li­che Pra­xis“. Die­se Aus­le­gung die­ser unbe­stimm­ten Rechts­be­grif­fe im Lich­te des Kodex der DFG-Leit­li­ni­en zur Siche­rung gu- ter wis­sen­schaft­li­cher Praxis44 führt dann aber über das dort genann­te „Pla­gi­at“ im Ergeb­nis doch wie­der auf die Täu­schung zurück.

Wenn der Täu­schungs­tat­be­stand erfüllt ist, ver­fü­gen die Fakul­tä­ten im Regel­fall über ein nicht näher kon­k­re- tisier­tes Entziehungsermessen.44 Den zwin­gen­den Ent- zug sehen allein Potsdam45, Kiel46 sowie Jena47 vor, der dann an qua­li­fi­zier­te Vor­aus­set­zun­gen gebun­den ist. In Ein­klang mit den lan­des­ge­setz­li­chen Vor­ga­ben ist der Ent­zug in Ber­lin (FU)48 und Frankfurt49 bei Täu­schung als Soll­be­stim­mung aus­ge­stal­tet. Sel­ten dif­fe­ren­zie­ren die Pro­mo­ti­ons­ord­nun­gen bei der Ermes­sen­aus­übung danach, in wel­chen Tei­len der Arbeit getäuscht wur­de. Dies ist ledig­lich in Düsseldorf50 und in Hamburg51 vor- gese­hen. Inso­weit kommt in Düs­sel­dorf als Alter­na­ti­ve zum Ent­zug eine Rüge ins­be­son­de­re in Betracht, wenn

Hein­rich-Hei­ne-Uni­ver­si­tät Düs­sel­dorf (amtl. Bek. Nr. 35/2022 vom 30.06.2022), für Rhein­land-Pfalz die Pro­mo­ti­ons­ord­nung der Johan­nes-Guten­berg-Uni­ver­si­tät Mainz (bekannt­ge­macht am 28.03.2023), für das Saar­land die Pro­mo­ti­ons­ord­nung der Uni­ver- sität des Saar­lan­des (Dienst­blatt der Hoch­schu­len des Saar­lan­des, Nr. 26, aus­ge­ge­ben zu Saar­brü­cken, 06.07.2020), für Sachsen

die Pro­mo­ti­ons­ord­nung der Uni­ver­si­tät Leip­zig (amtl. Bek.
Nr. 32/2020, 11.09.2021), für Sach­sen-Anhalt die Pro­mo­ti­ons­ord- nung der Mar­tin-Luther-Uni­ver­si­tät Hal­le-Wit­ten­berg (Amts­blatt der Mar­tin-Luther-Uni­ver­si­tät Hal­le-Wit­ten­berg, 22. Jahr­gang,
Nr. 1 vom 30.01.2012, S. 3), für Schles­wig-Hol­stein die Pro­mo­ti­ons- ord­nung der Chris­ti­an-Albrechts-Uni­ver­si­tät zu Kiel (bekannt­ge- macht am 27. März 2017), für Thü­rin­gen die Pro­mo­ti­ons­ord­nung der Fried­rich-Schil­ler-Uni­ver­si­tät Jena (Ver­kün­dungs­blatt der Fried­rich-Schil­ler-Uni­ver­si­tät Jena Nr. 1/2019 S. 2, 16.10.2018).

40 § 22 Abs. 1 der Pro­mO Tübin­gen. 41 § 23 Abs. 1 der Pro­mO Mün­chen. 42 § 13 Abs. 1 der Pro­mO Düs­sel­dorf. 43 § 40 Abs. 2 der Pro­mO Kiel.

44 DFG-Leit­li­ni­en zur Siche­rung guter wis­sen­schaft­li­cher Pra­xis, Kodex, Stand April 2022, S. 25, (https://is.gd/PEqmdL, zuletzt abge­ru­fen am 20.07.2023).

45 § 25 Abs. 1 Pro­mO Pots­dam.
46 § 40 Abs. 2 Pro­mO Kiel.
47 § 20 Abs. 1 Satz 1 1. Halb­satz Pro­mO Jena.
48 § 32 Pro­mO FU Ber­lin i.V.m. § 34 Abs. 7 BerlHG. 49 § 19 Abs. 2 lit. a) Pro­mO Frank­furt.
50 § 13 Abs. 1 Satz 2, 3 und 4 Pro­mO Düs­sel­dorf.
51 § 18 Abs. 2 Satz 2 Pro­mO Hamburg.

Schen­ke · Pro­mo­ti­on und Wis­sen­schafts­pla­gia­te 2 1 3

214 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 209–220

„Falsch­an­ga­ben in einem unter­ge­ord­ne­ten Teil der Ar- beit nicht deren Haupt­aus­sa­gen betref­fen und wenn die wis­sen­schaft­li­che Leis­tung ins­ge­samt durch die­se Män- gel aus­nahms­wei­se nicht gänz­lich ent­wer­tet wird und des­halb der Ent­zug des Dok­tor­gra­des unver­hält­nis­mä- ßig wäre“.52 Ähn­lich bestimmt Ham­burg, dass die Aber- ken­nung ins­be­son­de­re dann zu erfol­gen hat, „wenn die Täu­schung Leis­tun­gen in sol­chen Tei­len der Pro­mo­ti­on betrifft, die für die Bewer­tung der Dis­ser­ta­ti­on oder Dis- puta­ti­on oder die Gesamt­no­te einen wich­ti­gen Stel­len- wert hat“.53

Als Rechts­fol­ge sehen die Pro­mo­ti­ons­ord­nun­gen mit einer Aus­nah­me allein den Ent­zug vor und wider­set­zen sich damit dem Trend ande­rer Fach­be­rei­che, alter­na­ti­ve Reak­ti­ons­mög­lich­kei­ten vorzusehen.54 In Düs­sel­dorf kann hin­ge­gen in nicht schwer­wie­gen­den Fäl­len wis­sen- schaft­li­chen Fehl­ver­hal­tens statt der Ent­zie­hung des Dok­tor­gra­des auch eine Rüge erteilt werden.

Im Ver­hält­nis der Pro­mo­ti­ons­ord­nun­gen zu den lan- des­ge­setz­li­chen Vor­ga­ben stellt sich eine ver­gleich­ba­re Fra­ge, wie sie schon oben zum Ver­hält­nis spe­zi­el­ler lan- des­ge­setz­li­cher Rege­lun­gen zu den all­ge­mei­nen Vor- schrif­ten zur Rück­nah­me von Ver­wal­tungs­ak­ten dis­ku- tiert wor­den ist. Viel­fach sind die Ent­zugs­tat­be­stän­de in den Pro­mo­ti­ons­ord­nun­gen enger als im Lan­des­recht ge- fasst. Vor­der­grün­dig könn­te ein ent­spre­chen­des Kon- kur­renz­ver­hält­nis im Ein­klang mit all­ge­mei­nen Grund- sät­zen der Rechts­quel­len­leh­re durch den Vor­rang der höher­ran­gi­gen Norm auf­zu­lö­sen sein. Damit wäre ein Ent­zug unter Rück­griff auf die ein­schlä­gi­gen Bestim- mun­gen des Lan­des­hoch­schul­rechts auch dann mög­lich, wenn ein Ent­zug auf Ebe­ne der Pro­mo­ti­ons­ord­nun­gen an dort vor­ge­se­he­nen qua­li­fi­zier­ten Tat­be­stän­den sch­ei- tern würde.55

Mit Rück­sicht auf die Wis­sen­schafts­frei­heit und Au- tono­mie der Hoch­schu­len ist aber eine ande­re Auf­lö­sung des (schein­ba­ren) Kon­kur­renz­ver­hält­nis­ses vor­zugs­wür- dig. Soweit der Ent­zug auf Ebe­ne des Lan­des­rechts in das Ermes­sen der zustän­di­gen Gre­mi­en gestellt wird, sind ent­spre­chen­de Vor­schrif­ten als Ermes­sens­di­rek­ti­ven zu interpretieren.56 Dies ist so lan­ge unkri­tisch, wie die Selbst­pro­gram­mie­rung der Ermes­sens­aus­übung nicht

  1. 52  § 13 Abs. 1 Satz 4 Pro­mO Düsseldorf.
  2. 53  § 18 Abs. 2 Satz 2 Pro­mO Hamburg.

54 So etwa in der Pro­mo­ti­ons­ord­nung, die dem Fall Mathiopoulos

(BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerw­GE 159, 148 Rn. 42) zugrun­de­lag und die nach­träg­li­che Ände­rung der Bewer­tung erlaubt hätte.

55 So wohl BayVGH, Urt. v. 04.04.2006, 7 BV 05.388, BayVBl. 2007, 281.

56 Vgl. auch Löwer (Fußn. 38) (133).
57 Dies rechts­po­li­tisch befür­wor­tend etwa auch Gär­ditz, Die Feststell-

die Gren­zen sprengt, die sich aus den § 40 VwVfG ent- spre­chen­den Vor­schrif­ten des Lan­des­rechts ergeben.

3. Zwi­schen­be­trach­tung

Bei iso­lier­ter Betrach­tung der lan­des­ge­setz­li­chen Vor­ga- ben ergibt sich rege­lungs­tech­nisch zunächst ein rela­tiv bun­tes Bild. In der Zusam­men­schau mit den Pro­mo­ti- ons­ord­nun­gen der Fakul­tä­ten wird die Aberken­nung eines Titels wegen anfäng­li­cher Män­gel im Ergeb­nis aber doch wei­ter­hin ganz über­wie­gend von einer Täu­schung abhän­gig gemacht, was dem Tat­be­stand der frü­her bun- des­ein­heit­lich gel­ten­den Rege­lung des § 4 GFaG ent- spricht. Die Bereit­schaft, sich auf ein dif­fe­ren­zier­tes Rechts­fol­gen­re­gime einzulassen,57 ist in den juris­ti­schen Fakul­tä­ten offen­sicht­lich noch unter­ent­wi­ckelt. Die ein- zige Aus­nah­me der hier betrach­te­ten Pro­mo­ti­ons­ord- nun­gen stellt bis­lang die Uni­ver­si­tät Düs­sel­dorf dar.

IV. Neue­re Ent­wick­lun­gen in der Rechtsprechung

Wie in der Ein­lei­tung schon ange­deu­tet wur­de, sol­len im Fol­gen­den jün­ge­re Ent­wick­lun­gen in der Rechtsp­re- chung näher beleuch­tet wer­den, denen das Poten­ti­al zukommt, die tra­dier­ten Grund­sät­ze für die Aberken- nung in Fra­ge zu stel­len. Hier ist ein­mal auf die Mathio­pou­los-Ent­schei­dung des Bun­des­ver­wal­tungs­ge- richts sowie einen Nicht­an­nah­me­be­schluss des Bun­des- ver­fas­sungs­ge­richts ein­zu­ge­hen, die aber zunächst in ihren jewei­li­gen Kon­text ein­zu­ord­nen sind.

1. Täu­schung und „gel­tungs­er­hal­ten­de Reduktion“

Häu­fig wird in Pla­gi­ats­ver­fah­ren vor­ge­tra­gen, die nicht- pla­gi­ier­ten Stel­len der bean­stan­de­ten Arbeit wür­den aus­rei­chen, um den in der Pro­mo­ti­on zu erbrin­gen­den Nach­weis der Befä­hi­gung zu selbst­stän­di­ger wis­sen- schaft­li­cher Arbeit zu erbringen.

Dass die­ser Ein­wand den Tat­be­stand der Täu­schung nicht infra­ge zu stel­len ver­mag, ent­sprach lan­ge Zeit der stän­di­gen Recht­spre­chung der Ver­wal­tungs­ge­rich­te. Maßst­ab­bil­dend war hier­für die Recht­spre­chung des VGH BW,58 die häu­fig zitiert wor­den ist59 und die bereits auf eine 1980 getrof­fe­ne Ent­schei­dung zurückgeht.60 Für

ung von Wis­sen­schafts­pla­gia­ten im Ver­wal­tungs­ver­fah­ren, WissR

2013, 3 (34).
58 VGH BW, B. v. 13.10.2008, 9 S 494/08, NVwZ-RR 2009, 285. 59 Vgl. etwa VG Ham­burg, Urt. v. 06.07.2018, 2 K 2158/14; Fort-

füh­rung Ver­wal­tungs­ge­richts­hof Baden-Würt­tem­berg, B. v. 09.02.2015, 9 S 327/14; Vgl. VG Darm­stadt, Urt. v. 14.04.2011, 3 K 899/10.DA.

60 VGH BW, Urt. v. 19.4.2000, 9 S 2435/99, Beck­RS 2000, 21248, Rn. 24 ff.; VGH BW, Urt. v. 18.11.1980, IX 1302/78, ES-VGH 31, 54 (57).

das Vor­lie­gen eines Irr­tums über die Eigen­leis­tung des Dok­to­ran­den muss danach von der Iden­ti­tät der kon­k­re- ten Arbeit aus­ge­gan­gen wer­den, was eine hypo­the­ti­sche Beur­tei­lung einer in die­ser Form und mit die­sem Inhalt nicht vor­ge­leg­ten Arbeit ver­bie­ten muss.61 Damit wur­de in die glei­ten­de Ska­la zwi­schen einer ein­zel­nen, ganz un- bedeu­ten­den Pla­gi­ats­stel­le und dem Voll­pla­gi­at ein har- ter Schnitt gezo­gen. Jen­seits eines blo­ßen Baga­tell­vor­be- hal­tes liegt immer eine beacht­li­che Täu­schung vor. Wel- chen wis­sen­schaft­li­chen (Rest-)Wert die übri­gen Tei­le der Arbeit hat­ten, war aus­nahms­los irrelevant.

Umstrit­ten ist, ob an die­sen Grund­sät­zen nach der 2017 ergan­ge­nen Ent­schei­dung des 6. Senats des Bun­des- ver­wal­tungs­ge­richts in der Rechts­sa­che „Mathio­pou­los“ fest­zu­hal­ten ist.62 Die ein­schlä­gi­ge Pas­sa­ge in dem Urteil wan­delt zunächst auf ver­trau­ten Pfa­den. Danach ist die Ver­lei­hung durch Ent­zie­hung des Dok­tor­gra­des rück- gän­gig zu machen, wenn sich nach der Ver­lei­hung eine Täu­schung über die grund­le­gen­de Pflicht her­aus­stellt, mit der Arbeit die Befä­hi­gung zum selbst­stän­di­gen wis- sen­schaft­li­chen Arbei­ten nach­ge­wie­sen zu haben.63 Ob die Dis­ser­ta­ti­on noch als Eigen­leis­tung des Pro­mo­ven- den gel­ten kön­ne, soll sich dann aber einer all­ge­mein­gül- tigen Bewer­tung ent­zie­hen. Für die Wür­di­gung des je- wei­li­gen Sach­ver­hal­tes sei­en die Anzahl der Pla­gi­atsstel- len, ihr quan­ti­ta­ti­ver Anteil an der Dis­ser­ta­ti­on sowie ihr qua­li­ta­ti­ves Gewicht, d.h. ihre Bedeu­tung für die wis­sen- schaft­li­che Aus­sa­ge­kraft, zu berücksichtigen.64 An der not­wen­di­gen Eigen­leis­tung feh­le es, wenn die Pla­gi­ats- stel­len die Arbeit quan­ti­ta­tiv, qua­li­ta­tiv oder in einer Ge- samt­schau bei­der Mög­lich­kei­ten prä­gen wür­den. Von ei- ner quan­ti­ta­ti­ven Prä­gung will der 6. Senat aus­ge­hen, wenn „die Anzahl der Pla­gi­ats­stel­len und deren Anteil an der Arbeit ange­sichts des Gesamt­um­fangs über­hand- neh­men“. „[W]enn die rest­li­che Dis­ser­ta­ti­on den inhalt- lichen Anfor­de­run­gen an eine beacht­li­che wis­sen­schaft- liche Leis­tung nicht genügt“, ist die Arbeit qua­li­ta­tiv durch pla­gi­ier­te Tei­le geprägt.65

Die­se Aus­füh­run­gen sind in der Lite­ra­tur sehr unter- schied­lich gedeu­tet wor­den. So ist in einem viel­be­ach­te- ten Bei­trag die Auf­fas­sung ver­tre­ten wor­den, nun­mehr sei­en Inhalt, Erkennt­nis­ge­winn oder Ori­gi­na­li­tät mit

  1. 61  Vgl. etwa VG Düs­sel­dorf, Urt. v. 20.03.2014, 15 K 2271/13, ZUM 2014, 602 (615); aus der Lite­ra­tur etwa Lin­ke, Ver­wal­tungs­recht- liche Aspek­te der Ent­zie­hung aka­de­mi­scher Gra­de, WissR, 146(157 f.); Suer­baum, in: Mann/Sennekamp/Uetrichtz, VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 48 VwVfG Rn. 254; Löwer (Fußn. 38) (138).
  2. 62  BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerw­GE 159, 148 Rn. 44.
  3. 63  BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerw­GE 159, 148 Rn. 44.

64 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerw­GE 159, 148 Rn. 44. 65 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerw­GE 159, 148 Rn. 44. 66 Fisahn, Wahr­heit und Fuß­no­te — Wis­sen­schaft­li­che Ehrlichkeit

den unkor­rek­ten oder fal­schen Quel­len­an­ga­ben in Be- zie­hung zu set­zen. Nur wenn die Pla­gia­te in der „be- rühm­ten Gesamt­schau“ die Arbeit quan­ti­ta­tiv und qua­li- tativ prä­gen, so dass die Eigen­leis­tung in den Hin­ter- grund tre­te, kön­ne man einen Titel aberkennen.66 Die­ser Inter­pre­ta­ti­on der Ent­schei­dungs­grün­de ist nach­drück- lich zu wider­spre­chen. Sie mag rechts­po­li­tisch ver­tret­bar sein. Mit den Anfor­de­run­gen an eine Täu­schung, wie sie der 6. Senat in der Ent­schei­dung „Mathio­po­lous“ for­mu- liert hat, hat dies aber nichts zu tun. Der 6. Senat ver­langt kei­ne „Gesamt­schau“. Viel­mehr sind drei, im Ergeb­nis von­ein­an­der unab­hän­gi­ge Fall­ge­stal­tun­gen zu unter- schei­den, die jeweils für sich betrach­tet den Täu­schungs- vor­wurf begrün­den kön­nen. Die Täu­schung liegt vor, wenn in quan­ti­ta­ti­ver Hin­sicht von einer feh­len­den Ei- gen­leis­tung aus­zu­ge­hen ist, kann sich aber auch aus dem qua­li­ta­ti­ven Gewicht der Pla­gi­ats­stel­len erge­ben. Be- grün­det weder eine iso­lier­te quan­ti­ta­ti­ve noch eine iso- lier­te qua­li­ta­ti­ve Betrach­tung den Täu­schungs­vor­wurf, kann es auch noch in einer Gesamt­schau an der not­wen- digen Eigen­leis­tung fehlen.

Umge­kehrt ver­mag es aber wohl auch nicht zu über- zeu­gen, die Ent­schei­dung des 6. Senats als eine blo­ße Fort­schrei­bung der frü­he­ren Baga­tell­recht­spre­chung zu deuten.67 Dies ist kaum mit einer Pas­sa­ge in den Urteils- grün­den zu ver­ein­ba­ren, wonach es in der Ver­ant­wor- tung der Hoch­schu­len bzw. ihrer Fakul­tä­ten liegt, ob eine Dis­ser­ta­ti­on „trotz zahl­rei­cher Pla­gi­ats­stel­len noch als wis­sen­schaft­li­che Eigen­leis­tung“ gel­ten kann.68 Da- mit müs­sen auch jen­seits von Baga­tel­len Fäl­le denk­bar sein, in denen Pla­gia­te noch nicht über­hand­neh­men. Eine der­ar­ti­ge Inter­pre­ta­ti­on wür­de zudem der drit­ten Vari­an­te einer feh­len­den Eigen­leis­tung, näm­lich der Ge- samt­schau der quan­ti­ta­ti­ven wie qua­li­ta­ti­ven Ele­men­te, die Berech­ti­gung ent­zie­hen. Wenn sich die Anzahl der Pla­gia­te noch unter­halb einer Baga­tell­gren­ze bewegt, ist schwer ein­zu­se­hen, wie trotz einer nicht qua­li­ta­ti­ven Prä­gung der Arbeit durch Pla­gia­te noch von einer nicht aus­rei­chen­den Eigen­leis­tung aus­zu­ge­hen ist. Rich­ti­ger- wei­se muss das quan­ti­ta­ti­ve Moment damit eine eigen- stän­di­ge Gren­ze jen­seits blo­ßer Baga­tel­len markieren.69

und der Pla­gi­atspran­ger, NJW 2020, 743 (746).
67 So aber Gär­ditz, Gut­ach­ter­li­che Stel­lung­nah­me betref­fend die

Über­prü­fung einer Dis­ser­ta­ti­on durch die Freie Uni­ver­si­tät Ber­lin (Fall Dr. Fran­zis­ka Gif­fey), 27.10.2020, S. 13; Gär­ditz (Fußn. 13) (177).

68 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerw­GE 159, 148 Rn. 39. 69 So im Ergeb­nis wohl auch Sol­te, Gut­ach­ten zu einer Rei­he von

Rechts­fra­gen im Zusam­men­hang mit dem Ent­zug eines Dok­tor- titels auf­grund der Auf­de­ckung von Pla­gia­ten Abge­ord­ne­ten­haus von Ber­lin — Wis­sen­schaft­li­cher Par­la­ments­dienst -, 31.7.2020, S. 6.

Schen­ke · Pro­mo­ti­on und Wis­sen­schafts­pla­gia­te 2 1 5

216 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 209–220

Zumin­dest unglück­lich ist, dass die Kon­kre­ti­sie­run- gen der bei­den Ele­men­te in der Ent­schei­dung nur wenig hilf­reich sind und eher mehr Fra­gen auf­wer­fen als dort beant­wor­tet wer­den. Wenn „die Anzahl der Pla­gi­atsstel- len und deren Anteil an der Arbeit ange­sichts des Ge- samt­um­fangs über­hand­neh­men“ dür­fen, kann es für die quan­ti­ta­ti­ve Prä­gung nicht auf eine abso­lu­te Zahl der be- anstan­de­ten Stel­len ankom­men. Viel­mehr müs­sen die­se in Rela­ti­on zu den übri­gen Tei­len gesetzt wer­den. Eine im Sin­ne der Rechts­si­cher­heit begrü­ßens­wer­te Quan­ti­fi- zie­rung ist der 6. Senat aller­dings schul­dig geblie­ben. Kaum ver­tret­bar dürf­te es sein, von einem Über­hand- neh­men erst aus­zu­ge­hen, wenn die Arbeit zum über­wie- gen­den Teil aus Pla­gia­ten besteht. Wenn „Über­hand­neh- men“ in „über­mäch­ti­ger Wei­se an Zahl, Stär­ke zuneh- men; stark anwach­sen, sich stark ver­meh­ren“ bedeutet,70 erscheint bereits ein Anteil von 5 % pla­gi­ats­be­haf­te­ter Sei­ten als dis­kus­si­ons­wür­dig, um die­sen Tat­be­stand zu erfüllen.

Von einer qua­li­ta­ti­ven Prä­gung soll hin­ge­gen aus­zu- gehen sein, „wenn die rest­li­che Dis­ser­ta­ti­on den inhalt­li- chen Anfor­de­run­gen an eine beacht­li­che wis­sen­schaft­li- che Leis­tung nicht genügt“.71 Hier­un­ter dürf­ten vor al- lem Struk­tur­pla­gia­te fal­len, weil von einer eigen­stän­di- gen wis­sen­schaft­li­chen Leis­tung auch dann nicht mehr aus­ge­gan­gen wer­den kann, wenn Fremd­tex­te zwar nicht wort­wört­lich abge­schrie­ben, son­dern ledig­lich para- phra­siert werden.

Fast sechs Jah­re nach der „Mathiopoulos“-Entschei- dung ist das Urteil des 6. Senats mitt­ler­wei­le in einer Viel­zahl von Ent­schei­dun­gen rezi­piert worden.72 Auf­fäl- lig ist, dass es sich dabei um ziem­lich ein­deu­ti­ge Fäl­le han­delt, bei denen im gro­ßem Stil pla­gi­iert wor­den ist.73 Über die Grün­de hier­für kann nur spe­ku­liert wer­den. Eine Erklä­rung könn­te sein, dass die Fakul­tä­ten pro­zes- sua­le Risi­ken mini­mie­ren wol­len und sich in weni­ger ein­deu­ti­gen Fäl­len eher gegen einen Ent­zug aus­sp­re- chen. Damit droht eine schlei­chen­de Ero­si­on bestehen- der Stan­dards, weil jeder Fall, der nicht sank­tio­niert wird, aus Grün­den der Gleich­be­hand­lung eine Unter- gren­ze ein­zieht, die in zukünf­ti­gen Fäl­len über­schrit­ten wer­den muss.

  1. 70  Vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/ueberhandnehmen (zuletzt abge­ru­fen am 24.7.2023).
  2. 71  BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerw­GE 159, 148 Rn. 44.
  3. 72  Stand Juli 2023 ent­hält die Daten­bank von Beck 25 Ent­schei­dun- gen der Ver­wal­tungs­ge­rich­te, in denen auf die Ent­schei­dung des6. Senats Bezug genom­men wird.
  4. 73  Vgl. exem­pla­risch VG Ans­bach, Urt. v. 20.01.2022, AN 2 K 20.2658,BeckRS 2022, 12633.

74 Vgl. etwa zu den rechts­me­tho­di­schen Pro­ble­men, die sich bei

Schon aus Grün­den der Rechts­si­cher­heit erscheint es daher wün­schens­wert, das quan­ti­ta­ti­ve Moment auch tat­säch­lich zu quan­ti­fi­zie­ren. Mit Rück­sicht auf die Wis- sen­schafts­frei­heit spricht viel dafür, dass die­se Auf­ga­be nicht durch die Recht­spre­chung, son­dern in den Fakul- täten geschul­tert wer­den soll­te. Das Steu­er­recht bie­tet reich­lich Anschau­ungs­ma­te­ri­al dafür, dass der­ar­ti­ge Quan­ti­fi­zie­run­gen immer angreif­bar, aber letzt­lich der ein­zi­ge Weg sind, Abgren­zungs­fra­gen inter­sub­jek­tiv vorzustrukturieren.74 Die Schwel­le für ein „quan­ti­ta­ti- ves“ Pla­gi­at soll­te dabei aus Grün­den der Ver­hält­nis­mä- ßig­keit nicht zu nied­rig ange­setzt wer­den. Hier­für be- steht auch kei­ne Not­wen­dig­keit, weil ein Pla­gi­at auch noch unter dem qua­li­ta­ti­ven Aspekt bejaht wer­den kann. Wo die Gren­zen im Ein­zel­nen zu set­zen ist, wird von Fach zu Fach vari­ie­ren. Im Bereich der Rechts­wis­sen- schaft könn­te eine 10 %-Gren­ze der Sei­ten, die sub­stan­ti- elle Pla­gia­te ent­hal­ten, für die gebo­te­ne Rechts­si­cher­heit sorgen.

2. Sank­tio­nie­rung und Gren­zen der Satzungsautonomie

Wie im Abschnitt zur grund­recht­li­chen Ein­ord­nung aus­ge­führt wur­de, ver­fü­gen die Uni­ver­si­tä­ten nur über eine ein­ge­schränk­te Rechtssetzungsbefugnis.75 Gegen- stand und Zweck der Sat­zungs­au­to­no­mie hat der Gesetz- geber zu umrei­ßen. Inwie­weit es dar­über hin­aus noch inhalt­li­cher Vor­ga­ben oder doch jeden­falls einer Rah- men­vor­ga­be bedarf, soll dann von der Inten­si­tät des Grund­rechts­ein­griffs abhän­gig sein.76 Die bis­he­ri­ge Recht­spre­chung des Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richts zu dem The­men­kreis war durch eine star­ke Beto­nung der (Sat- zungs-)Autonomie der Hoch­schu­len geprägt. Dies lässt sich anhand zwei­er bereits 2006 und 2012 getrof­fe­ner Ent­schei­dun­gen zur Pla­gi­ats­pro­ble­ma­tik verdeutlichen.

In der im Jahr 2006 getrof­fe­nen Entscheidung77 konn­te sich eine baye­ri­sche Uni­ver­si­tät allein auf die ein- schlä­gi­ge Bestim­mung im Lan­des­hoch­schul­recht stüt- zen, die für den Titel­ent­zug auf die § 48 VwVfG ent­sp­re- chen­de Rege­lung im Lan­des­ver­wal­tungs­ver­fah­rens­ge- setz ver­wies. Auch in der damals gel­ten­den Pro­mo­ti­ons- ord­nung wur­de die­se Vor­ga­be nicht näher kon­kre­ti­siert. Deren Rege­lungs­ge­halt erschöpf­te sich in einem Verweis

dem Ver­such stel­len, im Ein­kom­men­steu­er­recht zwi­schen pri­va­ter Ver­mö­gens­ver­wal­tung und gewerb­li­chem Grund­stücks­han­deln abzu­gren­zen Schen­ke, Die Rechts­fin­dung im Steu­er­recht, 2008, S. 131 ff.

75 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerw­GE 159, 148. Rn. 28. 76 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerw­GE 159, 148. Rn. 28. 77 BVerfG, B. v. 20.10.2006, 6 B 67/06, Buch­holz 316 § 48 VwVfG

Nr. 116; vor­ge­hend BayVGH, Urt. v. 04.04.2006, 7 BV 05.388, BayVBl. 2007, 281.

auf das GFaG, das in Bay­ern zum dama­li­gen Zeit­punkt aber bereits außer Kraft getre­ten war.78 Ähn­lich wie be- reits die Vor­in­stanz erach­te­te das Bun­des­ver­wal­tungs­ge- richt den Ver­weis im Hoch­schul­recht auf Art. 48 BayV- wVfG als aus­rei­chen­de Rechts­grund­la­ge. Bei ver­fas- sungs­kon­for­mer Aus­le­gung böte Art. 48 BayV­wVfG hin- rei­chend Raum für das rechts­staat­lich gebo­te­ne Abwä­gungs­pro­gramm zwi­schen Ver­trau­ens­schutz und Gesetz­mä­ßig­keit der Verwaltung.

Umfang­rei­che und auf­schluss­rei­che Aus­füh­run­gen zur Reich­wei­te der Sat­zungs­au­to­no­mie ent­hält ein wei­te- res im Juni 2017 gefäll­tes Urteil des 6. Senats.79 Der Ent- zug des Dok­tor­gra­des des Klä­gers grün­de­te auf straf- recht­lich rele­van­tem Fehl­ver­hal­ten nach der Pro­mo­ti­on. Ver­ur­teilt wor­den war der Beschwer­de­füh­rer, weil ein von ihm gelei­te­tes „Insti­tut für Wis­sen­schafts­be­ra­tung“ gegen Hono­rar Pro­mo­ti­ons­wil­li­ge an Hoch­schul­leh­rer ver­mit­telt hat­te. Die Ver­ur­tei­lung wegen Bestechung nahm die beklag­te Hoch­schu­le zum Anlass, ihm selbst den Dok­tor­grad zu ent­zie­hen. Rechts­grund­la­ge war eine Bestim­mung in der Pro­mo­ti­ons­ord­nung, wonach der Dok­tor­grad ent­zo­gen wer­den konn­te, wenn der Pro­mo- vier­te wegen einer vor­sätz­li­chen Straf­tat zu einer Frei- heits­stra­fe von min­des­tens einem Jahr oder einer vor- sätz­li­chen Straf­tat ver­ur­teilt wor­den war, bei deren Vor- berei­tung oder Bege­hung der Dok­tor­grad ein­ge­setzt wur­de. Das nord­rhein­west­fä­li­sche Hoch­schul­recht be- schränk­te sich hin­ge­gen auf die Sat­zungs­er­mäch­ti­gung, das Nähe­re des Pro­mo­ti­ons­stu­di­ums durch eine Prü- fungs­ord­nung (Pro­mo­ti­ons­ord­nung) zu regeln.

Das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt sah im Lan­des­hoch- schul­recht eine aus­rei­chen­de gesetz­li­che Rechts­grund­la- ge und wider­sprach damit der Rechts­auf­fas­sung des Klä- gers, der eine Ver­let­zung des Geset­zes­vor­be­halts gerügt hat­te. Der Lan­des­ge­setz­ge­ber sei zwar berech­tigt, aber nicht ver­pflich­tet, abschlie­ßend vor­zu­ge­ben, wel­ches wis­sen­schaft­li­che Fehl­ver­hal­ten den hoch­schul­in­tern zustän­di­gen Fakul­tä­ten Anlass zur Ent­zie­hung des Dok- tor­gra­des geben kön­ne. Mög­lich sei es, statt­des­sen einen gesetz­li­chen Rah­men vor­zu­ge­ben oder den Fakul­tä­ten statt­des­sen auch nur einen Rege­lungs­auf­trag zu ertei­len. Die Ver­pflich­tung der Fakul­tä­ten, schwer­wie­gen­de Ver- let­zun­gen grund­le­gen­der Gebo­te der wis­sen­schaft­li­chen Red­lich­keit zu sank­tio­nie­ren, fol­ge bereits aus ihrer grund­ge­setz­li­chen Ver­ant­wort­lich­keit für eine red­li­che Wis­sen­schaft. Wei­ter­hin sei­en sie bereits auf­grund ihrer Grund­rechts­bin­dung ver­pflich­tet, durch Gestal­tung und

78 Vgl. hier­zu BayVGH, Urt. v. 04.04.2006, 7 BV 05.388, BayVBl. 2007, 281.

79 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 4/16, BVerw­GE 159, 171.
80 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 4/16, BVerw­GE 159, 171 Rn. 26.

Anwen­dung des Sat­zungs­rechts sicher­zu­stel­len, dass die grund­rechts­re­le­van­ten Nach­tei­le einer Ent­zie­hung mit ihrem fall­be­zo­ge­nen Gewicht berück­sich­tigt würden.80

Gegen das letzt­in­stanz­li­che Urteil des Bun­des­ver­wal- tungs­ge­richts ist Ver­fas­sungs­be­schwer­de ein­ge­legt wor- den.81 Die­se wur­de durch einen Nicht­an­nah­me­be­schluss zurück­ge­wie­sen, weil es der Beschwer­de­füh­rer ent­ge­gen §§ 23 Abs. 1 S. 2, 92 BVerfGG ver­säumt hat­te, sei­ne Be- schwer­de hin­rei­chend zu sub­stan­ti­ie­ren. Umso mehr las­sen die als obiter dic­tum for­mu­lier­ten Aus­füh­run­gen auf­hor­chen. Der par­la­men­ta­ri­sche Gesetz­ge­ber sei auch im Hoch­schul­be­reich ver­pflich­tet, die für die Grund- rechts­ver­wirk­li­chung maß­geb­li­chen Rege­lun­gen selbst zu tref­fen und nicht ande­ren zu über­las­sen. Auch in An- sehung des vom Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt im Ansatz zutref­fend beton­ten Rechts auf aka­de­mi­sche Selbst­ver- wal­tung aus Art. 5 Abs. 3 HS. 1 GG erschei­ne es inso­weit als zwei­fel­haft, ob die Ent­zie­hung des Dok­tor­gra­des we- gen eines Fehl­ver­hal­tens nach sei­ner Ver­lei­hung auf Grund­la­ge einer Sat­zung ver­fas­sungs­recht­li­chen Anfor- derun­gen genü­ge. Aus dem Hoch­schul­recht des Lan­des erge­be sich ledig­lich, dass in der Pro­mo­ti­ons­ord­nung die Fol­gen von Ver­stö­ßen gegen Prü­fungs­vor­schrif­ten zu re- geln sei. Das Ver­hal­ten nach der Prü­fung gehö­re nicht dazu.82

Auch wenn die Ent­schei­dung unmit­tel­bar allein die Ent­zie­hung eines Dok­tor­gra­des wegen nach­träg­li­chen Fehl­ver­hal­tens betrifft, wirft sie auch ein Schlag­licht auf die hier in Rede ste­hen­de The­ma­tik. Sie unter­streicht, dass die Uni­ver­si­tä­ten im Rege­lungs­ver­bund mit Lan- des­ge­setz­ge­bung nur über eine abge­lei­te­te Sat­zungs­au­to- nomie ver­fü­gen. Was die Fakul­tä­ten in ihren Pro­mo­ti- ons­ord­nun­gen regeln, muss dort, wo es grund­rechts­re­le- vant ist, par­la­ments­ge­setz­lich vor­ge­zeich­net sein. Für die Sank­tio­nie­rung von Pla­gia­ten ste­hen damit die Bun­des- län­der, die dem zwei­ten und drit­ten Rege­lungs­mo­dell fol­gen, auf der siche­ren Sei­te, weil die Sank­tio­nie­rung ent­we­der bereits im Lan­des­hoch­schul­recht ver­an­kert ist oder die­ses doch zumin­dest eine kon­kre­ti­sie­ren­de Spe­zi- aler­mäch­ti­gung ent­hält, die über die Gene­ral­er­mäch­ti- gung zum Sat­zungs­er­lass hin­aus­geht. Letzt­lich dürf­te aber auch das ers­te Rege­lungs­mo­dell, bei dem sich der Lan­des­ge­setz­ge­ber auf eine Gene­ral­er­mäch­ti­gung be- schränkt, kei­nen durch­grei­fen­den Ein­wän­den aus­ge­setzt sein. Die Ermäch­ti­gung zum Erlass einer Prü­fungs­ord- nung kann nur so ver­stan­den wer­den, dass damit auch die Befug­nis zum Erlass von Rege­lun­gen zur Sicherung

81 BVerfG, Nicht­an­nah­me­be­schluss v. 25.05.2020, 1 BvR 2103/17, WissR 2020, 385.

82 BVerfG, Nicht­an­nah­me­be­schluss v. 25.05.2020, 1 BvR 2103/17, WissR 2020, 385 Rn. 10.

Schen­ke · Pro­mo­ti­on und Wis­sen­schafts­pla­gia­te 2 1 7

218 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 209–220

der Inte­gri­tät der Pro­mo­ti­ons­prü­fung ein­ge­schlos­sen ist. Dazu gehö­ren nicht nur die Regeln zum ord­nungs­ge­mä- ßen Ablauf, son­dern auch die Reak­ti­on auf prü­fungs­be- zoge­ne Ver­stö­ße. Dies muss umso mehr gel­ten, als der Umgang mit Wis­sen­schafts­pla­gia­ten kein unbe­schrie­be- nes Blatt ist, son­dern fes­ten Regeln folgt, die auch in der Recht­spre­chung grund­sätz­lich aner­kannt sind. Mit der Gene­ral­er­mäch­ti­gung zum Erlass einer Pro­mo­ti­ons­ord- nung ist den Fakul­tä­ten damit kein Blan­ko­scheck aus­ge- stellt, son­dern kann sich eine Fakul­tät allein in dem Rah- men des tra­dier­ten Reak­ti­ons­rechts bewegen.

Von die­sem Rah­men dürf­ten auf Ebe­ne der Lan­des- gesetz­ge­bung auch soge­nann­te Minus­maß­nah­men ge- deckt sein. Auf einen Prü­fungs­ver­stoß kann eine Fakul- tät des­halb grund­sätz­lich auch mit einer Her­ab­set­zung der Note oder einer schlich­ten Rüge reagie­ren. Vor­aus- set­zung hier­für muss aber sein, dass die­se Opti­on in den Pro­mo­ti­ons­ord­nun­gen eröff­net wor­den ist. In den hier betrach­te­ten juris­ti­schen Fakul­tä­ten ist dies ledig- lich in Düs­sel­dorf vor­ge­se­hen (§ 13 Abs. 1 S. 2 Pro­mO Düsseldorf ).

Der ver­ein­zelt unter­nom­me­ne Ver­such, der­ar­ti­ge Minus­maß­nah­men auch ohne aus­drück­li­che Ermäch­ti- gung zu legitimieren,83 erweist sich hin­ge­gen als untaug- lich. Dies gilt ins­be­son­de­re für den in die­sem Zusam- men­hang häu­fig bemüh­ten Grund­satz der Ver­hält­nis- mäßig­keit. Des­sen frei­heits­schüt­zen­der Gehalt wird ge- rade­zu in sein Gegen­teil ver­kehrt, wenn er gegen den Bestimmt­heits­grund­satz aus­ge­spielt wird. Wenn der Tat- bestand einer Ein­griffs­grund­la­ge nicht erfüllt ist, kann nach dem rechts­staat­li­chen Ver­tei­lungs­prin­zip eine an- dere Sank­ti­on nicht allein des­halb zuläs­sig sein, weil die- se mil­der als die gesetz­lich vor­ge­se­he­ne Sank­tio­nie­rung ist. Viel­mehr bedarf es einer kla­ren Rege­lung ent­we­der bereits durch den Lan­des­ge­setz­ge­ber oder doch jeden- falls in der Pro­mo­ti­ons­ord­nung. Dies hat zur Kon­se- quenz, dass eine Sank­tio­nie­rung wis­sen­schaft­li­chen Fehl­ver­hal­tens jeden­falls dann zwin­gend aus­ge­schlos­sen ist, wenn der Grad des Fehl­ver­hal­tens nicht die Schwe­re erreicht, die auch einen Ent­zug recht­fer­ti­gen wür­de. Da- mit sind einer Fakul­tät etwa in Fäl­len gro­ber Fahr­läs­sig- keit die Hän­de gebun­den sind, wenn im Gesetz oder in der eige­nen Pro­mo­ti­ons­ord­nung die Schwel­le für ein Ein­schrei­ten auf ein vor­sätz­li­ches Han­deln fest­ge­schrie- ben ist. Wer das als unbil­lig ansieht, ist gehal­ten, die ge- setz­li­chen Grund­la­gen zu ändern.

83 Bat­tis, Gut­ach­ter­li­che Stel­lung­nah­me im Auf­trag der Frei­en Uni­ver­si­tät Zur Klä­rung der Rechts­fra­ge: „Ist es recht­mä­ßig, auf der Grund­la­ge von § 34 Absät­ze 7 und 8 Ber­li­ner Hoch­schul­ge­setz (BerIHG) eine Rüge zu ertei­len, auch wenn das BerIHG dies nicht

Noch nicht beant­wor­tet ist damit die Fra­ge, ob Mi- nus­maß­nah­men ver­hängt wer­den kön­nen, wenn die Schwel­le zum Ent­zug erreicht ist, die Fakul­tät aber im Rah­men ihrer Ermes­sens­aus­übung Mil­de wal­ten las­sen will. Wird in sol­chen Fäl­len eine Rüge aus­ge­spro­chen oder die Beno­tung her­ab­ge­setzt, kann dem der oben for- mulier­te Ein­wand, durch Auf­wei­chung des Tat­be­stan­des den Vor­rang des Geset­zes zu miss­ach­ten, nicht ent­ge- gen­hal­ten wer­den. Gleich­wohl drän­gen sich ande­re rechts­staat­li­che Beden­ken auf. Der Vor­be­halt des Geset- zes beruht neben dem grund­recht­li­chen auch auf einem objek­tiv-rechts­staat­li­chen Fun­da­ment. Letz­te­res zielt da- rauf, staat­li­ches Han­deln bere­chen- und vor­her­seh­bar zu machen. Dies erfor­dert, ein Sank­tio­nen­re­gime tat­be- stand­lich zu ver­ty­pen, um will­kür­li­chen Ent­schei­dun­gen vor­zu­beu­gen. Dies spricht dafür, die Zuläs­sig­keit von Minus­maß­nah­men von einer ent­spre­chen­den Rege­lung in Pro­mo­ti­ons­ord­nun­gen abhän­gig zu machen.

Wenn sich Fakul­tä­ten über ent­spre­chen­de Beden­ken hin­weg­set­zen wol­len, sind wei­te­re Ein­schrän­kun­gen zu beach­ten. Zuläs­sig kön­nen nur sol­che Sank­tio­nen sein, die sich tat­säch­lich als Minus­maß­nah­men dar­stel­len. Hier­un­ter fällt die Absen­kung der Pro­mo­ti­ons­no­te. Nicht zuläs­sig kann es dage­gen sein, den Betrof­fe­nen zu einem akti­ven Tun zu ver­pflich­ten, wie ihm bei­spiels­wei- se auf­zu­ge­ben, sein Manu­skript nach einer Über­ar­bei- tung erneut zu ver­öf­fent­li­chen. Eben­so unzu­läs­sig müs- sen von der Fakul­tät aus­ge­spro­che­ne förm­li­che Rügen sein. Eine sol­che Rüge tan­giert den sozia­len Ach­tungs- anspruch und greift des­halb in den Schutz­be­reich des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein. Auch wenn die Betrof­fe­nen kaum schutz­wür­dig sind, han­delt es sich in bei­den Fäl­len nicht mehr um Minus­maß­nah­men zum Ent­zug, son­dern um ein Ali­ud. Fakul­tä­ten, die an die Stel­le des bis­he­ri­gen Alles-oder-Nichts-Regimes dif­fe- ren­zier­te Rege­lun­gen tre­ten las­sen wol­len, sind daher ge- hal­ten, die­se Mög­lich­kei­ten expli­zit in ihren Pro­mo­ti- ons­ord­nun­gen zu verankern.

V. Fazit und rechts­po­li­ti­scher Ausblick

Weder das Mathio­pou­los-Urteil des Bun­des­ver­wal- tungs­ge­richts noch der Nicht­an­nah­me­be­schluss des 1. Senats des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts bie­ten Anlass, den bestehen­den Umgang mit Pla­gia­ten grund­sätz­lich in Fra­ge zu stel­len. Die­ser Befund bedeu­tet aber noch lange

aus­drück­lich regelt und die jewei­li­ge Pro­mo­ti­ons­ord­nung zur Ent- zie­hung eines Dok­tor­gra­des auf die gesetz­li­chen Bestim­mun­gen bzw. das BerIHG ver­weist?“, 11.2020.

nicht, dass sich die gegen­wär­ti­ge Pra­xis bewährt hat. Sofern Pro­mi­nen­te, ins­be­son­de­re Spit­zen­po­li­ti­ker betrof­fen sind, fin­den Pla­gi­ats­ver­fah­ren unter einem erheb­li­chen media­len Druck statt.84 Das Ide­al, unpar­tei- isch zu ent­schei­den und sich nicht von per­sön­li­chen Inter­es­sen lei­ten zu las­sen, kommt dann einer Her­ku­les- auf­ga­be gleich. Glei­ches gilt aber auch, wenn Pla­gi­ats­fäl- le zügig auf­fal­len und die betrof­fe­ne Fakul­tät zum Rich- ter in eige­ner Sache wird. Die sinn­volls­te Stra­te­gie, die- sen Druck zu neu­tra­li­sie­ren, besteht in der nor­ma­ti­ven Vor­struk­tu­rie­rung des Ent­schei­dungs­pro­zes­ses. Je offe- ner die Ent­schei­dungs­maß­stä­be hin­ge­gen for­mu­liert sind, umso grö­ßer ist auch die Gefahr sach­wid­ri­ger Ein- flussnahmen.

Noch schwer abzu­schät­zen ist zudem, wel­che Aus- wir­kun­gen die Ent­wick­lung der KI auf den Wett­lauf zwi- schen Pla­gia­to­ren und Pla­gi­ats­jä­gern haben wird. Die Text­pro­duk­ti­on mit Hil­fe von KI lässt Tex­te ent­ste­hen, bei denen der mensch­li­che Benut­zer nur noch als Stich- wort­ge­ber fun­giert. Auch der Selbst­ver­such, Tei­le die­ses Bei­tra­ges durch die KI so umfor­mu­lie­ren zu las­sen, dass die Para­phra­se nicht mehr als Pla­gi­at zu erken­nen ist, lie­fer­te durch­aus viel­ver­spre­chen­de Ergeb­nis­se. Ein plum­pes „Copy and Pas­te“ dürf­te also zukünf­tig der Ver- gan­gen­heit ange­hö­ren, was zusätz­li­che Anrei­ze setzt, die Regeln guter wis­sen­schaft­li­cher Pra­xis außer Acht zu las- sen. KI eröff­net aber nicht nur neue Optio­nen zu pla­gi­ie- ren, son­dern auch neue Mög­lich­kei­ten, Struk­tur­pla­gia­te offenzulegen.85 Damit könn­te auf die Fakul­tä­ten eine gi- gan­ti­sche Wel­le von Pla­gi­ats­ver­fah­ren zurollen.

Hier­auf sind die Fakul­tä­ten gegen­wär­tig nur schlecht vor­be­rei­tet. Dar­an hat die Auf­ga­be der frü­he­ren Baga-

tell­gren­ze durch die Recht­spre­chung des 6. Senats des Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richts einen nicht uner­heb­li­chen Anteil. Wenn es jetzt eine zwei­te, noch nicht wirk­lich quan­ti­fi­zier­te Gren­ze gibt, bei deren Unter­schrei­tung in eine qua­li­ta­ti­ve Betrach­tung und zuletzt mög­li­cher­wei­se auch noch in eine Gesamt­schau ein­ge­tre­ten wer­den muss, ist hier­mit eine erheb­li­che Rechts­un­si­cher­heit ver- bun­den. Miss­lich ist dabei ins­be­son­de­re, dass jeder Pla- giats­fall, der nicht zum Titel­ent­zug geführt hat, einen neu­en Bench­mark setzt, der bei wei­te­ren Fäl­len als Refe- renz dient. Um einer Ero­si­on wis­sen­schaft­li­cher Stan- dards ent­ge­gen­zu­wir­ken, sind unter­schied­li­che Stra­te­gi- en denk­bar. Eine Opti­on wäre es, für Alt­fäl­le erneut über eine Ver­jäh­rungs­re­gel nachzudenken.86 Vor­zug­wür­dig erscheint es, den Fakul­tä­ten kla­re Ent­schei­dungs­maß­stä- be an die Hand zu geben. Nach der grund­ge­setz­li­chen Auf­ga­ben­ver­tei­lung sind hier aber weder die Lan­des­ge- setz­ge­ber noch die Recht­spre­chung, son­dern in ers­ter Linie die Fakul­tä­ten selbst auf­ge­ru­fen, für Rechts­si­cher- heit zu sorgen.

Prof. Dr. Ralf P. Schen­ke ist Inha­ber des Lehr­stuhls für Öffent­li­ches Recht, Deut­sches, Euro­päi­sches und Inter- natio­na­les Steu­er­recht an der Juli­us-Maxi­mi­li­ans-Uni- ver­si­tät Würz­burg. Sei­ne For­schungs­in­ter­es­sen lie­gen neben dem Steu­er­recht vor allem im Ver­wal­tungs­pro- zess­recht, im Daten­schutz­recht sowie in der juris­ti­schen Metho­den­leh­re. Von 2013 bis 2019 war er Vor­sit­zen­der der Stän­di­gen Kom­mis­si­on zur Unter­su­chung wis­sen- schaft­li­chen Fehl­ver­hal­tens der Uni­ver­si­tät Würzburg.

84 Rei­ches Anschau­ungs­ma­te­ri­al hier­für bie­ten die Pla­gi­ats­ver­fah­ren Gif­fey und Scha­van (s. oben die Nw. in Fn. 3 und 4).

85 Vgl. hier­zu etwa Kei­ta, Pla­gia­rism Detec­tion Using Trans­for­mers (https://www.pinecone.io/learn/plagiarism-detection/, zuletzt

abge­ru­fen am 23.7.2023).
86 Löwer, Ver­jäh­rungs­frist für Pla­gi­ats­ver­ge­hen?, For­schung & Lehre

2012, 550; dage­gen etwa Rieb­le, Pla­gi­at­ver­jäh­rung. Zur Ersit­zung des Dok­tor­gra­des, OdW 2014, 19.

Schen­ke · Pro­mo­ti­on und Wis­sen­schafts­pla­gia­te 2 1 9

220 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 209–220

Erneut führt eine Pla­gi­ats­af­fai­re aus dem poli­ti­schen Raum dazu, sich mit der Fra­ge deren Sank­tio­nie­rung, aber auch der Prä­ven­ti­on wis­sen­schaft­li­chen Fehl­verhal- tens auseinanderzusetzen.

I. Wis­sen­schafts­frei­heit des Grundgesetzes

René Des­car­tes hat als einer der ers­ten schon im 17. Jahr- hun­dert die For­de­rung auf­ge­stellt, dass mit „wis­sen- schaft­li­chen Erkennt­nis­sen das Wohl der Ande­ren zu för­dern“ sei.1 Ein Jahr­hun­dert spä­ter war es der deut­sche Alex­an­der von Hum­boldt, der mit sei­nen For­schungs- rei­sen „einen neu­en Wis­sens- und Refle­xi­ons­stand des Wis­sens von der Welt“ schuf.2

Die jetzt vom Grund­ge­setz in Art. 5 Abs. 3 GG garan- tier­te Wis­sen­schafts­frei­heit basiert ihrer­seits auf Art. 142 WRV. Die Vor­schrift über­nimmt eine zen­tra­le Rol­le im Sys­tem der grund­ge­setz­li­chen Kul­tur­ver­fass- ung.3 Geschützt ist jede wis­sen­schaft­li­che Tätig­keit un- abhän­gig von bestimm­ten Auf­fas­sun­gen und Wis­sen- schafts­theo­rien. Als Ein­griff kann des­halb schon eine Bewer­tung von For­schungs- und Lehr­leis­tun­gen ein­zu- stu­fen sein.4 Der Schutz­be­reich der Wis­sen­schafts­frei- heit umfasst auch die Leh­re als „wis­sen­schaft­lich fun- dier­te Über­mitt­lung der durch For­schung gewon­ne­nen Erkenntnisse“5, was ein aus­rei­chen­des Maß eige­ner For- schung voraussetzt.6

II. Ent­wick­lung der Guten Wissenschaft

Wel­che Qua­li­tät die­se eige­ne For­schung zu leis­ten hat­te, ist in den ver­schie­de­nen Zeit­epo­chen unter­schied­lich betrach­tet wor­den. Im Mit­tel­al­ter ist eine „Hoch­schätz- ung der Wis­sen­schaft“ (M. Fuß) zu ver­zeich­nen. Sie zu betrei­ben, galt als Pri­vi­leg und Gna­de, sie dien­te, wie

  1. 1  Dis­cours de la metho­de pour bien con­dui­re sa rai­son et cher­cher la veri­té dans les sci­en­ces, 1637, in der Über­set­zung von Lüder Gäbe, Ham­burg 1960 , VI 4.
  2. 2  Dazu Otmar Ette, Alex­an­der von Hum­boldt und die Glo­ba­li­sie- rung, 2009, S. 13.
  3. 3  Scholz in Maunz/Dürig, Grund­ge­setz, 56. ErgLfG, Art. 5 GG, Anm. 7.

4 Vgl. nur Jarass in Jarass/Pieroth, Grund­ge­setz, 12. Aufl., Art. 5 GG, Rn. 142

5 BVerfGE 35, 79, 113

Tho­mas von Aquin ent­wi­ckel­te, einem höhe­ren Zweck.7 Für Deutsch­land wird heu­te von Mar­tin Fuß8 ein ge- wis­ser Nie­der­gang der Wis­sen­schafts­kul­tur gese­hen, den er zeit­lich der Durch­set­zung des Bolo­gna-Pro­zes­ses zu- schreibt. Die­sem Pro­zess sei die „Gute Wis­sen­schaft“ ent­ge­gen­zu­set­zen. Sie über­zeu­ge in einer plu­ra­len, offen- en Gesell­schaft durch ihre Ver­nünf­tig­keit, d.h. jeder Wis­sen­schaft­ler muss sich selbst auf das besin­nen, „was das Huma­n­um, das Ver­nünf­ti­ge ausmacht“9. Zwar füh­re das zu Anfor­de­run­gen an den Wis­sen­schaft­ler, die „enorm hoch“ sind, aber dem gegen­über stün­de vice ver- sa der „Gewinn sei­ner Frei­heit als Wis­sen­schaft­ler, wenn es ihm gelingt, die­se gegen­über immer stär­ker wer­den- den äuße­ren Zugrif­fen auf die Wis­sen­schaft zu

bewahren.10
Theo­rie und Pra­xis lie­gen aus­ein­an­der. Die „Gute

Wis­sen­schaft“ sieht sich damit kon­fron­tiert, dass sich die Ansprü­che an den Ein­zel­nen und die Rah­men­be­ding- ungen für Wis­sen­schaft und For­schung in den ver­gang- enen Jahr­zehn­ten zum Teil stark ver­än­dert haben. Tho- mas Ott11 zufol­ge befin­den sich die Geis­tes­wis­sen­schaft- en, beson­ders aber die Lebens‑, Natur- und Inge­nieur- wis­sen­schaf­ten in einer „schier erbar­mungs­lo­sen, viel­schich­ti­gen und vor allem Kon­kur­renz­si­tua­ti­on“, in der sich gute Wis­sen­schaft bewe­gen müs­se, was nament- lich eine hohe Publi­ka­ti­ons­leis­tung des wis­sen­schaft­li- chen Nach­wuch­ses bedin­ge. Gefragt sind dabei in den Lebens- und Natur­wis­sen­schaf­ten vor allem Ver­öf­fent­li- chun­gen mit hohem sog. Impakt-Fak­tor, in z.B. den Zeit- schrif­ten Sci­ence und Natu­re oder, für Medi­zin, The Lan­cet oder New Eng­land Jour­nal of Medi­ci­ne. Ott zu- fol­ge war es nur eine Fra­ge der Zeit, bis sol­che Bewer- tungs­kri­te­ri­en zu wis­sen­schaft­li­chem Fehl­ver­hal­ten führe.12

Jarass, ebda, Rn. 139
7 Sum­ma con­tra Gen­ti­les, Buch I 3. Kap.: „Quis modus sit possibilis

divin­ae veri­ta­tis mani­fest­an­dae“, hrgg. und über­setzt von Karl

Albert/Paulus Engel­hardt, 1990.
8 Fuß, Auf der Suche nach dem ver­lo­re­nen Prin­zip, in: Gute Wis-

sen­schaft, hrgg. von Spieker/Manzeschke, 2017, S. 52. 9 Ebda, S.55.

10 Ebda, S.56.
11 Ott, Publish or Peri­sh“, in Spieker/Manzeschke, Fn. 8, S. 215 ff. 12 Ott, ebda S. 232.

Ulrich Rom­mel­fan­ger

Von der Guten Wis­sen­schaft zum wis­sen­schaft­li­chen Fehlverhalten

Ord­nung der Wis­sen­schaft 2023, ISSN 2197–9197

222 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 221–224

III. Unter­schied­li­che For­men wis­sen­schaft­li­chen Fehlverhaltens

Anders als im geis­tes­wis­sen­schaft­li­chen Umfeld sind die Lebens- und Natur­wis­sen­schaf­ten von wis­sen­schaft­li- chem Fehl­ver­hal­ten regel­mä­ßig im Zusam­men­hang mit gefälsch­ten bzw. miss­in­ter­pre­tier­ten Ver­suchs­stu­di­en betrof­fen. Letz­te­re Fäl­le ereig­ne­ten sich – trotz der vor Ver­öf­fent­li­chung regel­mä­ßig vor­ge­nom­me­nen anony- men, inter­na­tio­na­len Begut­ach­tung von For­schungs­er- geb­nis­sen (sog. Peer Review Pro­cess). Bei­spiel­haft dafür sind zwei Stu­di­en des Korea­ners Woo Suk Hwong zum angeb­lich erfolg­rei­chen Klo­nen embryo­na­ler Stamm­zel- len, die in den Jah­ren 2004 und 2005 in Sci­ence ver­öf- fent­licht wor­den sind. Sie waren gefälscht; die Eizel­len stamm­ten dem Ver­neh­men nach von Laborangestellten.

Soweit in der medi­zi­ni­schen For­schung Fäl­schung und Pla­gia­te vor­kom­men, wer­den sie teil­wei­se dem Um- stand zuge­schrie­ben, dass in der kli­nisch ori­en­tier­ten For­schung oft­mals sowohl eine star­ke Kon­kur­renz­si­tua- tion bestehe, als auch die Pati­en­ten­ver­sor­gung den Ärz- ten nur wenig Zeit für wis­sen­schaft­li­che Arbeit las­se. Zankl13 schil­dert vier Fall­bei­spie­le, von denen ein Fall den Bereich der Deut­schen Krebs­for­schung betrifft. An- hand der Aus­wer­tung einer im Jah­re 2010 bei 36 Medi­zi- nischen Fakul­tä­ten durch­ge­führ­ten Umfra­ge fol­gert er, dass ange­sichts der Zahl von 7265 Pro­mo­tio­nen und 8 Habi­li­ta­tio­nen „schwer­wie­gen­de Pla­gia­te an medi­zi­ni- schen Fach­be­rei­chen und Fakul­tä­ten nur sehr sel­ten vor- zukom­men“ schei­nen. Weni­ger For­schungs­er­geb­nis­se als viel­mehr die Erkennt­nis, auf Text­pla­gia­te in Ver­öf- fent­li­chun­gen zu sto­ßen, führ­ten in der Ver­gan­gen­heit im juris­ti­schen und poli­to­lo­gi­schen Wis­sen­schafts­be- reich zu Dok­tor­grad­ent­zie­hun­gen bis hin zu poli­ti­schen Rück­trit­ten und Skan­da­len. Dies ins­be­son­de­re dann, wenn sie im Zusam­men­hang mit wis­sen­schaft­li­chen Ver­öf­fent­li­chun­gen von bekann­ten Per­so­nen des öffent- lichen Lebens ste­hen. Die Pla­gi­ats­af­fä­re von zu Gut­ten- berg um die Dis­ser­ta­ti­on des frü­he­ren Ver­tei­di­gungs­mi- nis­ters („Ver­fas­sung und Ver­fas­sungs­ver­trag – Kon­sti­tu- tio­nel­le Ent­wick­lungs­stu­fen in den USA und der EU“) führ­te am 23.02.2011 zur Aberken­nung des Dr. jur.-Gra- des durch die Uni­ver­si­tät Bay­reuth und am 1.03.2011 zum Rück­tritt als Bun­des­mi­nis­ter der Verteidigung.

Der Fall war der Beginn einer Rei­he von Untersu-

13 Zankl, Pla­gia­te in der Medi­zin, in Th. Rom­mel (Hrsg.), Pla­gia­te, Gefahr für die Wis­sen­schaft?, 2011, S. 269, 284.

14 Zur Fra­ge, wie Pla­gia­te recht­lich zu behan­deln sind, was hier nur gestreift wer­den soll, sie­he aus­führ­lich Frit­sche/Wan­kerl, Das Pla­gi­at im Recht, in Rom­mel, Fn 13, S. 159 ff.

15 Kamenz, Abschaf­fung der Pla­gia­te in Deutsch­land, in Rom­mel, Fn.13, S. 87 ff.

chun­gen auf der Grund­la­ge meist der inter­net­ge­stütz­ten Unter­su­chungs­platt­form vroniplag.wiki.com und in der Fol­ge Anstoß zur Aberken­nung des Dok­tor­gra­des bei 13 vor­nehm­lich Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­kern, von Annet­te Scha­van über Bri­jan Djir-Sarai bis Sil­va­na Koch-Mehring.14

IV. Kon­trol­le der wis­sen­schaft­li­chen Arbei­ten und Forschungsergebnisse

Für Kamenz15 ist Kern­punkt einer effek­ti­ven Pla­gi­ats­ab- schaf­fung die nöti­ge Moti­va­ti­on der Pro­fes­so­ren, alle Tex­te auf Pla­gia­te hin zu unter­su­chen. Dies kön­ne durch Hil­fe­stel­lung mit einer spe­zi­el­len, ihnen zur Ver­fü­gung gestell­ten Soft­ware geschehen.

Gegen eine flä­chen­de­cken­de Pla­gi­ats­kon­trol­le spricht sich Goe­cken­jahn aus, die dar­auf hin­weist, dass damit, neben einem hohen zeit­li­chen und finan­zi­el­len Auf­wand „nur eine simp­le Pla­gi­ats­form ent­deckt wer­den könn­te, wäh­rend Über­set­zungs- und Struk­tur­pla­gia­te sowie Pa- raphra­sen und die Über­nah­me aus off­line-Quel­len uner- kannt blieben.16

Dem wider­spricht mit Ver­ve der Rechts­wis­sen­schaft- ler Vol­ker Rieb­le. In sei­ner Stu­die „Das Wis­sen­schafts- pla­gi­at“ aus dem Jah­re 2010 ent­wirft er für rechts­wis­sen- schaft­li­che Arbei­ten vor dem Hin­ter­grund von rea­len Fäl­len eine lesens­wer­te Pla­gi­ats-Phä­no­me­no­lo­gie und legt dar, dass die bis­lang erfolg­ten Abhil­fe­ver­su­che letzt- lich nicht fruchteten.

Bezo­gen auf auf­ge­deck­te Fäl­le, die in kei­ne straf- recht­li­chen Ver­fah­ren mün­de­ten, sei es regel­mä­ßig bei einer „wis­sen­schafts­kul­tu­rel­len Zurück­hal­tung“ geblie- ben.17 Ihm zufol­ge bezwe­cke das regel­mä­ßig ein­schlä­gi- ge Urhe­ber­recht nicht den Schutz der wis­sen­schaft­li­chen Red­lich­keit, als viel­mehr das Ver­wer­tungs­recht eines Werks. Der urhe­ber­recht­li­che Ver­brau­cher­schutz be- gnü­ge sich also mit der durch die Urhe­ber­be­nen­nung über­nom­me­nen „wis­sen­schaft­li­chen Ver­ant­wor­tung“ für den Text: „ein mög­li­cher ande­rer geis­ti­ger Urhe­ber blei­be dabei außen vor“.18

Letzt­lich – so Rieb­les Ein­schät­zung – füh­ren die zu- vor erwähn­ten Spe­zi­fi­ka einer Pla­gi­at­sahn­dung dazu, dass die Pla­gia­to­ren „nicht scharf ange­gan­gen wer­den“; er meint pla­ka­tiv: „Ans Leder geht es keinem“.

16 Goe­cken­jahn, „Wis­sen­schafts­be­trug“ als Straf­tat?“ in JZ 2014, 724, 732.

17 Rieb­le, Das Wis­sen­schafts­pla­gi­at. Vom Ver­sa­gen eines Sys­tems, 2010, S. 57 ff.

18 Rieb­le, ebda, S. 61 unter Rekurs auf Reh­bin­der in Fest­schrift Pedraz­zim zum 65.Geburtstag, 1990, S. 651.

Rom­mel­fan­ger · Von der Guten Wis­sen­schaft zum wis­sen­schaft­li­chen Fehl­ver­hal­ten 2 2 3

Dies effi­zi­ent zu ändern ist für Rieb­le das Gebot der Stun­de. Denn die Pla­gi­ats­ab­wehr erfolgt „halb­her­zig oder gar nicht“. Dies selbst bei auf­ge­deck­ten Pla­gia­ten, die in der Tages­pres­se the­ma­ti­siert wer­den. Es fin­de kei- ne „Selbst­rei­ni­gung“ statt. Nach­ge­wie­se­ne Pla­gia­to­ren „agie­ren unge­hemmt wei­ter als Autoren und Her­aus­ge- ber, fin­den Mit­au­toren und Verlage“19.

V. Abhil­fe

Zur Fra­ge der Abhil­fe rei­chen die Vor­schlä­ge von der Pla­gi­ats­prä­ven­ti­on bereits in der Sekun­dar­stu­fe II bei der sog. digi­ta­len Schul­ge­ne­ra­ti­on mit­tels einer Soft­ware, die jene Text­stel­len einer Arbeit, die dem Inter­net ent­nom- men wor­den sind, identifizieren20 über päd­ago­gi­sche Ansät­ze neben didak­ti­schen Inno­va­tio­nen und Wei­ter- bildung21 oder der Pro­pa­gie­rung eines erfolg­rei­chen Zusam­men­schlus­ses in For­schung und Leh­re durch einen ver­trau­ens­vol­len Umgang statt der Eta­blie­rung einer Kul­tur des Miss­trau­ens durch die Ein­füh­rung von Kontrollen22 bis zur Annah­me des Ehren­co­dex der DFG, Leit­li­ni­en zur Siche­rung guter wis­sen­schaft­li­cher Pra­xis mit ins­ge­samt 19 Leitlinien.23

In die Hoch­schul­or­ga­ni­sa­ti­on selbst weist der Ruf von Tho­mas Ott nach Ent­schleu­ni­gung und Ver­bes­se- rung der Rah­men­be­din­gun­gen für den wis­sen­schaft­li- chen Nach­wuchs in Deutsch­land durch Wie­der­be­le­bung des wis­sen­schaft­li­chen Mit­tel­baus in einer moder­nen und kom­pe­ti­ti­ven Form.24

Dass die­se Maß­nah­men geeig­net sind, die Viel­zahl von wis­sen­schaft­li­chem Fehl­ver­hal­ten ein­zu­däm­men, darf gleich­wohl bezwei­felt wer­den. Ger­hard Fröh­lich, Lehr­stuhl-Inha­ber an der Uni­ver­si­tät Linz, der als inter- natio­nal ange­se­he­ner Exper­te für Kom­mu­ni­ka­ti­on und Fehl­ver­hal­ten in der Wis­sen­schaft gilt, äußert sich sehr skeptisch:

„Sank­tio­nen erwach­sen aus die­sem Sys­tem sel­ten. Meist kom­men über­führ­te Fäl­scher mit einer Ermah- nung davon. In sel­te­nen Aus­nah­me­fäl­len dür­fen sie bei der DFG für eini­ge Jah­re kei­nen För­der­an­trag mehr stel- len. Kün­di­gung und Ent­zug der Lehr­be­fug­nis oder des aka­de­mi­schen Gra­des ste­hen zwar in den Richt­li­ni­en­pa- pie­ren, kom­men aber fast nie zum Einsatz“.25 Für Rieb­le ver­spricht nur zwei­er­lei Abhil­fe: Ausgehend

19 Ebda, S. 109.

  1. 20  Dazu Lud­wig, Pla­gi­ats­prä­ven­ti­on, in: Rom­mel, Fn. 13, S. 73 ff.
  2. 21  Alt­haus, Dis­zi­pli­nie­rung und Tea­ching Moment in: Rommel,Fn. 13, S. 100 ff.
  3. 22  Goe­cken­jahn, Fn.17.
  4. 23  https://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/rechtliche_rah-menbedingungen/gute_wissenschaftliche_praxis/kodex_gwp.pdf,

– von einem erwei­ter­ten Pla­gi­ats­be­griff, „der – anders als das Urhe­ber­recht – nicht das Opfer schützt“, wird der Täter recht­lich ins Visier genom­men. Als Autor darf sich „nur der­je­ni­ge gerie­ren, von dem der kon- kre­te wis­sen­schaft­li­che Text auch stammt“. Geschul- det ist also ein Her­kunfts­nach­weis, der durch wis- sen­schaft­lich sau­be­res Zitie­ren erfüllt wird. Ghost- wri­ting ist unzulässig.

– davon, dass auch eine stär­ke­re Ver­recht­li­chung nur dann hilft, wenn der Dienst­herr bzw. Arbeit­ge­ber der Wis­sen­schaft­ler auch tat­säch­lich Sank­tio­nen ergrei­fen, kön­ne eine „Selbst­rei­ni­gung“ der Wis­sen- schaft erfol­gen, sei es durch die wis­sen­schafts­öf­fent- liche Dis­kus­si­on der Pla­gia­te unter Nen­nung von Täter und Opfer neben expli­zi­ter Zitie­rung der betrof­fe­nen Werke.

Bei Ergrei­fung die­ser Maß­nah­men ste­he in der Tat zu erwar­ten, dass das Wahr­haf­tig­keits­ver­trau­en in der wis- sen­schaft­li­chen Gemein­schaft wie­der her­ge­stellt wird.26 Inso­weit sei auch auf das BVerwG hin­ge­wie­sen, das zur Ent­zie­hung des Dok­tor­gra­des aus­führ­te, dass zum Schutz des „…wis­sen­schaft­li­chen Pro­zes­ses vor Irre­füh- rung eine Kor­rek­tur in Form der Ent­zie­hung vor­ge­nom- men wer­den“ müsse.27

VI. Aus­blick

Ob es, wie der Hoch­schul­ver­band im Som­mer des Jah­res 2012 for­der­te, rechts­po­li­tisch rat­sam ist, einen eige­nen Straf­tat­be­stand zu schaf­fen, darf bezwei­felt wer­den. Es besteht kei­ne (Strafbarkeits-)Lücke. Die Abga­be einer eides­statt­li­chen Ver­si­che­rung, man habe die Arbeit selbst ver­fasst, ist bereits grund­sätz­lich geeig­net, eine tat- bestand­lich fal­sche Ver­si­che­rung an Eides Statt gem. § 156 StGB zu prü­fen und zu begründen.

Dem­ge­gen­über von Wis­sen­schafts­be­trug zu spre- chen, mag zwar einem land­läu­fi­gen Sprach­ge­brauch ent- spre­chen, ver­fehlt aber den jedem straf­recht­lich rele­van- ten Betrug wesens­ei­ge­nen Ver­mö­gens­scha­den. Der Be- griff des „Sport­be­trugs“ mag inso­weit „Pate ste­hen“. Der Erlan­ger Straf­recht­ler Hans Kud­lich, der sich inten­siv mit dem „Sport­be­trug“ durch Doping aus­ein­an­der­setz- te, hält eine Kri­mi­na­li­sie­rung für unge­eig­net ange­sichts der mög­li­chen denk­ba­ren Reak­tio­nen der Sportverbän-

zuletzt abge­ru­fen am 10.09.2023.
24 Ott, in: Spieker/Manzeschke, Gute Wis­sen­schaft (Fn.7), S. 231 f. 25 Aus: Sen­dung „Betrug in der Wis­sen­schaft“ von S. Bil­ling und

Petra Geist vom 25.02.2016, Deutsch­land­funk. 26 Rieb­le, ebda, S. 109 f.
27 BVerwG- 6 C 9.12 — vom 31.7.2013.

224 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 221–224

de28, womög­lich ein Gedan­ke, der sich auch im Hin­blick auf die Reak­ti­ons­fä­hig­keit des Wis­sen­schafts­be­triebs ak- tivie­ren ließe.

Da eine Eva­lua­ti­on der Erfah­run­gen mit der mitt­ler- wei­le häu­fig erfolg­ten Pro­fes­sio­na­li­sie­rung des loka­len Ombuds­we­sen eben­so noch aus­steht wie mit „red­li­chen Whist­le­b­lo­wern“, spricht bei der Wis­sen­schaft eini­ges für eine ihr affi­ne spe­zi­fi­sche Selbst­kon­trol­le im Wege z. B. der Inten­si­vie­rung und kon­se­quen­ten Durch­füh­rung der inter­nen Ver­fah­ren und einem Weni­ger des „Weg­schau­ens“.

Mit die­ser Zusam­men­stel­lung von Lite­ra­tur und Recht­spre­chung zum wis­sen­schaft­li­chen Fehl­ver­hal­ten soll es sein Bewen­den haben. Einer geson­der­ten Dar­s­tel- lung könn­te es vor­be­hal­ten blei­ben, noch der Fra­ge der Ver­schrän­kung von Poli­tik­be­ra­tung durch Wissenschaft

eben­so nach­zu­ge­hen, wie der ver­stärkt auf­tre­ten­den Fra- ge nach der in der Pra­xis bedeut­sa­men und zuneh­men- den Ver­la­ge­rung exe­ku­ti­ver Auf­ga­ben auf nicht direkt demo­kra­tisch legi­ti­mier­te Wis­sen­schaft­li­che Bei­rä­te (wie z.B. neben dem Gemein­sa­men Bun­des­aus­schuss auch den Wis­sen­schaft­li­chen Bei­rat für Psy­cho­the­ra­pie gem. § 8 PsychThG im Medizin-Bereich)29.

Prof. Dr. Ulrich Rom­mel­fan­ger ist in eige­ner Kanzlei

Fach­an­walt für Ver­wal­tungs-und Medi­zin­recht in Wies- baden.

28 Kud­lich, in: Dreier/Ohly (Hrsg.), Pla­gia­te, Wis­sen­schafts­ethik und Recht, 2013, S. 117 ff.

29 Zur demo­kra­ti­schen Legi­ti­ma­ti­on des Gemein­sa­men Bundesaus-

schus­ses aus­führ­lich Sodan/Hadank, Demo­kra­ti­sche Legi­ti­ma­ti­on des GBA, Deut­sches Insti­tut für Gesund­heits­recht, 2017.

Am 01.01.2022 ist das Gesetz zur Grün­dung der Hes­si- schen Hoch­schu­le für öffent­li­ches Manage­ment und Sicher­heit vom 30.09.2021 in Kraft getreten.1 Die­ses Gesetz bedeu­tet eine umfas­sen­de Reor­ga­ni­sa­ti­on für die Poli­zei- und Ver­wal­tungs­aus­bil­dung im Land Hes- sen (I.). Die ehe­mals als Polizeibehörde2 bestehen­de Poli­zei­aka­de­mie Hes­sen3, das bis­he­ri­ge Refe­rat Zen­tra­le Fort­bil­dung Hes­sen4 im Hes­si­schen Minis­te­ri­um des Innern und für Sport5 sowie die Hes­si­sche Hoch­schu­le für Poli­zei und Ver­wal­tung6 sind in der Hoch­schu­le für öffent- liches Manage­ment und Sicher­heit7 auf­ge­gan­gen. Für die neue HöMS hat der Lan­des­ge­setz­ge­ber eine Hoch­schul- orga­ni­sa­ti­on sui gene­ris erdacht. Der Ein­fluss der Pro­fes- soren auf die Zusam­men­set­zung der sie ver­tre­ten­den Sta­tus­grup­pe in den Hoch­schul­gre­mi­en unter­schrei­tet das ver­fas­sungs­recht­lich erfor­der­li­che Maß erheb­lich (III., 1.). Der Ein­fluss des HMdIS auf die Bestel­lung und Abbe­ru­fung der Lei­tungs­per­so­nen der HöMS schränkt das hoch­schu­li­sche Selbst­ver­wal­tungs­recht über Gebühr ein (III., 2.). Das Kura­to­ri­um der HöMS ermög­licht in ver­fas­sungs­wid­ri­ger Wei­se Ein­fluss­nah­me durch staats- nahe Akteu­re (III., 3.). In der Gesamt­schau ste­hen zahl- rei­che orga­ni­sa­ti­ons­recht­li­che Vor­schrif­ten des Geset­zes zur Grün­dung der HöMS im Wider­spruch mit dem lan- des­ver­fas­sungs­recht­lich garan­tier­ten Selbst­ver­wal­tungs- recht der Hoch­schu­len (II., 2.) sowie der Wis­sen­schafts- frei­heit (II., 3.). Es ist zu erwar­ten, dass der Lan­des­ge- setz­ge­ber das Orga­ni­sa­ti­ons­recht der HöMS – spä­tes­tens nach einer Ent­schei­dung des Hes­si­schen Staats­ge­richts- hofs in einem lau­fen­den Normenkontrollverfahren8 – wird modi­fi­zie­ren müs­sen. Sinn­voll erscheint im Grund- satz eine Aus­ge­stal­tung als Hoch­schu­le für ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 3 HessHG (IV.).

  1. 1  GVBl. 2021, S. 622; berich­tigt durch GVBl. 2021, S. 675; abwei- chend sind Art. 1 und 4 Nr. 2 des Geset­zes gemäß Art. 10 Satz 2 des Geset­zes bereits am Tag nach der Ver­kün­dung – dem 12.10.2021 – in Kraft getre­ten; sie­he außer­dem das Gesetz zur Neu­re­ge­lung und Ände­rung hoch­schul­recht­li­cher Vor­schrif­ten und zur Anpas­sung wei­te­rer Rechts­vor­schrif­ten vom 14.12.2021, GVBl. 2021, S. 931.
  2. 2  § 91 Abs. 2 Nr. 2 lit. e HSOG i.d.F. vom 23.08.2018.
  3. 3  Im Fol­gen­den: HPA.

4 Im Fol­gen­den: ZFH.
5 Im Fol­gen­den: HMdIS.

6 Im Fol­gen­den HfPV.
7 Im Fol­gen­den: HöMS.

I. Grün­dungs­ge­schich­te der HöMS

1. Orga­ni­sa­ti­on der Poli­zei- und Ver­wal­tungs­aus­bil­dung bis zum 31.12.2021

Bis zum 31.12.2021 war die aka­de­mi­sche und prak­ti­sche Aus­bil­dung, ins­be­son­de­re der Anwär­ter für den Poli­zei- voll­zugs­dienst, nahe­zu voll­stän­dig an der HfPV als nicht-rechts­fä­hi­ger Anstalt des Lan­des Hes­sen ange­sie- delt.9 Die Anwär­ter erlang­ten etwa „unter Beach­tung der ein­schlä­gi­gen Dienst­vor­schrif­ten prak­ti­sche Kennt­nis­se über Waf­fen, Gerät und das Schießen“10. Sie soll­ten „die dienst­lich zuge­las­se­nen Schuss­waf­fen sicher und schnell hand­ha­ben, treff­si­cher schie­ßen sowie auf­tre­ten­de Stö- run­gen erken­nen und fol­ge­rich­tig han­deln können“11. In aka­de­mi­scher Hin­sicht beinhal­te­te die Aus­bil­dung z.B. das Modul S 1.2 „Poli­zei in Staat und Gesell­schaft“, des- sen Inhal­te die Ver­fas­sung und der Rechts­staat sowie das Beam­ten­ver­hält­nis waren.12 Die HPA fun­gier­te – im Gegen­satz zur HfPV als Stät­te erst­ma­li­ger Aus­bil­dung – vor allem als Fort- und Wei­ter­bil­dungs­stät­te für die Poli- zei des Lan­des Hes­sen. Fer­ner war der Zen­tra­le Poli­zei- psy­cho­lo­gi­sche Dienst an der HPA ange­sie­delt. Anwär- ter begeg­ne­ten der HPA als Ein­stel­lungs­be­hör­de sowie, für den Zeit­raum ihrer Aus­bil­dung, als Dienst­her­rin i.S.v. § 2 HBG, § 2 BeamtStG. Die ZFH war, wie die HPA, in der Fort- und Wei­ter­bil­dung aktiv. Aller­dings rich­te- ten sich die Ange­bo­te der ZFH nicht aus­schließ­lich an die Poli­zei, son­dern an alle Lan­des­be­diens­te­ten. Zum Bei­spiel kon­zi­pier­te und orga­ni­sier­te die ZFH die Füh- rungsfortbildung.13

Nicht nur orga­ni­sa­to­risch, son­dern auch hin­sicht­lich der Rechts­set­zung waren die hoch­schu­li­schen und poli- zei­li­chen Auf­ga­ben der Aus- und Fortbildungsstätten

8 Hess­StGH, P.St. 2891.
9 §§ 1 Abs. 3, 2 Abs. 1 Satz 1 VerwFHG a.F. vom 28.09.2015.
10 Modul­buch für den Stu­di­en­gang Bache­lor of Arts „Schutz­po­li­zei“

der HfPV vom 20.09.2016, S. 30.
11 Modul­buch für den Stu­di­en­gang Bache­lor of Arts „Schutz­po­li­zei“

der HfPV vom 20.09.2016, S. 30.
12 Modul­buch für den Stu­di­en­gang Bache­lor of Arts „Schutz­po­li­zei“

der HfPV vom 20.09.2016, S. 15.
13 Fort­bil­dungs­kon­zept 2018 für die Hes­si­sche Landesverwaltung,

Erlass vom 25.08.2017 (StAnz. 37/2017, S. 876); berich­tigt durch Fort­bil­dungs­kon­zept 2018 für die Hes­si­sche Lan­des­ver­wal­tung, Erlass vom 15.09.2017 (StAnz. 40/2017, S. 951).

Samu­el Weitz

Die neue Hes­si­sche Hoch­schu­le für öffent­li­ches Ma- nage­ment und Sicher­heit: Hoch­schul­or­ga­ni­sa­ti­on sui gene­ris – auf Kos­ten der Wissenschaftsfreiheit

Ord­nung der Wis­sen­schaft 2023, ISSN 2197–9197

226 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 225–234

von Poli­zei und Ver­wal­tung im Land Hes­sen bis zum 31.12.2021 klar getrennt: Die Bestim­mun­gen über die HfPV waren im VerwFHG nor­miert, die der HPA im HSOG und die der ZFH u.a. in einem minis­te­ri­el­len Erlass14.

2. Reform­be­stre­bun­gen und Gesetzentwürfe

Der poli­ti­sche Wil­le, die drei Aus- und Fort­bil­dungs­stät- ten HfPV, HPA und ZFH zusam­men­zu­füh­ren, wur­zelt im Koali­ti­ons­ver­trag zwi­schen der CDU Hes­sen und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hes­sen vom 23.12.2013 für die 19. Wahl­pe­ri­ode des Hes­si­schen Land­tags. Die Koali- tions­part­ner hat­ten ver­ein­bart, „die Ein­bin­dung der Ver- wal­tungs­fach­hoch­schu­len des Lan­des in das Wis­sen- schafts­sys­tem [zu] stärken“15. Kon­kre­ter fass­ten die glei- chen­Ko­ali­ti­ons­part­ne­rihr­Vor­ha­be­nim­nächs­ten­Ko­ali- tions­ver­trag vom 23.12.2018 für die 20. Wahl­pe­ri­ode des Hes­si­schen Land­tags: Sie „wol­len […] eine[r] Ver­wal- tungs­fach­hoch­schu­le schaf­fen, in der auch HfPV, HPA und die Zen­tra­le Fort­bil­dung aufgehen“16. Mehr als sie- ben Jah­re nach der erst­ma­li­gen Erwäh­nung in einem Koali­ti­ons­ver­trag leg­te die hes­si­sche Lan­des­re­gie­rung am 10.05.2021 schließ­lich den ers­ten Gesetz­ent­wurf zur Grün­dung der HöMS vor.17

Mit der Grün­dung der HöMS hat die hes­si­sche Lan- des­re­gie­rung im Wesent­li­chen drei Zie­le ver­folgt: Ers- tens soll­te die Nach­wuchs­ge­win­nung für Poli­zei und Ver­wal­tung geför­dert werden.18 Zwei­tens soll­ten Syner- gien zwi­schen aka­de­mi­schen und prak­ti­schen Aspek­ten der Poli­zei­aus­bil­dung geho­ben werden.19 Drit­tens beab- sich­tig­te die Lan­des­re­gie­rung die Stär­kung des Wissen-

14 Fort­bil­dungs­kon­zept 2018 für die Hes­si­sche Lan­des­ver­wal­tung, Erlass vom 25.08.2017 (StAnz. 37/2017, S. 876); berich­tigt durch Fort­bil­dungs­kon­zept 2018 für die Hes­si­sche Lan­des­ver­wal­tung, Erlass vom 15.09.2017 (StAnz. 40/2017, S. 951).

15 Koali­ti­ons­ver­trag zwi­schen der CDU Hes­sen und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Hes­sen für die 19. Wahl­pe­ri­ode des Hes­si­schen Land­tags vom 23.12.2013, S. 72, Rn. 3377 f.

16 Koali­ti­ons­ver­trag zwi­schen der CDU Hes­sen und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Hes­sen für die 20. Wahl­pe­ri­ode des Hes­si­schen Land­tags vom 23.12.2018, S. 135.

17 LT-Drs. 20/5722.
18 LT-Drs. 20/5722, S. 19. 19 LT-Drs. 20/5722, S. 19.

  1. 20  LT-Drs. 20/5722, S. 19.
  2. 21  v. Beben­burg, Gie­ße­ner All­ge­mei­ne, Sor­ge um Frei­heit der Wis­sen-schaft, 04.08.2021, https://www.giessener-allgemeine.de/hessen/ sor­ge-um- freiheit-der-wissenschaft-90902481.html [zuletzt abge­ru­fen am 14.08.2023]; Ogo­rek, Legal Tri­bu­ne Online, Reform der Hes­si­schen Poli­zei­hoch­schu­le: Mehr Wis­sen­schaft wagen, 20.08.2021, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/reform- hoch­schu­le-fuer-poli­zei-und-ver­wal­tung-hes­sen-gesetz­ent­wurf- ver­fas­sungs­recht-tren­nung-rechts­auf­sicht-fach­auf­sicht-selbst­ver- waltung/ [zuletzt abge­ru­fen am 14.08.2023].
  3. 22  Aus­schuss­vor­la­ge INA 20/35, WKA 20/25, Stel­lung­nah­men der Anzu­hö­ren­den zur gemein­sa­men münd­li­chen Anhö­rung des

schafts­sys­tems in Hessen.20 Dass die­se heh­ren Zie­le durch das Gesetz zur Grün­dung der HöMS nicht zu er- rei­chen sein wer­den, ist mehr Poli­ti­kum als Rechts­fra­ge. Ver­fas­sungs­recht­lich viru­lent ist viel­mehr das hoch- schul­or­ga­ni­sa­to­ri­sche Gefü­ge der HöMS.

Sowohl in den Medien21 als auch in den Stel­lung­nah­men der Sach­ver­stän­di­gen im Rah­men der gemein­sa­men Anhö­rung von Innen­aus­schuss und Aus­schuss für Wis- sen­schaft und Kunst des Hes­si­schen Landtags22 wur­de der Gesetz­ent­wurf vom 10.05.2021 deut­lich kri­ti­siert und viel­fach als ver­fas­sungs­wid­rig bezeich­net. Zu die­sem Urteil kamen die Sach­ver­stän­di­gen ins­be­son­de­re, weil sie das hoch­schu­li­sche Selbst­ver­wal­tungs­recht und die Wis­sen­schafts­frei­heit ver­letzt sahen.23 Infol­ge­des­sen haben die Regie­rungs­frak­tio­nen von CDU und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN den Gesetz­ent­wurf vom 10.05.2021 gering­fü­gig modi­fi­ziert und am 15.09.2021 einen ent­spre­chen­den Ände­rungs­an­trag im Hes­si­schen Land­tag eingebracht.24 Dort wur­de das Gesetz zur Grün- dung der HöMS schließ­lich am 30.09.2021 beschlos- sen.25 Die wesent­li­chen Vor­schrif­ten die­ses Geset­zes sind am 01.01.2022 in Kraft getre­ten und haben die – auch nach dem Nach­jus­tie­ren qua Ände­rungs­an­trag – fun­da­men­ta­ler Kritik26 aus­ge­setz­te Grün­dung der HöMS besiegelt.

3. Sta­tus quo

Die HöMS ist eine Hybri­de. Sie ist eine rechts­fä­hi­ge Kör- per­schaft des öffent­li­chen Rechts (§ 1 HessHG) und zugleich – bei Erfül­lung ihrer poli­zei­li­chen Auf­ga­ben – eine Poli­zei­be­hör­de (§ 91 Abs. 2 Nr. 2 lit. e HSOG). Zum

Innen­aus­schus­ses und des Aus­schus­ses für Wis­sen­schaft und Kunst zum Ent­wurf der hes­si­schen Lan­des­re­gie­rung für ein Ge- setz zur Grün­dung der HöMS (LT-Drs. 20/5722), 08.07.2021 und 14.07.2021; Ste­no­gra­fi­scher Bericht INA 20/46, WKA 20/29, Öf- fent­li­che Anhö­rung des Innen­aus­schus­ses und des Aus­schus­ses für Wis­sen­schaft und Kunst zum Ent­wurf der hes­si­schen Lan­des­re­gie- rung für ein Gesetz zur Grün­dung der HöMS (LT-Drs. 20/5722), 15.07.2021.

23 Z.B. Feh­ling, in: Ste­no­gra­fi­scher Bericht INA 20/46, WKA 20/29, Öffent­li­che Anhö­rung des Innen­aus­schus­ses und des Aus­schus- ses für Wis­sen­schaft und Kunst zum Ent­wurf der hes­si­schen Lan­des­re­gie­rung für ein Gesetz zur Grün­dung der HöMS (LT-Drs. 20/5722), 15.07.2021, S. 13.

24 LT-Drs. 20/6389.
25 GVBl. 2021, S. 622; berich­tigt durch GVBl. 2021, S. 675; sie­he auch

das Gesetz zur Neu­re­ge­lung und Ände­rung hoch­schul­recht­li­cher Vor­schrif­ten und zur Anpas­sung wei­te­rer Rechts­vor­schrif­ten vom 14.12.2021, GVBl. 2021, S. 931.

26 Z.B. Ogo­rek, Hes­si­sche Hoch­schu­le für öffent­li­ches Manage­ment und Sicher­heit: Ver­pass­te Chan­cen, geschwäch­te Wis­sen­schaft, DP 2022, 89; v. Beben­burg, Frank­fur­ter Rund­schau, Neue hes­si­sche Hoch­schu­le stößt auf mas­si­ve Kri­tik, 01.10.2021, https://www.fr.de/ rhein-main/­lan­des­po­li­ti­k/­neue-hes­si­sche-hoch­schu­le-stoesst-auf- massive-kritik-91027133.html [zuletzt abge­ru­fen am 14.08.2023].

Weitz · Die neue Hes­si­sche Hoch­schu­le für öffent­li­ches Manage­ment und Sicher­heit 2 2 7

einen ist die HöMS in den Fach­be­rei­chen Poli­zei und Ver­wal­tung zustän­dig für die Aus- und Fort­bil­dung des Nach­wuch­ses des geho­be­nen all­ge­mei­nen Ver­wal­tungs- diens­tes und des geho­be­nen Poli­zei­voll­zugs­diens­tes sowie der zur Aus­bil­dung für den geho­be­nen all­ge­mei- nen Ver­wal­tungs­dienst zuge­las­se­nen Tarif­be­schäf­tig­ten des Lan­des, der Gemein­den, Gemein­de­ver­bän­de und sons­ti­gen der Auf­sicht des Lan­des unter­ste­hen­den Kör- per­schaf­ten, Anstal­ten und Stif­tun­gen des öffent­li­chen Rechts (§ 4 Abs. 5 Satz 1 HessHG). Zum ande­ren über- nimmt die HöMS als Auf­trags­an­ge­le­gen­heit die Zen­tra­le Fort­bil­dung der Beschäf­tig­ten der hes­si­schen Lan­des- ver­wal­tung (§ 101 Abs. 2 HessHG). Zu den poli­zei­li­chen Auf­ga­ben der HöMS gemäß § 95 Abs. 2 HSOG zäh­len wie­der­um z.B. die poli­zei­li­che Aus- und Fort­bil­dung aller Poli­zei­be­diens­te­ten des Lan­des bis auf die beruf­li- che Grund­qua­li­fi­zie­rung des geho­be­nen Diens­tes sowie – ab dem 01.11.2023 – die Aus- und Fort­bil­dung der Spe- zial­ein­hei­ten (Nr. 1). Fer­ner leis­tet die HöMS gemäß § 95 Abs. 2 HSOG poli­zei­psy­cho­lo­gi­sche Diens­te (Nr. 4) und ist ver­ant­wort­lich für das Nach­wuchs­ma­nage­ment sowie die Ein­stel­lung von Poli­zei­an­wär­te­rin­nen und ‑anwär­tern (Nr. 2).

Nach­dem­scho­nim­Ge­setz­ge­bungs­ver­fah­renZwei­fel an der Ver­ein­bar­keit des Geset­zes mit Art. 60 Abs. 1 Satz 2 und Art. 10 Hess­Verf auf­ge­kom­men waren, ini­ti- ier­ten die Oppo­si­ti­ons­frak­tio­nen von SPD und FDP im Hes­si­schen Land­tag nach Inkraft­tre­ten des Geset- zes ein abs­trak­tes Nor­men­kon­troll­ver­fah­ren gemäß Art. 132 Hess­Verf i.V.m. §§ 39, 40 StGHG. Sie bean­trag- ten die Fest­stel­lung, dass ein­zel­ne Vor­schrif­ten, die die Orga­ni­sa­ti­on der HöMS betref­fen, mit der Hess­Verf im Wider­spruch ste­hen und nich­tig sind.27 Mit einer Ent- schei­dung des Hes­si­schen Staats­ge­richts­hofs ist im Lau­fe der kom­men­den Mona­te zu rechnen.

II. Ver­fas­sungs­recht­li­che Grundlagen

1. Ver­fas­sung des Lan­des Hes­sen als Prüfungsmaßstab

a) Rele­van­tes Landesverfassungsrecht

Gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 2 Hess­Verf haben die Uni­ver- sitä­ten und staat­li­chen Hoch­schu­len das Recht der Selbst­ver­wal­tung, an der die Stu­die­ren­den zu beteiligen

27 Hess­StGH, P.St. 2891.
28 Rupp, in: Selbst­ver­wal­tung im Staat der Indus­trie­ge­sell­schaft (FS

Unruh), 1983, S. 919, 920; Hil­ler­mann, Die Durch­set­zung des Hoch­schul­selbst­ver­wal­tungs­rechts vor dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge- richt und den Lan­des­ver­fas­sungs­ge­rich­ten, 2000, S. 57, 70.

29 Sie­he Art. 28 Abs. 1 Thür­Verf, Art. 107 Abs. 2 Satz 2 Sächs­Verf, Art. 39 Abs. 1 Satz 2 RhPf­Verf, Art. 33 Abs. 2 Satz 2 Saarl­Verf, Art. 138 Abs. 2 Satz 2 Bay­Verf, Art. 32 Abs. 1 BdbgVerf.

sind. Art. 10 Hess­Verf garan­tiert die Wis­sen­schafts­frei- heit: Nie­mand darf in sei­nem wis­sen­schaft­li­chen Schaf- fen und in der Ver­brei­tung sei­ner Wer­ke gehin­dert wer- den. Art. 10 Hess­Verf und Art. 60 Abs. 1 Satz 2 Hess­Verf ste­hen in einem engen inhalt­li­chen Zusam­men­hang: Das hoch­schu­li­sche Selbst­ver­wal­tungs­recht ist eine spe- ziel­le Aus­prä­gung der Frei­heit von Wis­sen­schaft, For- schung und Leh­re. Das Selbst­ver­wal­tungs­recht soll die- sen Frei­hei­ten zur Ent­fal­tung ver­hel­fen und dient den Hoch­schu­len zur Wah­rung ihrer Autonomie.28

Dass das hoch­schu­li­sche Selbst­ver­wal­tungs­recht nicht als Teil der Wis­sen­schafts­frei­heit ver­stan­den, son- dern eigen­stän­dig im Wort­laut der Ver­fas­sung garan­tiert wird, ist kein hes­si­sches Spe­zi­fi­kum. Mit Aus­nah­me der Bun­des­län­der Ber­lin, Ham­burg, Bre­men und Schles­wig- Hol­stein ent­hal­ten alle Lan­des­ver­fas­sun­gen eine Norm, die – wie Art. 60 Hess­Verf – grund­le­gend die ver­fas- sungs­recht­li­che Stel­lung von Hoch­schu­len regelt. Kon- kret das hoch­schu­li­sche Selbst­ver­wal­tungs­recht hat in zwölf Bun­des­län­dern aus­drück­lich Ver­fas­sungs­rang, z.B. gemäß Art. 20 BWVerf, Art. 138 Bay­Verf, Art. 5 Abs. 3 Nds­Verf sowie Art. 16 NRW­Verf. Die Betei- ligung der Stu­die­ren­den an der hoch­schu­li­schen Selbst- ver­wal­tung schrei­ben neben dem Land Hes­sen (Art. 60 Abs. 1 Satz 2 Hs. 2 Hess­Verf) sechs wei­te­re Bun- des­län­der in unter­schied­li­chem Umfang fest.29

b) Ver­hält­nis von Hess­Verf und GG

Auf Bun­des­ebe­ne ist die ver­fas­sungs­recht­li­che Stel­lung von Hoch­schu­len – anders als die Wis­sen­schafts­frei­heit i.S.v. Art. 10 Hess­Verf – im Wort­laut der Ver­fas­sung nicht aus­drück­lich fest­ge­schrie­ben. Es exis­tiert kei­ne Art. 60 Hess­Verf unmit­tel­bar ent­spre­chen­de Norm im GG.30 Die Frei­heit von Kunst und Wis­sen­schaft sowie For­schung und Leh­re ist in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nor- miert – ohne die hoch­schu­li­sche Per­spek­ti­ve auf Wis­sen- schaft geson­dert zu adres­sie­ren. Art. 5 Abs. 3 GG ent­hält neben dem indi­vi­du­el­len Wis­sen­schafts­frei­heits­recht aller­dings auch eine objek­ti­ve Wert­ord­nung: Es han­delt sich um eine „das Ver­hält­nis von Wis­sen­schaft, For- schung und Leh­re zum Staat regeln­de wert­ent­schei­den- de Grundsatznorm“31, die somit auch die hoch­schu­li­sche Selbst­ver­wal­tung betrifft.32

30 Meis­ter, in: PdK – Hes­sen, Ver­fas­sung des Lan­des Hes­sen, 7. Fas- sung 2020, Art. 60 Rn. 1.

31 BVerwG 25.11.1977 – VII C 25.76 – BVerw­GE 55, 73, Rn. 11 ff.; vgl. auch BVerfG 29.05.1973 – 1 BvR 424/71 – BVerfGE 35, 79, Ls. 2.

32 Kem­pen, in: Beck­OK GG, 55. Edi­ti­on vom 15.05.2023, Art. 5 Rn. 188; Hil­ler­mann, Die Durch­set­zung des Hoch­schul­selbst­ver­wal- tungs­rechts vor dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt und den Lan­des- ver­fas­sungs­ge­rich­ten, 2000, S. 107 ff. m.w.N.

228 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 225–234

Grund­sätz­lich wird Lan­des­recht gemäß Art. 31 GG durch Bun­des­recht gebro­chen. Aus­nahms­wei­se blei­ben gemäß Art. 142 GG Bestim­mun­gen der Lan­des­ver­fas- sun­gen inso­weit in Kraft, als sie in Über­ein­stim­mung mit Art. 1–18 GG Grund­rech­te gewährleisten.33 Zwar er- scheint die Gewähr­leis­tung des hoch­schu­li­schen Selbst- ver­wal­tungs­rechts in den Lan­des­ver­fas­sun­gen dem Bun- des­ver­fas­sungs­ge­richt „dort neben der Garan­tie der Wis­sen­schafts­frei­heit als etwas Zusätzliches“34. Gleich- wohl fol­gert das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt aus Art. 5 Abs. 3 GG das ver­fas­sungs­recht­li­che Gebot mög- lichst frei­heit­li­cher Struk­tu­ren an Hochschulen35 und hält für ver­fas­sungs­recht­lich erfor­der­lich, dass der Ge- setz­ge­ber ein „hin­rei­chen­des Maß an orga­ni­sa­to­ri­scher Selbst­be­stim­mung der Grund­rechts­trä­ger sicherstellt“.36 Die bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt­li­che Inter­pre­ta­ti­on der grund­ge­setz­li­chen Wis­sen­schafts­frei­heit lässt den Schluss zu, dass das hoch­schu­li­sche Selbst­ver­wal­tungs- recht aus Art. 60 Abs. 1 Satz 2 Hess­Verf sämt­lich Art. 5 Abs. 3 GG impli­zit zu ent­neh­men ist.37 Zwi­schen Art. 60 Abs. 1 Satz 2 Hess­Verf einer­seits sowie Art. 5 Abs. 3 GG ande­rer­seits besteht folg­lich zwar kei­ne Text­i­den­ti­tät, aber das erfor­der­li­che „Min­dest­maß an Homogenität“38, also Über­ein­stim­mung i.S.v. Art. 142 GG. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 Hess­Verf ist vom Gel- tungs­vor­rang des Bun­des­rechts unbe­rührt und in Kraft.39 Glei­ches gilt für Art. 10 Hess­Verf, der in Über- stim­mung mit Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG die Wis­sen­schafts- frei­heit gewährleistet.40

2. Art. 60 Abs. 1 HessVerf

a) Insti­tu­tio­nel­le Garan­tie der Hochschulen

Art. 60 Abs. 1 Hess­Verf stellt die Uni­ver­si­tä­ten und staat- lichen Hoch­schu­len unter den Schutz, aber auch unter die Auf­sicht des Staa­tes und räumt ihnen das Recht der

33 Zu Art. 142 GG im Kon­text der Hess­Verf Hess­StGH 30.12.1981 – P.St. 880 – NJW 1982, 1381; Schrodt, Die Recht­spre­chung des Hes- sischen Staats­ge­richts­hofs zu den Grund­rech­ten der Hes­si­schen Ver­fas­sung, 1984, S. 9.

34 BVerfG 29.05.1973 – 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 – BVerfGE 35, 79, 120.

35 BVerfG 29.05.1973 – 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 – BVerfGE 35, 79, 123 f.

36 BVerfG 20.07.2010 – 1 BvR 748/06 – BVerfGE 127, 87, 116.
37 So all­ge­mein in Bezug auf die Lan­des­ver­fas­sun­gen auch Kem­pen,

in: Beck­OK GG, 55. Edi­ti­on vom 15.05.2023, Art. 5 Rn. 192; zurück­hal­ten­der in Bezug auf NRW­Verf Gün­ther, in: Heusch/ Schö­nen­broi­cher (Hrsg.) NRW­Verf, 2. Auf­la­ge 2019, Art. 16 Rn. 6; dif­fe­ren­ziert Gär­ditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Bd. I, 100. EL Janu­ar 2023, Art. 5 Abs. 3 Rn. 274; a.A. wohl Hil­ler­mann, Die Durch­set­zung des Hoch­schul­selbst­ver­wal­tungs­rechts vor dem

Selbst­ver­wal­tung unter Betei­li­gung der Stu­die­ren­den ein. Art. 60 Abs. 1 Satz 1 Hess­Verf beinhal­tet eine insti­tu- tio­nel­le Gewähr­leis­tung von staat­li­chen Hochschulen.41 Der Ver­fas­sungs­ge­setz­ge­ber garan­tiert ihr Fort­be­stehen als orga­ni­sa­to­ri­sche Insti­tu­ti­on – ohne das Fort­be­stehen ein­zel­ner Hoch­schu­len indi­vi­du­ell zuzu­si­chern. Aus die­ser insti­tu­tio­nel­len Garan­tie folgt ein Abwehr- recht der Hoch­schu­len bei unge­recht­fer­tig­ten Ein- grif­fen in ihren Rechtsbestand.42 Ande­rer­seits gibt Art. 60 Abs. 1 Satz 1 Hess­Verf dem Lan­des­ge­setz­ge­ber gera­de auf, wis­sen­schafts­re­le­van­te Gemein­wohl­be­lan­ge im Hoch­schul­sys­tem einer sich wan­deln­den Gesell­schaft fort­wäh­rend neu zu defi­nie­ren und in Gestalt von Orga- nisa­ti­ons- und Ver­fah­rens­re­ge­lun­gen abwä­gend zur Gel- tung zu bringen.43 Der Lan­des­ge­setz­ge­ber muss die Hoch­schu­len also – auch hin­sicht­lich ihrer Bin­nen­struk- tur – regel­mä­ßig den Zeit­be­dürf­nis­sen anpas­sen. Hier- bei hat der Lan­des­ge­setz­ge­ber grund­sätz­lich einen gro- ßen hoch­schul­or­ga­ni­sa­to­ri­schen Spielraum:

„Solan­ge der Gesetz­ge­ber ein […] hin­rei­chen­des Maß an orga­ni­sa­to­ri­scher Selbst­be­stim­mung der Grund- rechts­trä­ger sicher­stellt, ist er frei, den Wis­sen­schafts- betrieb nach sei­nem Ermes­sen zu regeln, um die unter- schied­li­chen Auf­ga­ben der Wis­sen­schafts­ein­rich­tun­gen und die Inter­es­sen aller dar­an Betei­lig­ten in Wahr­neh- mung sei­ner gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Ver­ant­wor­tung in ange­mes­se­nen Aus­gleich zu brin­gen […]. Er ist dabei nicht an über­kom­me­ne hoch­schul­or­ga­ni­sa­to­ri­sche Struk­tu­ren gebun­den. Er darf neue Model­le und Steu- erungs­tech­ni­ken ent­wi­ckeln und erpro­ben und ist so- gar ver­pflich­tet, bis­he­ri­ge Orga­ni­sa­ti­ons­for­men zu be- obach­ten und zeit­ge­mäß zu refor­mie­ren […]. Ihm ste- hen dabei gera­de hin­sicht­lich der Eig­nung neu­er Orga- nisa­ti­ons­for­men ein Ein­schät­zungs- und Pro­gno­se­spiel­raum zu.“44

Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt und den Landesverfassungsgerichten,

2000, S. 131 f.
38 BVerfG 29.01.1974 – 2 BvN 1/69 – BVerfGE 36, 342, 361.
39 Ger­mann, in: Beck­OK GG, 55. Edi­ti­on vom 15.05.2023, Art. 142 Rn.

15–24.
40 Stein, in: Zinn/Stein (Begr.), Ver­fas­sung des Lan­des Hes­sen, 16.

EGL, 1999, Bd. I, Art. 10 Anm. 1; Kal­lert, in: PdK – Hes­sen, Verfas-

sung des Lan­des Hes­sen, 7. Fas­sung 2020, Art. 10 Rn. 1.
41 Stein, in: Zinn/Stein (Begr.), Ver­fas­sung des Lan­des Hes­sen, 16.

EGL, 1999, Bd. I, Art. 60 Anm. 2.
42 In Bezug auf die par­al­le­le Vor­schrift in der NRW­Verf Löwer, in:

Löwer/Tettinger (Hrsg.) NRW­Verf, Art. 16 Rn. 21.
43 Feh­ling, Neu­or­ga­ni­sa­ti­on der Poli­zei­hoch­schu­len und Wissen-

schafts­frei­heit, OdW 2014, 113, 117.
44 BVerfG 20.07.2010 – 1 BvR 748/06 – BVerfGE 127, 87, Rn. 116

m.w.N.

Weitz · Die neue Hes­si­sche Hoch­schu­le für öffent­li­ches Manage­ment und Sicher­heit 2 2 9

b) Hoch­schu­li­sches Selbstverwaltungsrecht

Das Recht des Gesetz­ge­bers, die Hoch­schul- orga­ni­sa­ti­on aus­zu­ge­stal­ten, endet dort, wo das hoch­schu­li­sche Selbst­ver­wal­tungs­recht gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 2 Hess­Verf beginnt. Der Begriff Selbst- ver­wal­tungs­recht ist ver­fas­sungs­recht­lich nicht all­ge- mein­gül­tig zu definieren.45 Selbst­ver­wal­tung im Recht ist viel­mehr kon­text­ab­hän­gig und im Lich­te des jewei­li- gen Rege­lungs­zu­sam­men­hangs zu interpretieren.46 Bei Art. 60 Abs. 1 Satz 2 Hess­Verf han­delt es sich – wegen der funk­tio­na­len Bezü­ge zu For­schung und Leh­re – um ein auf die aka­de­mi­schen Ange­le­gen­hei­ten beschränk­tes Selbstverwaltungsrecht.47 Aka­de­mi­sche Ange­le­gen­hei- ten sind sol­che, die zum „Kernbereich“48 des Uner­läss­li- chen für eine freie wis­sen­schaft­li­che Betä­ti­gung der Hoch­schu­len zäh­len. Hier­zu zählt ins­be­son­de­re das Orga­ni­sa­ti­ons­recht der Hoch­schu­len. Indem der Ver­fas- sungs­ge­setz­ge­ber den Hoch­schu­len ihre Selbst­ver­wal- tung zuge­steht, ver­zich­tet er auf staats­ei­ge­ne Wis­sen- schaftsverwaltung.49 Die Schwel­le zur ver­fas­sungs­wid­ri- gen Wis­sen­schafts­ver­wal­tung ist über­schrit­ten, wenn die freie wis­sen­schaft­li­che Betä­ti­gung struk­tu­rell durch das hoch­schul­or­ga­ni­sa­to­ri­sche Gesamt­ge­fü­ge gefähr­det ist.50 Wegen des sen­si­blen Rege­lungs­ge­gen­stands der Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­ti­on hat der Gesetz­ge­ber bei der Aus­ge­stal­tung des Hoch­schul­or­ga­ni­sa­ti­ons­rechts bereits grund­recht­li­che Gefähr­dungs­la­gen zu vermeiden.51 Eine bloß hypo­the­ti­sche struk­tu­rel­le Gefähr­dung der frei­en wis­sen­schaft­li­chen Betä­ti­gung reicht gleich­wohl nicht aus, um einen Ver­fas­sungs­ver­stoß zu begrün­den – schließ­lich wir­ken sich die meis­ten hoch­schul­or­ga­ni­sa- tori­schen Ent­schei­dun­gen zumin­dest mit­tel­bar auf das wis­sen­schaft­li­che Wir­ken aus.52

Art. 60 Abs. 1 Satz 2 Hess­Verf schützt alles, was aus orga­ni­sa­to­ri­scher Sicht uner­läss­lich ist, um die Wis­sen- schafts­frei­heit im hoch­schu­li­schen Rah­men auf­recht­zu- erhal­ten: „Die Siche­rung der Wis­sen­schafts­frei­heit durch orga­ni­sa­to­ri­sche Rege­lun­gen ver­langt […], dass die Trä- ger der Wis­sen­schafts­frei­heit durch ihre Ver­tre­ter in

45 Im Kon­text von Art. 28 Abs. 2 GG BVerwG 27.08.1976 – IV C 97.74 – BVerw­GE 51, 115.

46 Gär­ditz, Hoch­schul­or­ga­ni­sa­ti­on und ver­wal­tungs­recht­li­che Sys- tem­bil­dung, 2009, S. 392.

47 Stein, in: Zinn/Stein (Begr.), Ver­fas­sung des Lan­des Hes­sen, 16. EGL, 1999, Bd. I, Art. 60 Anm. 2; Meis­ter, in: PdK – Hes­sen, Ver- fas­sung des Lan­des Hes­sen, 7. Fas­sung 2020, Art. 60 Rn. 1.

48 Statt vie­ler BVerfG 29.05.1973 – 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 – BVerfGE 35, 79.

49 Stein, in: Zinn/Stein (Begr.), Ver­fas­sung des Lan­des Hes­sen, 16. EGL, 1999, Bd. I, Art. 60, Anm. 3.

50 Feh­ling, Neu­or­ga­ni­sa­ti­on der Poli­zei­hoch­schu­len und Wis­sen- schafts­frei­heit, OdW 2014, 113, 117.

Hoch­schul­or­ga­nen Gefähr­dun­gen der Wis­sen­schafts- frei­heit abweh­ren und ihre fach­li­che Kom­pe­tenz zur Ver­wirk­li­chung der Wis­sen­schafts­frei­heit in die Uni­ver- sitäteinbringenkönnen.DerGesetzgebermussdaher ein hin­rei­chen­des Niveau der Par­ti­zi­pa­ti­on der Grund- rechts­trä­ger gewährleisten.“53 Ergän­zend schreibt Art. 60 Abs. 2 Satz 2 Hs. 2 Hess­Verf die Betei­lung der Stu­die- ren­den an der hoch­schu­li­schen Selbst­ver­wal­tung vor.

3. Art. 10 HessVerf

Gemäß Art. 10 Hess­Verf darf nie­mand in sei­nem wis­sen- schaft­li­chen oder künst­le­ri­schen Schaf­fen und in der Ver­brei­tung sei­ner Wer­ke gehin­dert wer­den. Ange­sichts der Plu­ra­li­tät und Revi­dier­bar­keit der Ergeb­nis­se wis- sen­schaft­li­cher Bemü­hun­gen sowie der Pro­zess­haf­tig­keit der indi­vi­du­el­len und kol­lek­ti­ven Anstren­gun­gen der Erkennt­nis­ge­win­nung und ‑ver­mitt­lung sperrt sich der Begriff der Wis­sen­schaft gegen eine ein­fa­che Defi­ni­ti- on.54

Obwohl es sich bei Art. 10 Hess­Verf – eben­so wie bei Art. 60 Abs. 1 Satz 2 Hess­Verf – um eigen­stän­di­ge lan- des­ver­fas­sungs­recht­li­che Gewähr­leis­tun­gen han­delt, die einer auto­no­men Inter­pre­ta­ti­on durch den Hes­si­schen Staats­ge­richts­hof unter­lie­gen, kön­nen für die Kon- kre­ti­sie­rung der ver­bürg­ten Rech­te die zu Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ent­wi­ckel­ten bun­des­ver­fas­sungs- gericht­li­chen Grund­sät­ze zumin­dest als Aus­le­gungs­hil- fen her­an­ge­zo­gen werden.55 Somit ist Wis­sen­schaft jede Tätig­keit, die nach Inhalt und Form als ernst­haf­ter plan- mäßi­ger Ver­such zur Ermitt­lung der Wahr­heit anzu­se- hen ist.56 Im Frei­raum der Wissenschaft

„herrscht abso­lu­te Frei­heit von jeder Inge­renz öffent­li- cher Gewalt. In die­sen Frei­heits­raum fal­len vor allem die auf wis­sen­schaft­li­cher Eigen­ge­setz­lich­keit beru­hen- den Pro­zes­se, Ver­hal­tens­wei­sen und Ent­schei­dun­gen bei dem Auf­fin­den von Erkennt­nis­sen, ihrer Deu­tung und Wei­ter­ga­be. Jeder, der in Wis­sen­schaft, For­schung und Leh­re tätig ist, hat […] ein Recht auf Abwehr jeder staat­li­chen Ein­wir­kung auf den Pro­zeß der Gewin­nung und Ver­mitt­lung wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis­se. Da-

51 BVerfG 26.10.2004 – 1 BvR 927/00 – BVerfGE 111, 333.
52 BVerfG 26.10.2004 – 1 BvR 927/00 – BVerfGE 111, 333; BVerfG

29.05.1973 – 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 – BVerfGE 35, 79.
53 BVerfG 20.07.2010 – 1 BvR 748/06 – BVerfGE 127, 87.
54 Kal­lert, in: PdK – Hes­sen, Ver­fas­sung des Lan­des Hes­sen, 7. Fas-

sung 2020, Art. 10 Rn. 1 f.
55 In die­se Rich­tung Schmidt, in: Meyer/Stolleis (Hrsg.), Hessisches

Staats- und Ver­wal­tungs­recht, 2. Auf­la­ge 1986, S. 20, S. 46 f.; Schrodt, Die Recht­spre­chung des Hes­si­schen Staats­ge­richts­hofs zu den Grund­rech­ten der Hes­si­schen Ver­fas­sung, 1984, S. 7.

56 BVerfG 29.05.1973 – 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 – BVerfGE 35, 79, 113.

230 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 225–234

mit sich For­schung und Leh­re unge­hin­dert an dem Be- mühen um Wahr­heit als ‚etwas noch nicht ganz Ge- fun­de­nes und nie ganz Auf­zu­fin­den­des‘ (Wil­helm von Hum­boldt) aus­rich­ten kön­nen, ist die Wis­sen­schaft zu einem von staat­li­cher Fremd­be­stim­mung frei­en Be- reich per­sön­li­cher und auto­no­mer Ver­ant­wor­tung des ein­zel­nen Wis­sen­schaft­lers erklärt wor­den. Damit ist zugleich gesagt, daß [die Wis­sen­schafts­frei­heit] nicht eine bestimm­te Auf­fas­sung von der Wis­sen­schaft oder eine bestimm­te Wis­sen­schafts­theo­rie schüt­zen will.“57

III. Hoch­schul­or­ga­ni­sa­ti­on der HöMS

Die Zusam­men­le­gung von HfPV, HPA und ZFH zur HöMS ver­mengt hoch­schu­li­sche und poli­zei­be­hörd­li­che Orga­ni­sa­ti­ons­struk­tu­ren in ver­fas­sungs­wid­ri­ger Wei­se. Mit der Ein­rich­tung der HöMS als beson­de­rer Hoch­schu­le für ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten (§ 2 Abs. 1 Nr. 5 HessHG) hat der Gesetz­ge­ber einen Fremd­kör­per im HessHG geschaf­fen. Im Ein­zel­nen ste­hen eini­ge Vor­schrif­ten über die orga­ni­sa­to­ri- sche Aus­ge­stal­tung der HöMS im Wider­spruch zum hoch­schu­li­schen Selbst­ver­wal­tungs­recht (Art. 60 Abs. 1 S. 2 Hess­Verf) und zur Wis­sen­schafts­frei- heit (Art. 10 Hess­Verf). Im Fol­gen­den wer­den exem­pla- risch drei Ver­fas­sungs­ver­stö­ße des Geset­zes zur Grün- dung der HöMS untersucht.

1. Zusam­men­set­zung der Sta­tus­grup­pe der Professoren

Für die Zusam­men­set­zung der hoch­schu­li­schen Sta­tus- grup­pen für die Wahl ihrer Ver­tre­tung in den Selbst­ver- wal­tungs­gre­mi­en hat das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt einen spe­zi­fi­schen Maß­stab ent­wi­ckelt: „Soweit grup- pen­mä­ßig zusam­men­ge­setz­te Kol­le­gi­al­or­ga­ne über Ange­le­gen­hei­ten zu befin­den haben, die For­schung und Leh­re unmit­tel­bar betref­fen, müs­sen fol­gen­de Grund­sät- ze beach­tet wer­den: a) Die Grup­pe der Hoch­schul­leh­rer muss homo­gen, d.h. nach Unter­schei­dungs­merk­ma­len zusam­men­ge­setzt sein, die sie gegen ande­re Grup­pen ein­deu­tig abgren­zen […].“58

An der HöMS gilt gemäß § 104 Abs. 2 HessHG für die Wahl ihrer Ver­tre­tung in den Gre­mi­en § 37 Abs. 3 HessHG ent­spre­chend mit der Maß­ga­be, dass die Grup­pe nach § 37 Abs. 3 Nr. 1 HessHG (Pro­fes- soren­grup­pe) von den Pro­fes­so­ren und Hoch­schul­do- zen­ten gebil­det wird. Die Anfor­de­run­gen an die akade-

57 BVerfG 29.05.1973 – 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 – BVerfGE 35, 79, 113.

58 BVerfG 29.05.1973 – 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 – BVerfGE 35, 79, Ls. 8; grund­le­gend zur Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge- richts zu den Maß­stä­ben einer grund­ge­setz­kon­for­men Hoch-

mische Qua­li­fi­ka­ti­on von Hoch­schul­do­zen­ten sind in § 111 Abs. 6 Satz 1–2 HessHG nor­miert: „Hoch­schul­do- zen­tin­nen und Hoch­schul­do­zen­ten müs­sen neben den beam­ten­recht­li­chen Vor­aus­set­zun­gen grund­sätz­lich ein ihren Lehr­auf­ga­ben ent­spre­chen­des Hoch­schul­stu­di­um, päd­ago­gi­sche Eig­nung und eine ein­schlä­gi­ge berufs- prak­ti­sche Tätig­keit nach­wei­sen. An die Stel­le des abge- schlos­se­nen Hoch­schul­stu­di­ums kön­nen berufs­prak­ti- sche Tätig­kei­ten tre­ten, wenn sie Kennt­nis­se und Erfah- run­gen ver­mit­telt haben, die die Bewer­ber auf ihrem Fach­ge­biet befä­hi­gen, eine Lehr­tä­tig­keit aus­zu­üben, die der­je­ni­gen von Lehr­kräf­ten mit abge­schlos­se­nem Hoch- schul­stu­di­um ent­spricht.“ Die Min­dest­vor­aus­set­zun­gen für die Ein­stel­lung als Pro­fes­sor sind gemäß § 68 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 HessHG „ein abge­schlos­se- nes Hoch­schul­stu­di­um, die für die Erfül­lung der Auf­ga- ben nach § 67 Abs. 1 [HessHG] erfor­der­li­che Befä­hi­gung zu wis­sen­schaft­li­cher oder künst­le­ri­scher Arbeit und die dafür erfor­der­li­che päd­ago­gi­sche Eig­nung. Als Nach­weis der Befä­hi­gung zu wis­sen­schaft­li­cher Arbeit gilt in der Regel die Qua­li­tät der Pro­mo­ti­on; dar­über hin­aus wer- den nach den Anfor­de­run­gen der Stel­le ver­langt: 1. zu- sätz­li­che wis­sen­schaft­li­che Leis­tun­gen oder 2. beson­de­re Leis­tun­gen bei der Anwen­dung oder Ent­wick­lung wis- sen­schaft­li­cher Erkennt­nis­se und Metho­den in einer min­des­tens fünf­jäh­ri­gen beruf­li­chen Pra­xis, von der min­des­tens drei Jah­re außer­halb des Hoch­schul­be­reichs aus­ge­übt wor­den sein müssen.“

Die Gegen­über­stel­lung von Hoch­schul­do­zen­ten und Pro­fes­so­ren zeigt, dass das HessHG signi­fi­kant nied­ri­ge- re Anfor­de­run­gen an die aka­de­mi­sche Qua­li­fi­ka­ti­on von Hoch­schul­do­zen­ten stellt. Ins­be­son­de­re müs­sen Hoch- schul­do­zen­ten nicht über einen Nach­weis der wis­sen- schaft­li­chen Befä­hi­gung ver­fü­gen und kön­nen sogar ein Hoch­schul­stu­di­um durch Pra­xis­er­fah­rung erset­zen. Ne- ben den Ein­stel­lungs­vor­aus­set­zun­gen unter­schei­den sich auch die hoch­schul­po­li­ti­schen Inter­es­sen von Pro- fes­so­ren einer­seits und Hoch­schul­do­zen­ten ande­rer­seits erheb­lich. § 104 Abs. 2 HessHG bil­det somit eine äußerst hete­ro­ge­ne Sta­tus­grup­pe der Pro­fes­so­ren, die den ver­fas- sungs­recht­li­chen Anforderungen59 nicht genügt.

Beson­ders pro­ble­ma­tisch ist die Ver­tre­tung der Pro­fes­so­ren­grup­pe i.S.v. § 37 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 104 Abs. 2 HessHG im Senat, dem Herz­stück der aka­de­mi­schen Selbst­ver­wal­tung. Gemäß § 42 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 HessHG sind neun Mit­glie­der der

schul­or­ga­ni­sa­ti­on Wür­ten­ber­ger, Zur Ver­fas­sungs­mä­ßig­keit der Rege­lun­gen der Hoch­schul­lei­tung im Lan­des­hoch­schul­ge­setz von Baden-Würt­tem­berg, OdW 2016, 1, 2 ff.

59 BVerfG 29.05.1973 – 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 – BVerfGE 35, 79, Ls. 8.

Weitz · Die neue Hes­si­sche Hoch­schu­le für öffent­li­ches Manage­ment und Sicher­heit 2 3 1

Pro­fes­so­ren­grup­pe im Senat ver­tre­ten, die dort die Mehr­heit bil­den. Der Senat nimmt wich­ti­ge Auf­ga­ben der hoch­schu­li­schen Selbst­ver­wal­tung wahr: Er berät in Ange­le­gen­hei­ten von For­schung, Leh­re und Stu­di­um, die die gesam­te Hoch­schu­le betref­fen und von grund- sätz­li­cher Bedeu­tung sind (§ 42 Abs. 1 Satz 1 HessHG). Fer­ner über­wacht der Senat die Geschäfts­füh­rung des Prä­si­di­ums (§ 42 Abs. 1 Satz 2 HessHG) und ist zustän­dig für die Beschluss­fas­sung über die Grund­ord- nung im Ein­ver­neh­men mit dem Prä­si­di­um (§ 42 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Var. 1 HessHG). Dass die Pro­fes- soren – gegen­über den Hoch­schul­do­zen­ten in Unter­zahl – bei der Ver­tre­tung im Senat benach­tei­ligt wer­den, war durch die Rechts­set­zung des Geset­zes zur Grün­dung der HöMS vor­ge­zeich­net. § 104 Abs. 2 HessHG ver­hin­dert, dass die Pro­fes­so­ren der HöMS auto­nom an Entsch­ei- dun­gen über For­schungs- und Lehr­fra­gen in ver­fas- sungs­recht­lich gebo­te­ner Wei­se par­ti­zi­pie­ren kön­nen. Die Gefahr der Unter­re­prä­sen­ta­ti­on hat sich im Senat der HöMS längst rea­li­siert: Die neun­köp­fi­ge Pro­fes­so- ren­grup­pe im Senat besteht gegen­wär­tig aus sie­ben Hoch­schul­do­zen­ten und zwei Pro­fes­so­ren im enge­ren Sinne.

Zwei­fels­oh­ne soll­te die ver­fas­sungs­wid­ri­ge Sta­tus- grup­pen­bil­dung nicht schlicht durch höhe­re Anfor­de- run­gen an die Qua­li­fi­ka­tio­nen von Hoch­schul­do­zen­ten auf­ge­löst wer­den. Wer Anwär­tern für den geho­be­nen Poli­zei­voll­zugs­dienst einen adäqua­ten Schuss­waf­fen­ge- brauch bei­bringt, muss kei­ne Habi­li­ta­ti­on über Waf­fen oder Schuss­tech­nik ver­fasst haben. Die Anwär­ter­aus­bil- dung darf nicht ohne Anse­hen der Pra­xis­er­for­der­nis­se ver­wis­sen­schaft­licht wer­den. In Ein­klang mit der Ver­fas- sung müs­sen die Sta­tus­grup­pen von Pro­fes­so­ren und Hoch­schul­do­zen­ten aber unbe­dingt getrennt von­ein­an- der gebil­det werden.

2. Minis­te­ri­el­ler Ein­fluss auf die Bestel­lung und Abbe- rufung der Leitungspersonen

Zur Mit­wir­kung der hoch­schu­li­schen Selbst­ver­wal- tungs­or­ga­ne an der Bestel­lung und Abbe­ru­fung von Lei- tungs­per­so­nen­hat­das­Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt­aus­ge- führt: „[Das] Recht eines plu­ral zusam­men­ge­setz­ten Ver­tre­tungs­or­gans zur Bestel­lung und auch zur Abbe­ru- fung von Lei­tungs­per­so­nen [ist] ein zen­tra­les und effek- tives Ein­fluss- und Kon­troll­in­stru­ment der wis­sen­schaft- lich Täti­gen auf die Orga­ni­sa­ti­on. Je höher Aus­maß und Gewicht der den Lei­tungs­per­so­nen zuste­hen­den Befug- nis­se sind, des­to eher muss die Mög­lich­keit gegeben

60 BVerfG 24.06.2014 – 1 BvR 3217/07 – BVerfGE 136, 338, 365.

sein, sich selbst­be­stimmt von die­sen zu tren­nen. Je mehr, je grund­le­gen­der und je sub­stan­ti­el­ler wis­sen­schafts­re­le- van­te per­so­nel­le und sach­li­che Ent­schei­dungs­be­fug­nis­se dem kol­le­gia­len Selbst­ver­wal­tungs­or­gan ent­zo­gen und einem Lei­tungs­or­gan zuge­wie­sen wer­den, des­to stär­ker muss im Gegen­zug die Mit­wir­kung des Selbst­ver­wal- tungs­or­gans an der Bestel­lung und Abbe­ru­fung die­ses Lei­tungs­or­gans und an des­sen Ent­schei­dun­gen aus­ge- stal­tet sein. Der Gesetz­ge­ber muss die­sen Zusam­men- hang durch­gän­gig berücksichtigen.“60

a) Prä­si­dent

Gemäß § 45 Abs. 2 Satz 2 HessHG wird ein Hoch­schul- prä­si­dent grund­sätz­lich durch den Senat gewählt. Für den Prä­si­den­ten der HöMS hat der Gesetz­ge­ber hin­ge- gen ein eige­nes Ver­fah­ren erdacht: Der Prä­si­dent der HöMS wird nach öffent­li­cher Aus­schrei­bung der Stel­le durch das HMdIS auf­grund einer Vor­schlags­lis­te bestellt (§ 107 Abs. 2 Satz 1 HessHG). Die Vor­schlags­lis­te soll drei Namen ent­hal­ten (§ 107 Abs. 2 Satz 4 HessHG) und wird von Senat und Kura­to­ri­um gemein­sam erstellt (§ 107 Abs. 2 Satz 3 HessHG). Ange­lehnt an § 48 Abs. 5 HessHG bil­den Senat und Kura­to­ri­um eine pari­tä­tisch besetz­te Findungskommission.61 Die von der Fin­dungs­kom­mis­si­on erstell­te Vor­schlags­lis­te bedarf der Zustim­mung von Senat und Kura­to­ri­um. Das HMdIS kann bei der Bestel­lung des Prä­si­den­ten von der vor­ge­schla­ge­nen Rei­hen­fol­ge abwei­chen (§ 107 Abs. 2 Satz 5 HessHG) – Leit­li­ni­en für die­se Ermes- sens­ent­schei­dung ent­hält die Norm nicht. § 107 Abs. 2 Satz 6–7 HessHG legt nahe, dass das HMdIS die Vor­schlags­lis­te sogar in Gän­ze abwei­sen kann: Kommt es auf­grund der Vor­schlags­lis­te nicht zu einer Bestel­lung durch das HMdIS, so ist eine neue Vor- schlags­lis­te vor­zu­le­gen. Wird in ange­mes­se­ner Frist kei- ne neue Vor­schlags­lis­te vor­ge­legt oder kommt es auf- grund der zwei­ten Vor­schlags­lis­te nicht zu einer Bestel- lung, wird der Prä­si­dent nach Anhö­rung des Senats ein­sei­tig vom HMdIS bestellt (§ 107 Abs. 2 Satz 7 HessHG). Auch die Abbe­ru­fung des Prä­si­den­ten „aus wich­ti­gem Grund“ (§ 107 Abs. 4 Satz 1 HessHG) erfolgt aus­schließ­lich durch das HMdIS sowie ledig­lich im Beneh­men mit dem Senat (§ 107 Abs. 4 Satz 2 HessHG). Eine Abbe­ru­fung auf einen Antrag aus der Mit­te des Senats hin ist nur mög­lich, wenn das Kura­to­ri­um die­sem Antrag vor Durch­füh­rung der Beschluss­fas­sung über die Abbe­ru­fung zuge­stimmt hat (§ 107 Abs. 4 Satz 3 HessHG). In der Gesamtschau

61 LT-Drs. 20/5722, S. 27.

232 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 225–234

sind die Hoch­schul­or­ga­ne in die Bestel­lung und Abbe­ru- fung des Prä­si­den­ten nur mar­gi­nal ein­ge­bun­den. Die Posi­ti­on des HMdIS ist wesent­lich macht­vol­ler als die des Senats.

Vor dem Hin­ter­grund des bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt- lichen Prüfungsmaßstabs62 wer­den die gerin­gen Mit­wir- kungs­mög­lich­kei­ten des kol­le­gia­len Selbst­ver­wal­tungs- organs viru­lent, weil der Prä­si­dent in der Orga­ni­sa­ti­on der HöMS eine ele­men­ta­re Rol­le inne­hat. Er ist gemäß § 42 Abs. 7 HessHG Vor­sit­zen­der des Senats, ver­fügt über die Richt­li­ni­en­kom­pe­tenz (§ 43 Abs. 3 Satz 1 HessHG) und hat das Vor­schlags­recht für die Vize­prä­si­den­ten (§ 46 Abs. 1 HessHG). Dar­über hin­aus ist der Prä­si­dent Dienst­vor­ge­setz­ter des Hoch- schul­per­so­nals (§ 44 Abs. 1 Satz 2 HessHG) und hat er- heb­li­chen Ein­fluss auf die Wahl und Abwahl der Deka­ne (§ 51 Abs. 3 Satz 2 und 5 HessHG). In der Gesamt- schau wird der Prä­si­dent unter ledig­lich mar­gi­na­ler Be- teil­i­gung der hoch­schu­li­schen Selbst­ver­wal­tungs- orga­ne bestellt und abbe­ru­fen, obwohl er sub­stan­ti­el­le wis­sen­schafts­re­le­van­te per­so­nel­le und sach­li­che Ent­schei­dungs­be­fug­nis­se inne­hat. Folg­lich ist § 107 Abs. 2 und 4 HessHG mit dem hoch­schu­li­schen Selbst­ver­wal­tungs­recht gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 2 Hess­Verf nicht vereinbar.

b) Kanz­ler

Gemäß § 109 Satz 2 HessHG wird der Kanz­ler der HöMS, ein Beam­ter auf Lebens­zeit, im Beneh­men mit dem Senat auf Vor­schlag des Prä­si­den­ten der HöMS von dem für das Dienst­recht zustän­di­gen Minis­te­ri­um, dem HMdIS, bestellt. Beim Beneh­mens­er­for­der­nis han­delt es sich ledig­lich um eine gering­fü­gi­ge Betei­li­gung des Senats. Statt einer Wil­lens­über­ein­stim­mung wird ledig- lich eine Anhö­rung gefor­dert, die dem Senat die Gele- gen­heit gibt, sei­ne Vor­stel­lun­gen in das Ver­fah­ren ein­zu- bringen.63 Die gerin­ge Mit­wir­kung des Senats bei der Bestel­lung des Kanz­lers kann auch der in § 109 Satz 2 HessHG vor­ge­schrie­be­ne „Vor­schlag […] des Prä­si­den­ten“ als Aus­gangs­punkt der Kanz­ler­be­stel­lung nicht aus­glei­chen – schließ­lich wird auch der Prä­si­dent unter maß­geb­li­chem Ein­fluss des HMdIS bestellt. Frag­lich ist, ob § 109 Satz 2 HessHG wegen des über­pro- por­tio­na­len Ein­flus­ses des HMdIS auf die Bestel­lung des Kanz­lers ver­fas­sungs­wid­rig ist. Zen­tra­le Auf­ga­be des Kanz­lers ist die Lei­tung der Hoch­schul- ver­wal­tung nach den Richt­li­ni­en des Prä­si­di­ums (§ 47 Abs. 1 Satz 1 HessHG). Fer­ner ist der Kanz­ler gemäß

  1. 62  BVerfG 24.06.2014 – 1 BvR 3217/07 – BVerfGE 136, 338, 365.
  2. 63  In einem ande­ren Kon­text zum Beneh­mens­er­for­der­nis BVerwG

§ 47 Abs. 1 Satz 2 HessHG Beauf­trag­ter für den Haus­halt, gehört dem Prä­si­di­um an (§ 43 Abs. 2 HessHG) und ist inso­weit für alle Ange­le­gen­hei­ten zustän­dig, die nicht durch das Gesetz einem ande­ren Organ über­tra­gen sind. Die Auf­ga­ben des Kanz­lers sind zwar sehr bedeut­sam, betref­fen jedoch ten­den­zi­ell wis­sen­schafts­fer­ne Hoch- schul­be­rei­che. Im Ergeb­nis ver­schafft § 109 Satz 2 HessHG dem HMdIS in bedenk­li­cher Wei­se Ein­fluss auf die Beset­zung einer wich­ti­gen Posi­ti­on. Den ver­fas­sungs- recht­li­chen Anfor­de­run­gen dürf­te die Norm jedoch – iso­liert vom hoch­schul­or­ga­ni­sa­to­ri­schen Gesamt­ge­fü­ge betrach­tet – noch genügen.

3. Zusam­men­set­zung des Kuratoriums

Übli­cher­wei­se wird an staat­li­chen Hoch­schu­len im Land Hes­sen ein Hoch­schul­rat i.S.v. § 48 HessHG gebil­det. Er hat die Auf­ga­be, die Hoch­schu­le bei ihrer Ent­wick­lung zu beglei­ten, die in der Berufs­welt an die Hoch­schu­le bestehen­den Erwar­tun­gen zu arti­ku­lie­ren und die Nut- zung wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis­se und künst­le­ri- scher Leis­tun­gen zu för­dern (§ 48 Abs. 1 Satz 1 HessHG). Kon­kret gibt der Hoch­schul­rat etwa Emp­feh­lun­gen zur Stu­di­en­gangs­pla­nung (§ 48 Abs. 2 Nr. 1 HessHG) und zu den Eva­lua­ti­ons­ver­fah­ren (§ 48 Abs. 2 Nr. 2 HessHG). Er nimmt z.B. Stel­lung zum Ent­wurf der Grund­ord­nung (§ 48 Abs. 3 Nr. 1 HessHG) sowie zum Rechen­schafts­be- richt des Prä­si­di­ums und zu den Lehr- und For­schungs- berich­ten (§ 48 Abs. 3 Nr. 2 HessHG). Einem Hoch­schul- rat gehö­ren gemäß § 48 Abs. 6 Satz 1 HessHG bis zu zehn Per­sön­lich­kei­ten aus dem Bereich der Wirt­schaft, der beruf­li­chen Pra­xis und dem Bereich der Wis­sen­schaft oder Kunst an. Die Mit­glie­der wer­den jeweils zur Hälf­te vom Prä­si­di­um im Beneh­men mit dem Senat und vom Minis­te­ri­um im Beneh­men mit der Hoch­schu­le benannt (§ 48 Abs. 7 Satz 2 HessHG).

An der HöMS hin­ge­gen wird gemäß § 110 Abs. 1 HessHG ein Kura­to­ri­um gebil­det, das zu al- len wich­ti­gen und grund­sätz­li­chen Ange­le­gen­hei­ten zu hören ist. Zen­tra­le Auf­ga­be des Kura­to­ri­ums ist die Über­wa­chung der Geschäfts­füh­rung des Prä­si­di­ums un- ter Ein­be­zie­hung der Stel­lung­nah­me des Senats (§ 110 Abs. 5 Nr. 1 HessHG). Dar­über hin­aus beglei­tet das Kura­to­ri­um die HöMS bei ihrer Ent­wick­lung und gibt Emp­feh­lun­gen zu den Eva­lua­ti­ons­ver­fah­ren und Ziel- ver­ein­ba­run­gen ab (§ 110 Abs. 5 Nr. 3 und 5 HessHG). Das Kura­to­ri­um der HöMS hat 16 Mit­glie­der (§ 110 Abs. 2 HessHG): Unmit­tel­bar von­sei­ten des Lan- des wer­den zwei Ver­tre­ter des HMdIS, ein Ver­tre­ter des

29.04.1993 – 7 A 2/92 – NVwZ 1993, 890, 891.

Weitz · Die neue Hes­si­sche Hoch­schu­le für öffent­li­ches Manage­ment und Sicher­heit 2 3 3

Hes­si­schen Minis­te­ri­ums für Wis­sen­schaft und Kunst, drei Ver­tre­ter der übri­gen Minis­te­ri­en und ein Ver­tre­ter des Hes­si­schen Bereit­schafts­po­li­zei­prä­si­di­ums in das Kura­to­ri­um ent­sandt. Dem ste­hen gegen­über: Je ein Ver- tre­ter der drei kom­mu­na­len Spit­zen­ver­bän­de, des Lan- des­wohl­fahrts­ver­bands, des Hes­si­schen Ver­wal­tungs- schul­ver­bands, des Lan­des­be­zirks Hes­sen des Deut­schen Gewerk­schafts­bunds sowie des Lan­des­ver­bands Hes­sen des Deut­schen Beam­ten­bunds und zwei Ver­tre­ter aus dem Bereich der Wis­sen­schaft. Mit­hin sind sie­ben der 16 Kura­to­ri­ums­mit­glie­der der unmit­tel­ba­ren Staats­ver­wal- tung zuzu­rech­nen und einem Wei­sungs­recht des Lan­des Hes­sen unter­wor­fen. Die Mit­wir­kung des Senats der HöMS an der Bestel­lung und Abbe­ru­fung der Kura­to­ri- ums­mit­glie­der ist dem­ge­gen­über sehr schwach aus­ge- prägt. Beson­ders viru­lent wird die­se staats­na­he Zusam- men­set­zung des Kura­to­ri­ums wegen sei­ner Stel­lung als Über­wa­chungs­gre­mi­um der Geschäfts­füh­rung des Prä- sidi­ums. Anders als ein Hoch­schul­rat i.S.v. § 48 HessHG hat das Kura­to­ri­um der HöMS nicht in ers­ter Linie bera- ten­de Funk­ti­on: Der Hoch­schul­rat „gibt Emp­feh­lun­gen“ (§ 48 Abs. 2 HessHG) und „nimmt Stel­lung“ (§ 48 Abs. 3 HessHG); das Kura­to­ri­um über­wacht. In der Gesamt­schau der sys­tem­wid­ri­gen Kom­pe­ten­zen des Ku- rato­ri­ums und sei­ner staats­na­hen per­so­nel­len Auf­stel- lung, wird die teil­wei­se Ver­fas­sungs­wid­rig­keit von § 110 HessHG deutlich.

IV. Aus­blick

Mit der Grün­dung der HöMS woll­te der Lan­des­ge­setz- geber „etwas Beson­de­res schaffen“64 – das ist ihm zwei- fel­los gelun­gen. Eine „Hoch­schu­le aus einem ‚Guss‘“65 soll­te es sein, „Aus‑, Fort- und Wei­ter­bil­dung ‚aus einer Hand‘“66. Dass bei einem der­ar­ti­gen Ver­men­gen poli­zei- licher und hoch­schu­li­scher Struk­tu­ren das Wis­sen- schafts­frei­heits­recht und das hoch­schu­li­sche Selbst­ver- wal­tungs­recht struk­tu­rell gefähr­det sind, dürf­te im Gesetz­ge­bungs­ver­fah­ren auf der Hand gele­gen haben. Bei der Rechts­set­zung, ins­be­son­de­re der §§ 99–114 HessHG, hat die hes­si­sche Lan­des­re­gie­rung die skiz­zier­ten Risi­ken nicht hin­rei­chend abge­fe­dert. Das Gesetz zur Grün­dung der HöMS ver­schafft dem HMdIS zahl­rei­che unmit­tel­ba­re und mit­tel­ba­re Ein- griffs­be­fug­nis­se in die Hoch­schul­or­ga­ni­sa­ti­on, die mit den lan­des­ver­fas­sungs­recht­li­chen Leit­li­ni­en im Wider- spruch stehen.

Nicht zuletzt wegen der nahen­den Land­tags­wahl in

64 Beuth im Rah­men sei­ner zusam­men­fas­sen­den münd­li­chen Dar- stel­lung des Vor­trags der Lan­des­re­gie­rung als Ver­fah­rens­be­tei­lig­te am 12.07.2023 in Hess­StGH, P.St. 2891.

Hes­sen am 08.10.2023 ist nicht damit zu rech­nen, dass der Gesetz­ge­ber das Orga­ni­sa­ti­ons­recht der HöMS als- bald novel­lie­ren wird. Wahr­schein­lich wird der Gesetz- geber die Ent­schei­dung des Hes­si­schen Staats­ge­richts- hofs im lau­fen­den Normenkontrollverfahren67 abwar- ten. Der Ver­lauf der münd­li­chen Ver­hand­lung die­ses Nor­men­kon­troll­ver­fah­rens am 12.07.2023 bie­tet Grund zur Annah­me, dass der Hes­si­sche Staats­ge­richts­hof die Ver­fas­sungs­mä­ßig­keit eini­ger Vor­schrif­ten zur Hoch- schul­or­ga­ni­sa­ti­on der HöMS zumin­dest bezwei­felt. Es ist zu erwar­ten, dass der Gesetz­ge­ber die Orga­ni­sa­ti­on sei­ner Poli­zei- und Ver­wal­tungs­aus­bil­dung aber­mals wird refor­mie­ren müssen.

Der Gesetz­ge­ber täte gut dar­an, die Ent­schei­dung für eine Hoch­schul­or­ga­ni­sa­ti­on sui gene­ris zu revi­die­ren. Zwei­fels­oh­ne han­delt es sich bei einer Hoch­schu­le des Lan­des, die u.a. den Nach­wuchs des geho­be­nen all­ge- mei­nen Ver­wal­tungs­diens­tes und des geho­be­nen Poli- zei­voll­zugs­diens­tes aus­bil­det, um eine Hoch­schu­le mit spe­zi­el­len Anfor­de­run­gen. Die gegen­wär­ti­ge Orga­ni­sa­ti- ons­form sui gene­ris recht­fer­ti­gen die­se spe­zi­el­len Anfor- derun­gen jedoch nicht. Viel­mehr gewäh­ren die her­ge- brach­ten Hoch­schul­for­men (§ 2 Abs. 1 Nr. 1–3 HessHG) ein sta­bi­les wie geeig­ne­tes Fun­da­ment für eine ver­fas- sungs­kon­for­me Aus­ge­stal­tung der HöMS, die aus­rei- chen­den Nähr­bo­den für eine auto­no­me Fort­ent­wick- lung der Poli­zei- und Ver­wal­tungs­aus­bil­dung in Hes­sen bietet.

Kon­kret soll­te die HöMS als Hoch­schu­le für ange- wand­te Wis­sen­schaf­ten i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 3 HessHG aus­ge­stal­tet wer­den. Die ent­spre­chen­de Hoch­schul­or­ga- nisa­ti­on wür­de das Selbst­ver­wal­tungs­recht der HöMS garan­tie­ren und die Wis­sen­schafts­frei­heit wah­ren. Das nach­voll­zieh­ba­re Bedürf­nis des HMdIS, im Ein­zel­nen bestimm­te Inhal­te der Modul­bü­cher der Stu­di­en­gän­ge für Poli­zei und Ver­wal­tung zu beein­flus­sen, könn­te eben­so befrie­digt wer­den. Hier­für bedarf es kei­ner grund­le­gen­den Reor­ga­ni­sa­ti­on der Hoch­schu­le. Es ge- nügen viel­mehr ein­zel­ne, weni­ge Son­der­vor­schrif­ten, die für Ent­schei­dun­gen über bestimm­te Inhal­te der Mo- dul­bü­cher der Stu­di­en­gän­ge für Poli­zei und Ver­wal­tung ein Ein­ver­neh­men mit dem HMdIS vor­aus­set­zen. Statt der gegen­wär­ti­gen §§ 99–114 HessHG wür­den deut­lich weni­ger Son­der­vor­schrif­ten genü­gen, deren inhalt­li­che Abwei­chung vom Leit­bild des § 2 Abs. 1 Nr. 3 HessHG in der Gesamt­schau so gering wäre, dass die HöMS als Hoch­schu­le für ange­wand­te Wis­sen­schaft klas­si­fi­ziert wer­den könn­te. So wür­den sowohl die verfassungsrecht-

65 LT-Drs. 20/5722, S. 19. 66 LT-Drs. 20/5722, S. 19. 67 Hess­StGH, P.St. 2891.

234 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 225–234

lichen Vor­ga­ben gewahrt als auch berech­tig­te minis­te­ri- elle Inter­es­sen verwirklicht.

Im Übri­gen wür­de eine sol­che Orga­ni­sa­ti­on der HöMS – im Sin­ne der Gesetz­be­grün­dung vom 10.05.202168 – das Wis­sen­schafts­sys­tem in Hes­sen stär- ken. Eine Abkehr von den zahl­rei­chen struk­tu­rel­len Aus­nah­me­re­ge­lun­gen in §§ 99–114 HessHG wür­de die Wis­sen­schaft­lich­keit der HöMS grund­le­gend för­dern. Ergän­zend soll­te der Gesetz­ge­ber das aka­de­mi­sche Per- sonal der HöMS quan­ti­ta­tiv und qua­li­ta­tiv auf­wer­ten. Wenn der Gesetz­ge­ber das Wis­sen­schafts­sys­tem wirk- lich stär­ken möch­te, braucht es nicht zuletzt einen leis- tungs­star­ken aka­de­mi­schen Mit­tel­bau. Um dem spe­ziel- len Aus­bil­dungs­auf­trag einer Hoch­schu­le für Poli­zei und Ver­wal­tung gerecht zu wer­den, könn­te der Mit­tel­bau – mehr als anders­wo – mit ergän­zen­den Lehr­ver­pflich­tun- gen betraut wer­den. Neben der Auto­no­mie des Lehr­kör- pers wür­de dies auch die Nach­wuchs­aus­bil­dung des ge-

hobe­nen all­ge­mei­nen Ver­wal­tungs­diens­tes und des ge- hobe­nen Poli­zei­voll­zugs­diens­tes stär­ken. Die Aus- und Fort­bil­dung von Poli­zei und Ver­wal­tung ist der Schlüs­sel für eine anpas­sungs­fä­hi­ge und leis­tungs­star­ke Orga­ni­sa- tion – des­halb hat sie eine ech­te Auf­wer­tung verdient.

Samu­el Weitz ist Dok­to­rand an der Uni­ver­si­tät zu Köln. Von Juli 2021 bis März 2023 war er wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter am Insti­tut für Öffent­li­ches Recht und Ver- wal­tungs­leh­re der Uni­ver­si­tät zu Köln. Er ist Lehr­be- auf­trag­ter für Staats­or­ga­ni­sa­ti­ons­recht mit Ver­fas- sungs­pro­zess­recht. Sei­ne For­schungs­schwer­punk­te sind das Ver­fas­sungs­recht, das Hoch­schul­recht sowie das Sportverbandsrecht.

68 LT-Drs. 20/5722, S. 19.

Seit Beginn der Covid-19-Pan­de­mie ver­an­stal­te­te der Ver­ein zur För­de­rung des deut­schen und inter­na­tio­na- len Wis­sen­schafts­rechts bereits drei Online-Tagun­gen am 30.10.2020, 15.1.2021 und 4.2.2022 mit Über­le­gun­gen zum Prü­fungs­recht in der Coro­na-Zeit und den damit ver­bun­de­nen recht­li­chen Fragestellungen.1 Nach dem Ende der Pan­de­mie sind die Hoch­schu­len zwar über­wie- gend zu Prä­senz­ver­an­stal­tun­gen zurück­ge­kehrt, jedoch wer­den auch in Zukunft digi­ta­le Leh­re und Prü­fungs­for- men eine nicht uner­heb­li­che Bedeu­tung haben.

Aus die­sem Grund beleuch­te­te der Ver­ein zur För- derung des deut­schen und inter­na­tio­na­len Wis­sen- schafts­rechts am 12.5.2023 aber­mals aktu­el­le recht­li­che Fra­ge­stel­lun­gen in Bezug auf digi­ta­le Prü­fun­gen, wel­che aus Pan­de­mie­zei­ten mit­ge­nom­men wer­den. Die Vor- stands­mit­glie­der des Ver­eins zur För­de­rung des deut- schen und inter­na­tio­na­len Wis­sen­schafts­rechts Prof. Dr. Vol­ker Epping und Dr. Micha­el Stück­radt beton­ten in ih- rer Begrü­ßung, dass die erneut 160 Teil­neh­men­den un- ter Beweis stell­ten, dass seit der Pan­de­mie ent­stan­de­ne Fra­gen rund um digi­ta­le Prü­fun­gen die Hoch­schu­len wei­ter­hin vor Her­aus­for­de­run­gen stel­len. Die Ver­an­s­tal- tung sol­le ins­be­son­de­re eine Ana­ly­se mitt­ler­wei­le ergan- gener gericht­li­cher Ent­schei­dun­gen sowie die Dis­kus­si- on über neue Her­aus­for­de­run­gen wie Künst­li­che Intel­li- genz in Prü­fun­gen bieten.

I. Prü­fungs­recht im digi­ta­len Zeitalter

Im ers­ten Impuls­vor­trag stell­ten Edgar Fischer (Vor­sit- zen­der Rich­ter am Ver­wal­tungs­ge­richt Ber­lin) und Dr.

  1. 1  Berich­te die­ser Tagun­gen sind ver­öf­fent­licht in OdW 2021, 59 ff. und 201 ff. sowie OdW 2022, 215 ff.
  2. 2  Bei­de sind Autoren der 2022 erschie­ne­nen 8. Auf­la­ge des Stan- dard­werks Fischer/Jere­mi­as/Die­te­rich, Prü­fungs­recht.
  3. 3  Dies bestä­ti­gen auch VG Frank­furt (Oder), Beschluss v. 11.5.2021
    – 1 L 124/21; VG Mün­chen, Urteil v. 25.2.2021 – M 3 K 20.4723;
    a.A. VG Frei­burg, Urteil v. 15.2.2022 – 8 K 183/21, wel­ches eine geson­der­te Rechts­grund­la­ge für erfor­der­lich ansieht, da ande­re Rechts­po­si­tio­nen betrof­fen sei­en. Ggf. sei eine Anpas­sung der Prü­fungs­ord­nung den­noch not­wen­dig, wenn die­se z.B. expli­zit die Öffent­lich­keit einer münd­li­chen Prü­fung vor­schrei­be, vgl. bereits OdW 2021, 201 (202). Mög­lich sei auch, dass der Prüf­ling der

Peter Die­te­rich, LL.M. (Rich­ter am Ver­wal­tungs­ge­richt Berlin)2 aktu­el­le Ent­schei­dun­gen im Hin­blick auf digi­ta- le Prü­fun­gen vor. Die­sen sei zu ent­neh­men, dass die all- gemei­nen Grund­sät­ze des Prü­fungs­rechts auch auf Online-Prü­fun­gen anwend­bar seien.

Rekur­rie­rend auf die letz­ten Ver­an­stal­tun­gen wur­de die Online-Prü­fung in den Kanon der Prü­fungs­ar­ten ein­ge­ord­net. Da zwi­schen den Prü­fungs­ar­ten kom­pe- tenz­ba­siert abge­grenzt wer­de, sei die Online-Prü­fung kei­ne eige­ne Prü­fungs­art, son­dern nur eine ande­re Mo- dali­tät bzw. Durch­füh­rungs­va­ri­an­te der klas­si­schen Prü- fungs­ar­ten, nament­lich der münd­li­chen oder schrift­li- chen Prü­fun­gen. Aus die­sem Grund sei aus prü­fungs- recht­li­cher Sicht nicht stets eine geson­der­te Rechts- grund­la­ge für die Durch­füh­rung der Prü­fung als Online-Prü­fung und daher auch kei­ne Ände­rung der Prü­fungs­ord­nung angezeigt.3 Im Gegen­satz dazu sei eine elek­tro­ni­sche Prü­fung eine ande­re Prü­fungs­art, bei der die Prü­fungs­ant­wort am Com­pu­ter unmit­tel­bar in ein Daten­ver­ar­bei­tungs­sys­tem der Prü­fungs­be­hör­de ein­ge­ge­ben wird.4 Da Klau­su­ren grund­sätz­lich als Auf- sichts­ar­bei­ten zu ver­ste­hen sei­en, sei für die Durch­füh- rung einer Online-Klau­sur eine Form der Auf­sicht erfor- der­lich, nicht zuletzt auch um Chan­cen­gleich­heit und Aus­sa­ge­kraft der Prü­fung zu gewährleisten.5

Auf­grund der Ent­span­nung der pan­de­mi­schen Lage und der weit­ge­hen­den Rück­kehr zu Prä­senz­prü­fun­gen, wel­che nicht mehr unter Son­der­be­din­gun­gen durch­ge- führt wer­den müs­sen, fin­de eine Funk­ti­ons­ver­schieb- ung der Online-Prü­fun­gen statt: Zu Beginn der Covid-19-Pan­de­mie sei­en die­se not­wen­dig gewe­sen, um

Abwei­chung der Prü­fungs­ord­nung zustim­me. Auf einen Ver­stoß gegen die Prü­fungs­ord­nung kön­ne er sich dann im Anschluss nach dem Grund­satz von Treu und Glau­ben nicht mehr beru­fen, vgl. zuletzt VG Ber­lin, Urteil v. 19.4.2022 – 12 K 20/21.

4 Schließ­lich könn­ten in elek­tro­ni­schen Prü­fun­gen auch Audio- und Video­se­quen­zen abge­spielt wer­den, das Zurück­kli­cken ver­hin­dert, und unter­schied­li­che Fra­gen ange­zeigt wer­den, sodass sich das For­mat wesent­lich von einer her­kömm­li­chen schrift­li­chen Prü­fung unter­schei­de. S. dazu auch bereits Haa­ke, OdW 2021, 59 (60).

5 So auch OVG NRW, Beschluss v. 4.3.2021 – 14 B 278/21.NE, ähn­lich VG Frank­furt (Oder), Beschluss v. 11.5.2021 – 1 L 124/21.

Karo­li­ne Haake

Prü­fun­gen im digi­ta­len Zeit­al­ter – aktu­el­le recht­li- che Fra­ge­stel­lun­gen
Bericht über die Tagung des Ver­eins zur För­de- rung des deut­schen und inter­na­tio­na­len Wis­sen- schafts­rechts e.V. am 12.5.2023

Ord­nung der Wis­sen­schaft 2023, ISSN 2197–9197

236 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 235–242

den ver­fas­sungs­recht­li­chen Anspruch der Prüflinge6 auf Durch­füh­rung der Prü­fun­gen aus Art. 12 Abs. 1 GG durch­zu­set­zen, da Prä­senz­prü­fun­gen nicht mög­lich wa- ren.7 Da die Durch­füh­rung der Online-Prü­fun­gen – auch mit­hil­fe von Video­auf­sicht bei Online-Klau­su­ren – zur Erfül­lung die­ses Prü­fungs­an­spru­ches erfor­der­lich gewe­sen sei, sei die Daten­ver­ar­bei­tung durch die Prü- fung auch in daten­schutz­recht­li­cher Hin­sicht nach Art. 6 Abs. 1 lit e) DS-GVO gerecht­fer­tigt gewesen.8

Dies sei nach dem Ende der Pan­de­mie nicht mehr der Fall. Online-Prü­fun­gen könn­ten daher vor dem Hin- ter­grund des Daten­schutz­rech­tes wei­ter­hin als Instru- ment genutzt wer­den, wenn Prüf­lin­ge nach Art. 6 Abs. 1 lit a) DS-GVO in die­se ein­wil­lig­ten. Dies sei jedoch mit Fol­ge­fra­gen der Ein­wil­li­gung ver­bun­den: Die­se müs­se einer­seits frei­wil­lig sein. Dies sei grund­sätz- lich auch im Über- und Unter­ord­nungs­ver­hält­nis zwi- schen Prü­fungs­be­hör­de und Prüf­ling mög­lich. Ein (zeit- naher) alter­na­ti­ver Prü­fungs­ter­min in Prä­senz spre­che zudem eben­falls für die Frei­wil­lig­keit der Ein­wil­li­gung in die Online-Prü­fung. Ande­rer­seits müs­se die Ein­wil­li- gung nach Art. 7 Abs. 3 DS-GVO auch frei wider­ruf­lich sein. Aus Sicht des Prü­fungs­rechts wäre dies in den Au- gen von Fischer und Die­te­rich jedoch als – in der Regel nicht gerecht­fer­tig­ter – Rück­tritt zu wer­ten, so dass die Ein­wil­li­gung in die Daten­ver­ar­bei­tung zwar jeder­zeit wi- der­ru­fen, prü­fungs­recht­lich jedoch aus Grün­den der Chan­cen­gleich­heit nicht fol­gen­los blei­ben könne.9

Im Fal­le von Stö­run­gen bei Online-Prü­fun­gen hin- gen die Fol­gen der Stö­run­gen – wie bei Prä­senz­prü­fun- gen – davon ab, in wes­sen Ver­ant­wor­tungs­sphä­re die­se fal­len. Die Hoch­schu­le tra­ge die Beweis­last, dass der Feh­ler nicht in ihrer Ver­ant­wor­tungs­sphä­re liege.10 Lie­ge der Feh­ler bei der Hoch­schu­le, so sei die Prü­fung zu un- ter­bre­chen, die Stö­rung zu behe­ben und die Prü­fung an- schlie­ßend fort­zu­set­zen, wobei ggf. ein Aus­gleich für die Stö­rung gewährt wer­den müs­se. Sei Abhil­fe nicht oder nicht recht­zei­tig mög­lich, sei die Prü­fung abzu­bre­chen und zu wie­der­ho­len. Fik­ti­ve Leis­tun­gen dürf­ten bei Stö- run­gen nicht bewer­tet werden.

Für tech­ni­sche Stö­run­gen wie auch für ande­re Stö- run­gen im Prü­fungs­ver­fah­ren gel­te die unver­züg­li­che Rüge­o­b­lie­gen­heit für den Prüf­ling, ansons­ten kön­ne sich

  1. 6  Soweit im Fol­gen­den allein aus Grün­den bes­se­rer Les­bar­keit die Form des gene­ri­schen Mas­ku­li­nums ver­wen­det wird, sind stets alle Geschlech­ter mitumfasst.
  2. 7  Aus­führ­lich Haa­ke, OdW 2021, 59 (59).
  3. 8  Haa­ke, OdW 2021, 201 (204) und OdW 2022, 215 (216 ff.).
  4. 9  Vgl. Die­te­rich, NVwZ 2021, 511 (519).
  5. 10  So zuletzt VG Köln, Beschluss v. 15.7.2022 – 6 L 651/22, wel­ches bei­ei­ner Stö­rung beim Zugang zur Online-Klau­sur eine Wür­di­gung der Gesamt­um­stän­de vor­nahm und zum Ergeb­nis kam, dass die

die­ser nicht mehr auf die Beacht­lich­keit des Feh­lers be- rufen. Bei Ver­dacht einer „Flucht in die tech­ni­sche Stö- rung“ lie­ge es im Ermes­sen der Prü­fungs­be­hör­de, für die Wie­der­ho­lungs­prü­fung eine Ein­zel­prü­fung in den Räu- men der Hoch­schu­le durch­zu­füh­ren, um eine sol­che er- neu­te Mög­lich­keit aus­zu­schlie­ßen, wel­che dafür kei­ne geson­der­te Rechts­grund­la­ge benötige.11 Um Stö­run­gen und Feh­ler im Prü­fungs­ver­fah­ren von Anfang an zu ver- mei­den, rie­ten Fischer und Die­te­rich dazu, kla­re tech­ni- sche Vor­ga­ben zu machen12 und ggf. Tuto­ri­als oder ei- nen Pro­be­durch­gang anzubieten.

Zahl­rei­che gericht­li­che Ent­schei­dun­gen zu Online- Prü­fun­gen befass­ten sich mit der Fra­ge der Täu­schung bei der Erbrin­gung der Prü­fungs­leis­tung. Dies zei­ge, dass die Täu­schungs­an­fäl­lig­keit bei Online-Prü­fun­gen groß sei, ins­be­son­de­re vor dem Hin­ter­grund erschwer­ter Auf­sichts­mög­lich­kei­ten. Die Täu­schung habe dabei so- wohl eine objek­ti­ve als auch sub­jek­ti­ve Kom­po­nen­te. Objek­tiv sei eine Täu­schungs­hand­lung erfor­der­lich, also die Vor­spie­ge­lung einer selbst­stän­di­gen und regu­lä­ren Prü­fungs­leis­tung, obwohl in Wahr­heit uner­laub­te bzw. nicht offen geleg­te Hil­fen genutzt wer­den. Dies sei etwa bei uner­laub­ter Zusam­men­ar­beit oder Ver­wen­dung nicht frei­ge­ge­be­ner Hilfs­mit­tel, ins­be­son­de­re auch bei der (nicht zuge­las­se­nen) Nut­zung von Künst­li­cher Intel- ligenz wie ChatGPT der Fall. Die Gren­ze zwi­schen einer zuläs­si­gen Vorbereitung13 und einer sank­ti­ons­wür­di­gen Täu­schungs­hand­lung wer­de über­tre­ten, wenn der Prüf- ling bei Beginn der Prü­fung das unzu­läs­si­ge Hilfs­mit­tel bei sich füh­re, nicht erst, wenn auf das Hilfs­mit­tel zu- rück­ge­grif­fen wer­de. Es rei­che für eine objek­ti­ve Täu- schungs­hand­lung daher bei­spiels­wei­se aus, das Smart- pho­ne mit zum Prü­fungs­platz zu neh­men, obwohl dies nicht zuläs­sig sei. Zudem müs­se in sub­jek­ti­ver Hin­sicht noch der zumin­dest beding­te Vor­satz zur Täu­schung hinzukommen.

Bereits aus Art. 12 Abs. 1 GG erge­be sich, dass die Rechts­fol­gen der Täu­schung in der jewei­li­gen Prü- fungs­ord­nung gere­gelt sein müss­ten. Da die Sank­ti­on re- gel­mä­ßig im Nicht­be­stehen bis hin zur Exma­tri­ku­la­ti­on lie­ge, sei­en dies schwer­wie­gen­de Rechts­fol­gen, die un- mit­tel­bar die Grund­rech­te des Prüf­lings berüh­ren. Die Prü­fungs­ord­nung sol­le des­halb unter­schied­li­che Sankti-

Hoch­schu­le hier­für ver­ant­wort­lich (und die Prü­fung somit zu wie- der­ho­len) sei, da nicht auf das Erfor­der­nis der aktu­ells­ten Ver­si­on des Brow­sers Goog­le Chro­me hin­ge­wie­sen wor­den sei.

11 Vgl. auch VG Düs­sel­dorf, Urteil v. 26.4.2021 – 6 K 957/20.
12 VG Köln, Beschluss v. 15.7.2022 – 6 L 651/22.
13 Sächs. OVG, Beschluss v. 16.2.2022 – 2 B 274/21 zur gemeinsamen

Erstel­lung von Lern­ma­te­ria­li­en, Bespre­chung bei Mor­gen­roth, OdW 2022, 273 ff.

ons­re­ge­lun­gen je nach Schwe­re des Ver­sto­ßes tref­fen, vom Nicht­be­stehen der Prü­fung bis zu einer Ver­sa­gung wei­te­rer Prüfungschancen.14 Bei der Ent­schei­dung über die kon­kre­te Sank­tio­nie­rung sei dann ins­be­son­de­re die Ver­hält­nis­mä­ßig­keit der Maß­nah­me zu beach­ten, indem die Rech­te des Prüf­lings aus Art. 12 Abs. 1 GG mit dem Inter­es­se der Hoch­schu­le an der Red­lich­keit der Wis­sen- schaft sowie der Gewähr­leis­tung der Chan­cen­gleich­heit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG) abge­wo­gen werden.

Die Prü­fungs­be­hör­de tref­fe die Beweis­last im Hin- blick auf die objek­ti­ve Täu­schungs­hand­lung und den Täu­schungs­vor­satz. Aller­dings kön­ne die Beweis­füh- rung durch das Füh­ren eines Anscheins­be­wei­ses erleich- tert werden.15 Im Rah­men der frei­en Beweis­wür­di­gung wer­de hier­bei die all­ge­mei­ne Lebens­er­fah­rung berück- sich­tigt, wenn nach die­ser ein typi­scher Gesche­hens­ab- lauf auf eine bestimm­te Ursa­che oder Fol­ge hin­deu­te. Dies sei z.B. bei deckungs­glei­chen Arbei­ten, ins­be­son­de- re bei Feh­ler­iden­ti­tät der Fall: die uner­laub­te Zusam- men­ar­beit erschei­ne dann nach der all­ge­mei­nen Lebens- erfah­rung naheliegend.16 Es blei­be dem Prüf­ling aller- dings unbe­nom­men, den Anscheins­be­weis zu erschüt- tern und einen aty­pi­schen Gesche­hens­ab­lauf nachzuweisen.

Der Anscheins­be­weis kön­ne sowohl für die objek­ti- ve als auch die sub­jek­ti­ve Kom­po­nen­te der Täu­schung geführt wer­den, z.B. auch für das bewuss­te Mit­füh­ren ei- nes Smart­phones als uner­laub­tes Hilfsmittel.17

Fischer und Die­te­rich warn­ten vor einer „Flucht in die prü­fungs­recht­li­che Ohn­macht“: Um die Zweck­mä- ßig­keit der Prü­fung für die Berufs­qua­li­fi­ka­ti­on und die Chan­cen­gleich­heit i.S.d. Art. 3 Abs. 1 GG auf­recht­zu­er- hal­ten, sei­en die Prü­fungs­be­hör­den zudem zu einem Min­dest­maß an Täu­schungs­ab­wehr­maß­nah­men ver- pflich­tet. Schließ­lich kom­me auch die All­ge­mein­heit spä­ter mit der beruf­li­chen Leis­tungs­er­brin­gung in Be- rüh­rung und habe ein Recht dar­auf, dass die Eig­nung für den Beruf durch eine zweck­mä­ßi­ge, ins­be­son­de­re hin- rei­chend aus­sa­ge­kräf­ti­ge, Prü­fung nach­ge­wie­sen wur­de, z.B. im Anwen­dungs­be­reich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG für die Tätig­keit eines Arz­tes. Über­dies sei die Chan­cen- gleich­heit aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG im Hin­blick auf die­je­ni­gen Prüf­lin­ge ver­letzt, die nur mit zuge­las­se­nen Hilfs­mit­teln arbei­ten. Weit­rei­chen­de Täu-

14 So z.B. VG Ber­lin, Urteil v. 6.2.2023 – 12 K 52/22.
15 So für das Prü­fungs­recht schon vor der Covid-19-Pan­de­mie das

BVerwG, Beschluss v. 23.1.2018 – 6 B 67.17.
16 S. z.B. VG Ber­lin, Beschluss v. 28.1.2022 – 12 K 65/21; Urteil v.

6.2.2023 – 12 K 52/22.

schun­gen kön­nen zudem auch die rela­ti­ve Bewer­tungs- ebe­ne der Kor­rek­to­ren verschieben.18

Nach Fischer und Die­te­rich soll­ten daher sowohl „sanf­te“ Gegen­maß­nah­men zur Täu­schungs­prä­ven­ti­on ergrif­fen wer­den, um Täu­schungs­hand­lun­gen von Vorn- her­ein zu erschwe­ren, z.B. ein hoher Zeit­druck, das Er- for­der­nis hand­schrift­li­cher Aus­ar­bei­tun­gen, die Umstel- lung auf Haus­ar­bei­ten oder die Aus­wahl ran­do­mi­sier­ter Fra­gen und Fra­ge­rei­hen­fol­gen. Die­se „sanf­ten Maß­nah- men“ zur Täu­schungs­ab­wehr könn­ten jedoch kei­nen Er- satz für eine Auf­sicht bei Auf­sichts­ar­bei­ten (Klau­su­ren) dar­stel­len, son­dern nur zusätz­lich ergrif­fen wer­den. „Har­te“ Gegen­maß­nah­men, die daten- und per­sön­lich- keits­recht­li­che Fra­gen auf­wer­fen, könn­ten zudem die Authen­ti­fi­zie­rung mit­tels Aus­wei­ses bzw. Licht­bil­des vor der Prü­fung bzw. die Video­auf­sicht oder Nut­zung eines Lock­down-Brow­sers wäh­rend der Prü­fung sein. Zur rechts­si­che­ren Täu­schungs­prä­ven­ti­on sei zu beach­ten, dass ins­be­son­de­re bei Open-Book-Prü­fun­gen nicht ohne wei­te­res von einer Zitier­pflicht bzgl. ver­wen­de­ter Quel­len aus­ge­gan­gen wer­den könne.19 Hier sei­en des- halb ein­deu­ti­ge Hin­wei­se der Prü­fungs­be­hör­de erfor- der­lich, wel­che Anfor­de­run­gen bei den unter­schied­li- chen Prü­fungs­for­ma­ten gestellt werden.

Über­dies stel­le die Nut­zung künst­li­cher Intel­li­genz das Prü­fungs­recht vor gro­ße Her­aus­for­de­run­gen. Die uner­laub­te oder (erlaub­te, aber) unge­kenn­zeich­ne­te Ver­wen­dung von Ergeb­nis­sen, die mit­tels ChatGPT er- zeugt wor­den sind, stel­le nach prü­fungs­recht­li­chen Grund­sät­zen eine Täu­schung dar, da eine selbst­stän­di­ge Prü­fungs­leis­tung vor­ge­spie­gelt wer­de, jedoch man­gels eige­ner For­mu­lie­rung kei­ne eigen­stän­di­ge Leis­tung vor- lie­ge. Ein Pla­gi­at dürf­te hin­ge­gen man­gels zitier­fä­hi­ger Quel­le nicht vor­lie­gen. Zur Inspi­ra­ti­on dür­fe KI aller- dings genutzt wer­den, wenn dies einem wis­sen­schaft­li- chen Aus­tausch glei­che, nur die Ant­wor­ten dürf­ten nicht in die Arbeit kopiert wer­den. Eine Sank­tio­nie­rung der uner­laub­ten bzw. nicht offen geleg­ten Nut­zung von ChatGPT sei meist bereits durch die bestehen­den Prü- fungs­ord­nun­gen recht­lich mög­lich. Pro­ble­ma­tisch sei viel­mehr die Nach­weis­bar­keit sol­cher unter Ein­satz von KI erfolg­ter Täuschungen.

Es sei­en zwei ver­schie­de­ne prü­fungs­recht­li­che Reak- tions­mög­lich­kei­ten gege­ben: Es kön­ne ver­sucht wer­den, die Nut­zung von KI zu ver­hin­dern, indem hauptsächlich

17 OVG NRW, Beschluss v. 16.2.2021 – 6 B 1868/20.
18 So im Zusam­men­hang mit Täu­schun­gen bei Online-Prüfungen

VG Frankfurt/Oder, Beschluss v. 11.5.2021 – VG 1 L 124/21. 19 So VG Dres­den, Beschluss v. 16.2.2021 – 5 L 5/21.

Haa­ke · Prü­fun­gen im digi­ta­len Zeit­al­ter 2 3 7

238 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 235–242

Prä­senz­prü­fun­gen durch­ge­führt wür­den. Zur Unter­bin- dung der Nut­zung in Haus­ar­bei­ten schlu­gen Fischer und Die­te­rich die Kom­bi­na­ti­on der Prü­fungs­leis­tung aus der Haus­ar­beit und einer anschlie­ßen­den Dis­pu­ta­tio vor, um zu über­prü­fen, ob der Prüf­ling die Leis­tung tat­säch- lich durch­drun­gen habe. Zudem kön­ne der Leis­tungs- pro­zess in die Bewer­tung ein­ge­hen, indem z.B. mit den Prüf­lin­gen im Lau­fe des Pro­zes­ses über die Zwi­sche­ner- geb­nis­se dis­ku­tiert wer­de. Fer­ner könn­ten die Auf­ga­ben- stel­lun­gen geän­dert wer­den, sodass kei­ne rei­ne Wis­sens- abfra­ge statt­fin­de. Es kön­ne z.B. die Ver­wen­dung be- stimm­ter Quel­len oder Auf­bau­tech­ni­ken in der Hausar- beit vor­aus­ge­setzt wer­den, wel­che in der Lehr­ver­an­stal­tung behan­delt wur­den. Dies erschwe­re, eine Lösung mit Hil­fe der KI zu erarbeiten.

Als wei­te­re Reak­ti­ons­mög­lich­keit sei auch die aus- drück­li­che Zulas­sung der Nut­zung von KI denk­bar: Wäre dies für alle Prüf­lin­ge mög­lich, blei­be deren Chan- cen­gleich­heit gewahrt. Hier müs­se dann aber gewähr- leis­tet sein, dass der Zweck der Prü­fung, nament­lich die Abfra­ge von Kom­pe­ten­zen, die für den spä­te­ren Beruf erfor­der­lich sind, erhal­ten bleibt.

II. Daten­schutz im digi­ta­len Zeitalter

Dar­auf­hin setz­te sich Prof. Dr. Rolf Schwart­mann (Tech- nische Hoch­schu­le Köln und Lei­ter der Köl­ner For- schungs­stel­le für Medi­en­recht) mit aktu­el­len daten- schutz­recht­li­chen Fra­ge­stel­lun­gen rund um Online- Prü­fun­gen auseinander.20

Zunächst ging Schwart­mann aus­führ­lich auf Her- aus­for­de­run­gen im Zusam­men­hang mit dem Ein­satz von Lar­ge Lan­guage Models (LLM) wie ChatGPT und ande­ren Bots in Prü­fun­gen ein, wel­che Tex­te, Bil­der oder ähn­li­ches gene­rie­ren. In LLM wie ChatGPT basiert die Aus­wahl der Ergeb­nis­se von Anfra­gen („prompts“) auf einer Wahr­schein­lich­keits­ver­tei­lung, die sich sto- chas­tisch aus dem Kon­text der vor­her­ge­hen­den Wör­ter ergibt. Es han­de­le sich somit um eine Simu­la­ti­on auf Grund­la­ge des vor­he­ri­gen Trai­nings der Daten­ba­sis des Sprach­mo­dells. Da die­se offen­kun­dig auch aus fal­schen Tat­sa­chen bestehen, sei­en Chat Bots wie ChatGPT problematisch.21

Bei der Ver­wen­dung sol­cher gene­ra­ti­ver KI sei zwi- schen Leh­re und Prü­fun­gen zu dif­fe­ren­zie­ren: Es sei mög­lich, die­se bewusst in der Leh­re ein­zu­set­zen. Eine Ver­wen­dung in Prü­fun­gen sei jedoch auszuschließen.

20 Schwart­mann ist zudem Sach­ver­stän­di­ger des Deut­schen Hoch- schul­ver­ban­des für IT- und Daten­recht und Vor­sit­zen­der der Ge- sell­schaft für Daten­schutz und Daten­si­cher­heit (GDD) e.V. sowie Her­aus­ge­ber der daten­schutz­recht­li­chen Kom­men­ta­re Schwart-

Dies sei allein schon der Viel­zahl von Unsi­cher­hei­ten und Unter­schied­lich­kei­ten bzgl. der Daten­ba­sis der Bots, wel­che auch von den genutz­ten Stand­or­ten abhän­gig sei, sowie der sto­chas­ti­schen Pro­gram­mie­rung geschul­det. Auf­grund die­ser tech­ni­schen Bedin­gun­gen wie­der­ho­len sich die Ant­wor­ten nicht, der Nut­zer erhal­te kei­ne repro- duzier­ba­ren Ergeb­nis­se, wes­halb Schwart­mann auch die Zitier­fä­hig­keit von ChatGPT als Quel­le ent­schie­den ab- lehn­te. Man­gels Repro­du­zier­bar­keit sei­en die Ant­wor­ten nicht wis­sen­schaft­lich überprüfbar.

In Prü­fun­gen müs­se die Ver­wen­dung durch die Prüf- lin­ge des­halb unter­bun­den wer­den. Es sei ledig­lich vor- stell­bar, dass die Prü­fungs­be­hör­de durch die KI einen Text gene­rier­te, wel­che die Prüf­lin­ge bewer­ten müss­ten. Die Prüf­lin­ge jedoch als Prü­fungs­leis­tung selbst etwas gene­rie­ren zu las­sen, füh­re auf­grund der tech­ni­schen Beson­der­hei­ten immer zu ande­ren Ergeb­nis­se und ver- sto­ße daher gegen die prü­fungs­recht­li­che Chan­cen- gleich­heit des Art. 3 Abs. 1 GG.

Zum Aus­schluss der Nut­zung von Bots durch Prüf- lin­ge kön­ne daher in die Prü­fungs­ord­nung auf­ge­nom- men wer­den, dass KI-basier­te Sys­te­me (z.B. LLM wie ChatGPT) grund­sätz­lich kei­ne zuläs­si­gen Hilfs- mit­tel sei­en. Über Aus­nah­men ent­schei­de der Prüfungsausschuss.

In Klau­su­ren und münd­li­chen Prü­fun­gen sowie Prä- sen­ta­tio­nen sei die Nut­zung von LLM auch zu ver­hin- dern. Schwie­rig­kei­ten berei­ten hin­ge­gen Haus­ar­bei­ten: Die Über­prü­fung der selbst­stän­di­gen Erstel­lung der Prü­fungs­leis­tung sei nicht mög­lich. Anders als bei Pla­gi- aten kön­ne kei­ne Soft­ware die Nut­zung eines Bots wie ChatGPT nach­wei­sen. Für den Nach­weis der Täu­schung tra­ge aber die Prü­fungs­be­hör­de die Beweis­last. Ins­be- son­de­re ange­sichts der schnel­len Ent­wick­lung der KI sei es nicht mög­lich, mit­hil­fe eines Pro­gramms einen siche- ren Nach­weis einer Nut­zung zu führen.

Schwart­mann plä­dier­te daher ähn­lich wie Fischer und Die­te­rich dafür, rei­ne Haus­ar­bei­ten durch eine Prü- fungs­leis­tung, wel­che aus der Kom­bi­na­ti­on aus einer Haus­ar­beit sowie einer münd­li­chen Prü­fung bestehe, zu erset­zen. Nach der Anfer­ti­gung der Haus­ar­beit kön­ne so in einer münd­li­chen Prü­fung abge­prüft wer­den, ob der Prüf­ling das in der Vor­le­sung behan­del­te Wis­sen tat- säch­lich durch­drun­gen habe. Bei einer rei­nen Ver­tei­di- gung der Arbeit kön­ne dies jedoch nicht nach­ge­wie­sen wer­den, sodass Schwart­mann eine ggf. von dem Stoff der Haus­ar­beit los­ge­lös­te münd­li­che Prü­fung favorisierte.

mann/Jas­pers/Thü­sing/Kugel­mann, Hei­del­ber­ger Kom­men­tar zu DS-GVO/BDSG und Schwart­mann/Pabst, Kom­men­tar zum LDG NRW.

21 Dazu Schwart­mann, For­schung & Leh­re 2023, 414 f.

Bei ein­fa­chen Haus­ar­bei­ten sei die­se Ände­rung „im lau- fen­den Geschäft“ mög­lich, bei Abschluss­ar­bei­ten wie Mas­ter- und Bache­lor­ar­bei­ten müs­se die Prü­fungs­be- hör­de dazu jedoch die For­mu­lie­rung ihrer Prü­fungs­ord- nung über­prü­fen und die­se ggf. geän­dert wer­den. Dies kön­ne auch bei der Akkre­di­tie­rung und Re-Akkre­di­tie- run­gen zu berück­sich­ti­gen sein.

Die Durch­füh­rung von Fern­klau­su­ren sieht Schwart- mann wei­ter­hin als schwie­rig an.22 Da sich unter Klau­su- ren Auf­sichts­ar­bei­ten ver­ste­hen las­sen, wer­den die­se mit­tels Video­auf­sicht beauf­sich­tigt. Da jedoch die Open Book-Arbeit ohne Auf­sicht als schrift­li­che Arbeit ein mil­de­res Mit­tel dar­stel­le, sei­en Fern­klau­su­ren unter Vi- deo­auf­sicht meist nicht zur Durch­füh­rung einer schrift- lichen Online-Prü­fung erfor­der­lich. Zwar han­de­le es sich um eine ande­re Prü­fungs­form, nament­lich eine Haus­ar­beit anstel­le einer Klau­sur, es kön­nen aber oft trotz­dem ähn­li­che Kom­pe­ten­zen wie in einer Klau­sur abge­fragt wer­den. In vie­len Fäl­len sei­en daher weni­ger ein­griffs­in­ten­si­ve Alter­na­ti­ven vor­han­den. Eine Recht- fer­ti­gung der Video­über­wa­chung nach Art.6Abs.1lit.e)DS-GVOgelingedaherinvielenFäl- len nicht. Zudem bezwei­felt Schwart­mann wei­ter­hin die Eig­nung der Video­auf­sicht zur Täu­schungs­prä­ven­ti­on, da die­se außer­halb des Erfas­sungs­be­reichs der Kame­ra wei­ter­hin pro­blem­los mög­lich seien.

Die Durch­füh­rung einer Video­auf­sicht sei auch nicht durch Ein­ho­len einer Ein­wil­li­gung der Prüf­lin­ge nach Art. 6 Abs. 1 lit. a) DS-GVO zu recht­fer­ti­gen. Denn für eine wirk­sa­me Ein­wil­li­gung feh­le es an deren Frei­wil­lig- keit i.S.d. Art. 7 Abs. 4 DS-GVO. Selbst beim Ange­bot ei- ner alter­na­ti­ven Prä­senz­prü­fung habe zumin­dest zu Zei- ten der Covid-19-Pan­de­mie wegen der Gefahr der Infek- tion kei­ne Frei­wil­lig­keit vorgelegen.

Über daten­schutz­recht­li­che Pro­ble­me hel­fe auch kei- ne Erlaub­nis zur Video­auf­sicht durch den Lan­des­ge­setz- oder ‑ver­ord­nungs­ge­ber hin­weg: Auch die­se müs­sen sich an der höher­ran­gi­gen DS-GVO mes­sen lassen.

Anders als ein Ver­stoß gegen das Prü­fungs­recht möge eine daten­schutz­recht­li­che Ver­let­zung nicht zu Feh­lern im Ver­fah­ren oder der Bewer­tung der Prü­fung füh­ren. Dies kön­ne nach § 46 VwVfG (ggf. ana­log) nur der Fall sein, wenn sich der daten­schutz­recht­li­che Ver- stoß auf das Ergeb­nis der Prü­fung auswirke.23 Allerdings

  1. 22  S. Haa­ke, OdW 2022, 215 (219). Ins­be­son­de­re sei wei­ter­hin das Proc­to­ring, also die Video­auf­sicht mit­tels einer dafür vor­ge- sehe­nen Soft­ware abzu­leh­nen, da dar­in ein Ver­stoß gegen das Grund­recht auf Gewähr­leis­tung der Ver­trau­lich­keit und Integ- rität infor­ma­ti­ons­tech­ni­scher Sys­te­me aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG liege.
  2. 23  Dies lehn­ten sowohl Schwart­mann als auch Fischer und Die­te­rich bereits in vor­he­ri­gen Dis­kus­sio­nen ab, Haa­ke,

wies Schwart­mann erneut dar­auf hin, dass ein Ver­stoß die Sank­ti­ons­mög­lich­kei­ten der DS-GVO aus­lö­se. Ein Buß­geld nach Art. 83 DS-GVO sei gem. § 43 Abs. 3 BDSG zwar für öffent­li­che Stel­len wie staat­li­che Hoch­schu­len aus­ge­schlos­sen. In Betracht kämen aller­dings Scha­dens- ersatz­an­sprü­che gegen die Hoch­schu­le nach Art. 82 DS- GVO. Dem­nach kann der Ersatz eines mate­ri­el­len oder imma­te­ri­el­len Scha­dens auf­grund einer Daten­schutz­ver- let­zung ver­langt wer­den. Die DS-GVO ken­ne daher auch anders als das deut­sche Recht kei­ne Baga­tell­gren­ze, wel- che für die Gel­tend­ma­chung eines Schmer­zens­geld­an- spruchs über­schrit­ten wer­den müs­se. Der Scha­den kön- ne bereits im Unwohl­sein der Betrof­fe­nen über den Kon- troll­ver­lust ihrer rechts­wid­ri­gen Daten­ver­ar­bei­tung lie- gen.24 Ins­be­son­de­re vor die­sem Hin­ter­grund warn­te Schwart­mann vor daten­schutz­recht­li­chen Rechts­strei­tig- kei­ten mit Scha­dens­er­satz­for­de­run­gen der Studierenden.

III. Fra­ge­run­de / Diskussion

Anschlie­ßend beant­wor­te­ten die drei Refe­ren­ten zunächst im Vor­feld ein­ge­reich­te Fra­gen der Tagungs- teil­neh­men­den. Die­se Fra­ge­run­de und die anschlie­ßen- de Dis­kus­si­on wur­den von Prof. Ulf Pall­me König25 und Prof. Dr. Vol­ker Epping mode­riert.

Zum Füh­ren eines Anscheins­be­wei­ses über die un- zuläs­si­ge Zusam­men­ar­beit wäh­rend einer Online-Prü- fung sei laut Fischer und Die­te­rich nicht allein das gleich- zei­ti­ge Absen­den der Ant­wor­ten geeig­net, wel­ches am elek­tro­ni­schen Zeit­stem­pel erkenn­bar sei. Es müs­sen wei­te­re Anhalts­punk­te wie bei­spiels­wei­se Feh­ler­iden­ti­tät hinzukommen.

Feh­ler­iden­ti­tät oder eine Viel­zahl gleich­lau­ten­der Lösun­gen müs­se nicht zwin­gend das Ergeb­nis einer un- erlaub­ten Zusam­men­ar­beit von Prüf­lin­gen sein, son­dern kön­ne auch dar­auf zurück­zu­füh­ren sein, dass von einem Prüf­ling abge­schrie­ben wur­de. Der Urhe­ber der Lösung bege­he dabei kei­nen Täu­schungs­ver­such durch das Ab- schrei­ben­las­sen. Für eine Sank­tio­nie­rung die­ser – von der Prü­fungs­be­hör­de nach­zu­wei­sen­den – unzu­läs­si­gen Beein­flus­sung der Prü­fung sei wegen des Geset­zes­vor­be- halts daher eine eige­ne Rechts­grund­la­ge in der Prü- fungs­ord­nung erforderlich.26

OdW 2021, 201 (205).
24 EuGH, Urteil v. 4.5.2023 – C‑300/21.
25 Pall­me König ist Kanz­ler der Uni­ver­si­tät Düs­sel­dorf a.D. und

Vor­stands­mit­glied des Ver­eins zur För­de­rung des deut­schen und

inter­na­tio­na­len Wis­sen­schaft­rechts.
26 Die­ses Ver­hal­ten sei in vie­len Prü­fungs­ord­nun­gen als „unzu­läs­si­ge

Beein­flus­sung der Prü­fung“ oder „Stö­rung des ord­nungs­ge­mä­ßen Prü­fungs­ab­laufs“ sanktioniert.

Haa­ke · Prü­fun­gen im digi­ta­len Zeit­al­ter 2 3 9

240 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 235–242

Was die Mit­nah­me von eige­nen Gerä­ten wie Lap- tops angeht, so tref­fe die Prüf­lin­ge aus dem Grund­satz von Treu und Glau­ben eine Mit­wir­kungs­pflicht dahin­ge- hend, dass die Prü­fungs­be­hör­den eine heut­zu­ta­ge übli- che tech­ni­sche Aus­stat­tung grund­sätz­lich vor­aus­set­zen kön­nen. Ähn­lich wie zum Gebrauch eines eige­nen Ta- schen­rech­ners oder Buches könn­ten die­se des­halb aus prü­fungs­recht­li­cher Sicht auch zur Ver­wen­dung eines eigenenLaptopsverpflichten.MachederPrüflingaller- dings im Ein­zel­fall glaub­haft, dass er über kei­nen Lap­top ver­fü­ge, müs­se die Hoch­schu­le Abhil­fe schaf­fen. Tre­te am (eige­nen) Gerät in der Prü­fung ein Defekt auf, lie­ge das grund­sätz­lich in der Ver­ant­wor­tungs­sphä­re des Prüf­lings. Die Hoch­schu­le sei nicht ver­pflich­tet, ein Er- satz­ge­rät wäh­rend der Prü­fung bereit zu stel­len. Aus Ku- lanz sei jedoch zu emp­feh­len, eini­ge Ersatz­stü­cke vorzuhalten.

Dage­gen sah Schwart­mann das Mit­brin­gen des eige- nen Lap­tops zu Prü­fungs­zwe­cken kri­tisch: Denn wie an- dere pri­va­te Hilfs­mit­tel müss­ten die­se zur Täu­schungs- prä­ven­ti­on im Vor­feld oder wäh­rend der Prü­fung kont- rol­liert wer­den. Dies sei bei einem Lap­top jedoch nicht das glei­che wie bei einem Taschen­rech­ner: Bei der Kon- trol­le des Inhalts eines pri­va­ten Lap­tops gera­te die Prü- fungs­be­hör­de in Kol­li­si­on mit dem Grund­recht auf Ge- währ­leis­tung und Inte­gri­tät infor­ma­ti­ons­tech­ni­scher Sys­te­me des Prüf­lings und ver­ar­bei­te des­sen per­so­nen- bezo­ge­ne Daten, ohne dass dies erfor­der­lich sei. Auch eine Ein­wil­li­gung des Prüf­lings hel­fe dar­über nicht hin- weg, da die­se nicht frei­wil­lig sein kön­ne, wenn der Prüf- ling auf ande­re Wei­se nicht an der Prü­fung teil­neh­men kön­ne. Es han­de­le sich daher um einen daten­schutz- recht­li­chen Ver­stoß, der ver­mie­den wer­den soll­te, indem die Hoch­schu­le eige­ne Gerä­te bereitstelle.

Fischer und Die­te­rich stimm­ten Schwart­mann in der Hin­sicht zu, dass ein Ver­stoß gegen das Daten­schutz- recht grund­sätz­lich nicht auf das Prü­fungs­recht durch- schla­ge und zur Feh­ler­haf­tig­keit der Prü­fung füh­re. Sie wie­sen jedoch dar­auf hin, dass ein Daten­schutz­ver­stoß ggf. Pro­ble­me beim Nach­weis einer Täu­schung berei­ten kön­ne: Sol­le die­ser mit­tels einer daten­schutz­rechts­wid­ri- gen Proc­to­ring-Soft­ware geführt wer­den, möge die­se für die Beweis­füh­rung unge­eig­net sein. Der Beweis wäre dann auf rechts­wid­ri­ge Wei­se erlangt, sodass ggf. an ein Beweis­ver­wer­tungs­ver­bot ähn­lich wie im Straf­pro­zess zu den­ken sei.

In Zusam­men­hang mit der erlaub­ten Nut­zung von ChatGPT durch Stu­die­ren­de in Leh­re und Prü­fun­gen warf Schwart­mann die Fra­ge auf, wie es mit der Haf­tung für Rechts­ver­stö­ße aus­se­he, ent­we­der bei Datenschutz-

oder Urhe­ber­rechts­ver­stö­ßen der KI, indem die­se bei- spiels­wei­se Inter­views mit rea­len Per­so­nen erfin­de. Un- geklärt blei­be, wem sol­che Ver­stö­ße zuzu­rech­nen sei­en. Zudem sei undurch­sich­tig, wel­che Daten ihrer Nut­zer die KI selbst zu wel­chen Zwe­cken ver­ar­bei­te und spei- che­re. Bevor Bots wie ChatGPT als „gene­ral pur­po­se“ Anwen­dun­gen in Leh­re und Prü­fun­gen ver­wen­det wer­den, sei­en die­se Fra­gen drin­gend zu klä­ren. Die sei allein schon der Pflich­ten der Hoch­schu­le aus Art. 32 ff. DS-GVO, ins­be­son­de­re der Pflicht zur Daten- schutz-Fol­gen­ab­schät­zung des Art. 35 geschul­det, wel­che ohne Klar­heit über die­se Fra­gen nicht mög­lich sei.

Was den Aus­schluss von ChatGPT von der Lis­te zu- läs­si­ger Hilfs­mit­tel angeht, so stell­ten die Refe­ren­ten klar, dass die Schwie­rig­keit der Über­prü­fung und des Nach­wei­ses nicht die recht­li­che Opti­on des Aus­schlus­ses ver­schlie­ße. Nur, wenn nicht mehr über­prüf­bar sei, ob eine eigen­stän­di­ge Leis­tung vor­lie­ge, habe die Prü­fung kei­nen Aus­sa­ge­ge­halt mehr, sodass deren Zweck vor dem Hin­ter­grund des Art. 12 Abs. 1 GG nicht mehr er- füllt wer­den könne.

Fischer und Die­te­rich stell­ten klar, dass das Füh­ren ei- nes Anscheins­be­wei­ses für die Nut­zung von ChatGPT vom Ein­zel­fall abhän­gig blei­be: Brü­che in der For­mu­lie- rung oder Argu­men­ta­ti­on reich­ten dafür regel­mä­ßig nicht allein aus, da dies ins­be­son­de­re bei län­ge­ren Arbei- ten auch mit der glei­chen Wahr­schein­lich­keit aus ande- ren Umstän­den her­rüh­ren kön­ne. Fer­ner gebe es auch man­che Pro­gram­me, die ggf. Hin­wei­se auf die Nut­zung von ChatGPT lie­fer­ten. Man­che Hoch­schu­len wähl­ten z.B. auch ver­steck­te Wer­te und Begrif­fe, wel­che erst beim Ein­ko­pie­ren der Prü­fungs­auf­ga­be in ein Pro­gramm sicht­bar wür­den und dazu führ­ten, die uner­laub­te Ver- wen­dung von Hilfs­mit­teln auf­zu­de­cken. Dar­über hin­aus plä­dier­ten Fischer und Die­te­rich ins­be­son­de­re auch für eine Anpas­sung der Auf­ga­ben­stel­lun­gen, um die Nut- zung von Bots zu ver­mei­den (z.B. die Ein­be­zie­hung von Metho­den und Quel­len aus der Lehrveranstaltung).

Will die Hoch­schu­le die Nut­zung von KI in Prü­fun- gen dage­gen zulas­sen, so herrsch­te unter den Refe­ren­ten Unei­nig­keit hin­sicht­lich der Zitier­fä­hig­keit von Bots wie ChatGPT.

Es han­de­le sich nach Fischer und Die­te­rich zwar nicht um eine zitier­fä­hi­ge Quel­le im klas­si­schen Sin­ne, da kei- ne geis­ti­ge Eigen­leis­tung vor­lie­ge, die einer Per­son zuzu- ord­nen sei, sodass es an einem iden­ti­fi­zier­ba­ren Urhe­ber feh­le. Ein Ver­weis auf den jewei­li­gen „Prompt“ sei auch nicht als Beleg geeig­net, da sich die KI-basier­te Ant­wort hier­auf jeder­zeit ändern kön­ne. Es sei aber denk­bar, die Ant­wor­ten von ChatGPT als Anla­ge einer Hausarbeit

bei­zu­fü­gen, wenn dies von der Prü­fungs­be­hör­de vor­ge- geben wer­de, etwa als Screen­shot einer Kom­mu­ni­ka­ti­on mit ChatGPT. In prü­fungs­recht­li­cher Hin­sicht kön­ne auf die­se Wei­se zumin­dest das Maß an Eigen­stän­dig­keit, mit wel­cher der Prüf­ling die Leis­tung erbracht habe, nach­ge- wie­sen wer­den. Dage­gen hielt Schwart­mann ChatGPT auch auf die­se Wei­se nicht für zitier­fä­hig. Auch die An- lagen sei­en nicht repro­du­zier- und damit nicht über- prüf­bar, sodass die Prü­fungs­be­hör­de nicht kon­trol­lie­ren kön­ne, ob es sich um ein Fehl­zi­tat handele.

IV. Resü­mee und Ausblick

Nach der Rück­kehr in den „Nor­mal­be­trieb“ der Hoch- schu­len mit dem Ende der Covid-19-Pan­de­mie wer­den digi­ta­le For­ma­te da bestehen blei­ben, wo sie einen Mehr- wert für Leh­re und Prü­fun­gen bie­ten. Zumin­dest in prü- fungs­recht­li­cher Hin­sicht bestehen drei Jah­re nach Beginn der Pan­de­mie genug Judi­ka­te, um rechts­si­cher digi­ta­le Prü­fun­gen durch­zu­füh­ren. In daten­schutz­recht- licher Hin­sicht ist dage­gen bis­her kei­ne rich­tungs­wei- sen­de gericht­li­che Ent­schei­dung erfolgt. Dies mag auch der Zustän­dig­keit des EuGH für die Aus­le­gung der DS- GVO geschul­det sein und hat zur Fol­ge, dass die Hoch-

schu­len eige­ne daten­schutz­recht­li­che Risi­ko­ab­wä­gun­gen vor­neh­men müssen.

Seit Ende letz­ten Jah­res beschäf­tigt die Prü­fungs­be- hör­den zuneh­mend die Nut­zung von Bots wie ChatGPT durch die Prüf­lin­ge. Dazu bestehen vie­le unge­klär­te Fra- gen, ins­be­son­de­re auf prak­ti­scher Ebe­ne: Dass die uner- laub­te Nut­zung eine Täu­schung dar­stellt, mag fests­te- hen, die­se nach­zu­wei­sen, fällt dage­gen jedoch erheb­lich schwerer.

Epping beton­te aller­dings, dass die Hoch­schu­len In- nova­tio­nen wie ChatGPT nicht igno­rie­ren dürf­ten: Statt- des­sen sol­le der Ent­wick­lung Rech­nung getra­gen wer- den und die Hoch­schu­len müs­sen ggf. ande­re Prü­fungs- for­men ent­wi­ckeln, um eigen­stän­di­ge Leis­tun­gen durch die Prüf­lin­ge sicherzustellen.

Stück­radt resü­mier­te, dass die Nut­zung künst­li­cher Intel­li­genz durch Stu­die­ren­de und Prüf­lin­ge in Zukunft ein Schwer­punkt­the­ma sein könn­te. Des­halb bestehe ggf. in Zukunft das Bedürf­nis, sich mit die­ser in einer ge- son­der­ten Ver­an­stal­tung auseinanderzusetzen.

Karo­li­ne Haa­ke ist Rechts­re­fe­ren­da­rin am Ober­lan- des­ge­richt Cel­le und Dok­to­ran­din an der Leib­niz Uni- ver­si­tät Hannover.

Haa­ke · Prü­fun­gen im digi­ta­len Zeit­al­ter 2 4 1

242 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 235–242

Wis­sen­schafts­go­ver­nan­ce ist ein hoch­ak­tu­el­les The­ma: Der Koali­ti­ons­ver­trag der Bun­des­re­gie­rung kün­digt die För­de­rung moder­ner Führungs‑, Per­so­nal- und Orga­ni- sati­ons­struk­tu­ren und Stan­dards für Füh­rungs- und Com­pli­ance-Pro­zes­se im Wis­sen­schafts­sys­tem an.2 Zugleich fin­det ein inten­si­ver öffent­li­cher Dis­kurs über Macht­miss­brauch, Arbeits­be­din­gun­gen, Füh­rung und Zusam­men­ar­beit in der Wis­sen­schaft statt, in dem der Umgang mit Kon­flik­ten zwi­schen Orga­ni­sa­ti­ons­mit­g­lie- dern the­ma­ti­siert wird. Vor die­sem Hin­ter­grund tra­fen sich am 13. und 14. März 2023 Gover­nan­ce-Fach­leu­te aus Poli­tik, Ver­wal­tung und Wis­sen­schaft, Ver­ant­wort­li­che in Füh­rungs­po­si­tio­nen in der Wis­sen­schaft und For- schen­de auf allen Kar­rie­re­stu­fen zu Vor­trä­gen, Debat­ten und Aus­tausch. Ein­ge­la­den hat­ten die Ber­gi­sche Uni­ver- sität Wup­per­tal (BUW) gemein­sam mit dem Baye­ri- schen Staats­in­sti­tut für Hoch­schul­for­schung und Hoch- schul­pla­nung (IHF), der Uni­ver­si­tät Pas­sau, der Hoch- schul­rek­to­ren­kon­fe­renz (HRK) und dem Deut­schen Hoch­schul­ver­band (DHV).

Zunächst begrüß­te Pro­fes­sor Dr. Bir­git­ta Wolff als Rek­to­rin der BUW die ca. 120 Teil­neh­men­den. Sie be- ton­te, dass die Wis­sen­schaft vor gro­ßen Her­aus­for­der- ungen in Bezug auf Gover­nan­ce und Kon­flikt­be­ar­bei- tung stün­de, dass aber die For­schung bereits in der Lage sei, empi­risch fun­dier­te, pra­xis­taug­li­che Lösungs­an­sät­ze anzu­bie­ten und wei­ter­zu­ent­wi­ckeln. Die aktu­el­le Kon­fe- renz ver­ste­he sich als Ein­la­dung, die Her­aus­for­de­run­gen früh­zei­tig und aktiv gemein­sam anzu­ge­hen. DHV-Prä­si- dent Pro­fes­sor Dr. Bern­hard Kem­pen und Pro­fes­sor Dr. Oli­ver Gün­ther, HRK-Vize­prä­si­dent für Gover­nan­ce, Leh­re und Stu­di­um, stell­ten in ihrer Begrü­ßung her­aus, dass Kon­flik­te über­all dort, wo Men­schen zusam­men­ar- bei­te­ten, unver­meid­bar sei­en. Auch und gera­de im Wis- sen­schafts­sys­tem habe es Macht­miss­brauch und Fehl-

1 Auf der Basis der Tagungs­vor­trä­ge und ‑dis­kus­sio­nen wur­de von den Ver­an­stal­ten­den die „Wup­per­ta­ler Erklä­rung zur ver­trau- ens­wür­di­gen Wis­sen­schafts­go­ver­nan­ce“ ver­ab­schie­det, in der
elf Grund­sät­ze für einen kon­struk­ti­ven und im Ein­klang mit rechts­staat­li­chen Prin­zi­pi­en befind­li­chen Umgang mit Kon­flik- ten auf­ge­stellt wer­den (https://www.ihf.bayern.de/fileadmin/ user_upload/IHF/Veranstaltungen/Tagung_Governance_2023/

ver­hal­ten schon immer gege­ben; neu sei aller­dings, dass der dadurch ent­ste­hen­de Scha­den sowohl für Indi­vi­du­en als auch für das diver­ser gewor­de­ne Wis­sen­schafts­sys- tem als Pro­blem erkannt und the­ma­ti­siert wer­de. Das Ziel von Ver­än­de­run­gen müss­te sein, die Häu­fig­keit von Kon­flik­ten und Fehl­ver­hal­ten zu redu­zie­ren und den Umgang mit ihnen bewuss­ter zu gestalten.

I. Die Her­aus­for­de­run­gen verstehen

In ihrem Ein­füh­rungs­vor­trag knüpf­te die ehe­ma­li­ge Prä- siden­tin der Uni­ver­si­tät Pas­sau und Pro­fes­so­rin für Betriebs­wirt­schafts­leh­re mit Schwer­punkt Gover­nan­ce, Pro­fes­sor Dr. Clau­dia Jung­wirth, zunächst an die Ein­sich- ten aus der Vor­läu­fer­ta­gung „Absen­der unbe­kannt. Ver- fah­ren der Wis­sen­schaft zum Umgang mit anony­men Anschuldigungen“3 im Jahr 2020 an. Hier sei aus­ge­hend von der Her­aus­for­de­rung des Umgangs mit anony­men Mel­dun­gen von Fehl­ver­hal­ten — ins­be­son­de­re von Füh- rungs­fehl­ver­hal­ten — klar gewor­den, dass in der Wis­sen- schaft spe­zi­el­le Bedin­gun­gen für pro­fes­sio­nel­le Füh­rung und den Umgang mit Kon­flik­ten herrsch­ten, und dass Wis­sen­schafts­ein­rich­tun­gen anfäl­lig für beson­ders pro- ble­ma­ti­sche Kon­flikt­kon­stel­la­tio­nen und ‑ent­wick­lun- gen sei­en. Ins­be­son­de­re sei­en hier­für die unkla­ren Regel­sys­te­me ver­ant­wort­lich, eine man­geln­de Qua­li­täts- siche­rung in der Nach­wuchs­för­de­rung sowie die unzu- rei­chen­de Aus­bil­dung von Lei­tungs­per­so­nen in Füh- rungs- und Manage­ment­fä­hig­keit. Neben dem poten­ti- ellen Scha­den für die Per­so­nen sei auch der Scha­den für die Wis­sen­schaft als Insti­tu­ti­on zu beden­ken, für deren Leis­tungs­fä­hig­keit und Legi­ti­ma­ti­on das Ver­trau­en der Akteu­re in allen Berei­chen der Gesell­schaft unver­zicht- bar sei. Als Arbeits­grund­la­ge für die Tagung sei­en unter dem Begriff „Gover­nan­ce“ die Pro­zes­se, Regeln und Ver-

Wuppertaler_Erkl%C3%A4rung_29032023.pdf [zuletzt abgerufen

15.08.2023]).
2 https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/koalitionsver-

trag-2021–1990800 [zuletzt abge­ru­fen 14.08.2023].
3 https://www.digital.uni-passau.de/beitraege/2020/tagung-absen-

der-unbe­kannt [zuletzt abge­ru­fen 14.05.2023].

Mai­ke Reimer

Gover­nan­ce in Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen — Kon­struk­ti­ver Umgang mit Kon­flik­ten und Vor­wür-fen. Bericht über die Tagung am 16. und 17.3.2023 an der Ber­gi­schen Uni­ver­si­tät Wup­per­tal1

Ord­nung der Wis­sen­schaft 2023, ISSN 2197–9197

244 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 243–250

fah­ren zu ver­ste­hen, die eine Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­ti­on lei­ten und sicher­stel­len, dass das Orga­ni­sa­ti­ons­ziel effek- tiv und trans­pa­rent erreicht wird.

Pro­fes­sor Dr. Isa­bell Wel­pe, Lei­te­rin des IHF, setz­te den Ein­füh­rungs­vor­trag mit einer Ana­ly­se der Her­aus- for­de­run­gen von Gover­nan­ce in der Wis­sen­schaft im Hin­blick auf Kon­troll- und Qua­li­täts­si­che­rungs­an­sät­ze in For­schungs­or­ga­ni­sa­tio­nen fort. Sie stell­te her­aus, dass Ergeb­nis­se und Erfol­ge wis­sen­schaft­li­chen Arbei­tens nur schwer direkt und zwei­fels­frei zu mes­sen, zu bewer- ten und zuzu­rech­nen sei­en. Daher erhiel­ten die Mecha- nis­men der Pro­zess- und Input­kon­trol­le eine zen­tra­le Bedeu­tung, die die Aus­ge­stal­tung von Pro­zes­sen, Regeln und Ver­fah­ren der Per­so­nal­füh­rung sowie der Aus­wahl und Sozia­li­sa­ti­on von Per­so­nal betref­fen. Hier gebe es in der Wis­sen­schaft deut­li­chen Opti­mie­rungs­be­darf. Zwar gäl­ten all­ge­mei­ne Rechts‑, Ver­wal­tungs- und Per­so­nal- füh­rungs­stan­dards sowie in zuneh­men­dem Maße auch wis­sen­schafts­spe­zi­fi­sche Richt­li­ni­en (z.B. von Fach­ge- sell­schaf­ten, der DFG oder in den Sta­tu­ten ein­zel­ner Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen). Aller­dings sei­en sowohl inter­ne­al­sauch­ex­ter­ne­Lei­tungs-und­Auf­sichts­ebe­nen in Hoch­schu­len und For­schungs­or­ga­ni­sa­tio­nen häu­fig unzu­rei­chend getrennt, so dass unkla­re Zustän­dig­kei­ten sowie Inter­es­sen- und Rol­len­kon­flik­te die Umset­zung pro­fes­sio­nel­ler und leit­li­ni­en­ge­rech­ter Ver­fah­ren der Per­so­nal­re­kru­tie­rung und ‑füh­rung beein­träch­ti­gen. Ins­be­son­de­re sei pro­ble­ma­tisch, dass dies sys­te­ma­tisch die­je­ni­gen Mit­ar­bei­ten­den benach­tei­li­ge, die nicht in al- len Merk­ma­len der Norm der jewei­li­gen Ein­rich­tung ent­sprä­chen. Pro­fes­sor Dr. Wel­pe wies dar­auf hin, dass Fehl­ver­hal­ten und Macht­miss­brauch sich sowohl gegen jün­ge­re als auch gegen eta­blier­te Per­so­nen rich­ten kön­ne und emp­fahl, den Fokus von den indi­vi­du­el­len Per­so­nen zu neh­men und auf das Sys­tem der Akteu­re zu rich­ten, um sinn­vol­le und wis­sen­schafts­ad­äqua­te Ansät­ze für die Lösung der skiz­zier­ten Pro­ble­me zu entwickeln.

Im anschlie­ßen­den Bei­trag „Gover­nan­ce, gen­der and con­flict in rese­arch orga­ni­sa­ti­ons: A case stu­dy“ von Pro- fes­sor Dr. Nico­le Boi­vin beschrieb die ehe­ma­li­ge Direk­to- rin am MPI für Mensch­heits­ge­schich­te detail­liert den mehr­jäh­ri­gen Aus­ein­an­der­set­zungs­pro­zess mit ihrem Arbeit­ge­ber, der MPG, der zu ihrer Ent­las­sung als Direk- torin auf­grund von Vor­wür­fen des wis­sen­schaft­li­chen und nicht­wis­sen­schaft­li­chen Fehl­ver­hal­tens geführt hat- te. Dabei habe es zahl­rei­che Män­gel in den Ver­fah­ren ge- geben, die aller­dings auf­grund der hoch­pro­ble­ma­ti­schen Gover­nan­ce­struk­tu­ren der MPG und der feh­len­den ex-

4 https://www.dfg.de/foerderung/grundlagen_rahmenbedingungen/ gwp/ [zuletzt abge­ru­fen am 14.08.2023].

ter­nen Auf­sicht kei­ne Kon­se­quen­zen gehabt hät­ten. Sie the­ma­ti­sier­te auch die Tat­sa­che, dass ähn­li­che Ent­las- sun­gen bzw. Rück­stu­fun­gen in der MPG vor allem Frau- en betrof­fen haben und dies auf einen im Sys­tem inhä- ren­ten Bias hinweise.

In der Dis­kus­si­on wur­de die Eta­blie­rung einer offe- nen Feh­ler­kul­tur, in der Kon­flikt­the­ma­ti­sie­rung und ‑bear­bei­tung als Stär­ke einer Orga­ni­sa­ti­on wahr­ge­nom- men wür­de, als wich­ti­ge Auf­ga­be der Füh­rung ange­spro- chen. Auch fal­le es in die Ver­ant­wor­tung der orga­ni­sa­ti- ona­len Füh­rungs­per­so­nen und ‑gre­mi­en, Fair­ness und Trans­pa­renz in inter­nen Ver­fah­ren zu wah­ren und ihre Mit­ar­bei­ten­den vor Mob­bing und Beläs­ti­gung zu schüt- zen. Ansprech­part­ner wie Ombuds­stel­len oder Gleich- stel­lungs­be­auf­trag­te sei­en in der Regel mit gerin­gen Res- sourcen aus­ge­stat­tet und ohne rea­le Durch­set­zungs- macht. Wei­ter­hin wur­de der Umstand, dass bis­her vor allem Frau­en aus Lei­tungs­po­si­tio­nen der MPG ent­fernt wor­den sei­en, in Zusam­men­hang mit den auf intrans­pa- ren­ten Netz­wer­ken basie­ren­den Macht­struk­tu­ren der Wis­sen­schaft gebracht, die män­ner­do­mi­niert sei­en und daher den Sta­tus Quo gegen Ver­än­de­run­gen verteidigten.

II. Per­spek­ti­ven auf die Herausforderungen

Im ers­ten von drei Impuls­vor­trä­ge leg­te Dr. Hei­de Ahrens, Gene­ral­se­kre­tä­rin der Deut­schen For­schungs­ge- mein­schaft (DFG), „Die Rol­le der DFG bei Hin­wei­sen auf Fehl­ver­hal­ten aus der Wis­sen­schaft“ dar. Hier sei­en zum einen die „Leit­li­ni­en zur Siche­rung guter wis­sen- schaft­li­cher Praxis“4 der DFG zu nen­nen, deren Umset- zung durch For­schungs­or­ga­ni­sa­tio­nen ab August 2023 Vor­aus­set­zung für eine Antrag­stel­lung bei er DFG sei, zum ande­ren die Eta­blie­rung des Gre­mi­ums „Ombuds- man für die Wissenschaft“5, das allen Wis­sen­schaft­le­rin- nen und Wis­sen­schaft­lern auch ohne Bezug zur DFG zur Bera­tung und Unter­stüt­zung in Fra­gen guter wis­sen- schaft­li­cher Pra­xis zur Ver­fü­gung ste­he. Sie beton­te auch, dass sich Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft- lern stär­ker als Füh­rungs­kräf­te in ihren For­schungs­teams und ver­ant­wort­li­che Vor­ge­setz­te ihrer Mit­ar­bei­ten­den begrei­fen müss­ten, und dass der Aspekt der Füh­rungs- kom­pe­tenz auch bei der Aus­wahl von Per­so­nal ein höhe- res Gewicht bekom­men soll­ten. Danach sprach Pro­fes­sor Dr. Tho­mas Krieg als Vize­prä­si­dent der Deut­schen Aka- demie der Natur­for­scher Leo­pol­di­na zu „Gover­nan­ce- Regeln für Aka­de­mien – Ori­en­tie­rungs­punk­te aus der

5 https://www.dfg.de/foerderung/grundlagen_rahmenbedingungen/ gwp/ombudsman/index.html [zuletzt abge­ru­fen am 14.08.2023].

Rei­mer · Gover­nan­ce in Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen 2 4 5

Pra­xis der Leo­pol­di­na“. Die­se sei als Gelehr­ten­ge­sell- schaft in mehr­fa­cher Hin­sicht auf­ge­for­dert, die Fra­ge von Kon­flikt­be­ar­bei­tung und Fehl­ver­hal­ten zu adres­sie- ren: zum einen bei Fehl­ver­hal­ten der Aka­de­mie­mit­g­lie- der selbst oder in ihren For­schungs­teams, zum ande­ren in der Poli­tik­be­ra­tung. Hier­zu sei­en Struk­tu­ren und Ver- fah­rens­re­ge­lun­gen geschaf­fen worden6.

Der grund­le­gen­den Fra­ge, ob aus dem Com­pli­ance- Anspruch her­aus die Not­wen­dig­keit einer exter­nen Auf- sicht über Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen fol­ge, oder ob dies der aka­de­mi­schen Selbst­ver­wal­tung wider­sprä­che, wid­me­te sich Pro­fes­sor Dr. Sascha Herms, Fach­an­walt für Arbeits­recht und Pro­fes­sor an der Hoch­schu­le für Tech- nik und Wirt­schaft Ber­lin (HTW), unter dem Titel „An- mer­kun­gen und Beob­ach­tun­gen zur Gover­nan­ce aus recht­li­cher Sicht“ aus­ge­hend von der Wis­sen­schafts­frei- heit nach Arti­kel 5 des Grundgesetzes7. Die­se bedeu­te sowohl eine indi­vi­du­el­le Gewähr­leis­tung und den Schutz des wis­sen­schaft­li­chen Per­so­nals, als auch einen insti­tu- tio­nel­len Schutz­rah­men für For­schungs­ein­rich­tun­gen. Er gelang­te zu der Schluss­fol­ge­rung, dass Com­pli­ance im Wis­sen­schafts­sys­tem ohne exter­ne Auf­sicht nicht zu ver­wirk­li­chen sei und dass die staat­li­chen Finanz­ge­ber (d.h. das BMBF bzw. die zustän­di­gen Lan­des­mi- nis­te­ri­en) zur Wah­rung der Wis­sen­schafts­frei­heit ver- pflich­tet sei­en, die Auf­sicht selbst zu füh­ren oder an geeig­ne­te Drit­te zu über­tra­gen. Dies gel­te sowohl für Uni­ver­si­tä­ten als auch für aus­ser­uni­ver­si­tä­re Forschungsorganisationen.

Dar­an an schloss sich eine Panel­dis­kus­si­on mit Inge Bell, Jour­na­lis­tin und Grün­de­rin von Bell Con­sul­ting; Eli­za­ve­ta Bob­ko­va, der Spre­che­rin von N2 — Netz­werk von Pro­mo­vie­ren­den­netz­wer­ken und Dok­to­ran­din am MPI für ter­res­tri­sche Mikro­bio­lo­gie; Pro­fes­sor Dr. Dr. h. c. Ursu­la Kel­ler vom Insti­tut für Quan­ten­elek­tro- nik an der Eid­ge­nös­si­schen Tech­ni­schen Hoch­schu­le (ETH) Zürich sowie Pro­fes­sor Dr. Eric Stein­hau­er, dem Spre­cher von „Ombuds­man für die Wis­sen­schaft“ und Hono­rar­pro­fes­sor für Urhe­ber­recht und Biblio­theks- recht an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät Ber­lin. Zunächst be- nann­ten die Panelis­ten die aus ihren jewei­li­gen Per­spek- tiven beson­ders star­ken Span­nungs­ver­hält­nis­se und He- raus­for­de­run­gen. Hier wur­den die gerin­ge Hand­lungs- macht von Ombuds­stel­len genannt, der hohe Erwar­tungs- und Publi­ka­ti­ons­druck auf Nach­wuchs­wis- sen­schaft­le­rin­nen und ‑wis­sen­schaft­ler, die viel­fach un- ein­ge­schränk­te Auto­no­mie von hoch­ran­gi­gen Wis­sen- schaft­lern und Wis­sen­schaft­le­rin­nen, denen kei­ne unab-

6 z.B. https://www.leopoldina.org/ueber-uns/ueber-die-leopoldina/ prae­si­di­um-und-gre­mi­en/­re­geln-fuer-den-umgang-mit-inte­res-

hän­gi­ge und pro­fes­sio­nel­le wis­sen­schafts­ad­äqua­te Ad- minis­tra­ti­on gegen­über ste­he, sowie der Wider­spruch zwi­schen der stark hier­ar­chi­schen, teil­wei­se an feu­da­le Sys­te­me erin­nern­den Macht­struk­tu­ren, die insti­tu­tio- nel­les Mob­bing begüns­ti­gen, und den Erwar­tun­gen ins- beson­de­re von jün­ge­ren Aka­de­mi­ke­rin­nen und Aka­de- mikern an Gleich­be­rech­ti­gung und Wertschätzung.

In der Dis­kus­si­on mög­li­cher Lösungs­an­sät­ze wur­den zunächst die Risi­ken und Chan­cen anony­mer Hin­wei­se auf Kon­flik­te oder Fehl­ver­hal­ten dis­ku­tiert. Die Mög- lich­keit, Kon­flik­te oder Fehl­ver­hal­ten anonym anzu­sp­re- chen, wur­de teil­wei­se für sinn­voll befun­den, wenn dies in objek­tiv nach­weis­ba­ren Fäl­len — etwa bei ein­deu­ti­gem wis­sen­schaft­li­chem Fehl­ver­hal­ten — einer Kon­flikt­bear- bei­tung nicht im Wege stün­de. Auch im Rah­men einer nied­rig­schwel­li­gen Bera­tung kön­ne Ver­trau­lich­keit zu- gesi­chert wer­den, eben­so im Rah­men reprä­sen­ta­ti­ver Sur­veys, die im Sin­ne eines Stim­mungs­bil­des Anhalts- punk­te für all­ge­mei­ne Pro­ble­me geben kön­nen. Wei­ter- hin sei es zwar mög­lich, dass Anony­mi­tät gezielt aus­ge- nutzt wür­de, um ande­ren zu scha­den, in der Rea­li­tät kom­me dies aber aus­ge­spro­chen sel­ten vor. Den­noch sei­en vie­le Kon­flik­te aus dem Schutz der Anony­mi­tät he- raus nicht ange­mes­sen zu bear­bei­ten, so dass eine offe­ne und trans­pa­ren­te Kon­flikt­be­ar­bei­tung selbst­ver­ständ­lich mög­lich sein müs­se, ohne dass die Betei­lig­ten Nach­tei­le für ihre Kar­rie­re befürch­ten müss­ten. Hier­von kön­ne im Rah­men der hier­ar­chi­schen, intrans­pa­ren­ten und auf in- for­mel­len Netz­wer­ken beru­hen­den Wis­sen­schaft der­zeit nicht aus­ge­gan­gen werden.

Als ein wich­ti­ger Ansatz­punkt für Ver­bes­se­run­gen wur­de eine Opti­mie­rung der Gover­nance­ver­fah­ren ge- nannt, die klar die Regeln und Erwar­tun­gen für die Zu- sam­men­ar­beit in der Wis­sen­schaft benen­nen und deren Ein­hal­tung über­wa­chen bzw. die Nicht­ein­hal­tung sank- tio­nie­ren müs­se. Die­se Regeln müss­ten von allen lei­ten- den Per­so­nen ver­in­ner­licht und aktiv gelebt wer­den, um der Viel­falt von mög­li­chen Pro­blem­kon­stel­la­tio­nen ge- recht wer­den zu kön­nen. Beson­ders her­vor­ge­ho­ben wur­de, dass häu­fig eine Auf­klä­rung nicht pri­mär am Feh­len von Mel­de­struk­tu­ren und ‑ver­fah­ren schei­te­re, son­dern viel­mehr dar­an, dass gel­ten­de selbst auf­er­leg­te Rege­lun­gen nicht durch­ge­setzt wer­den könn­ten. Auch beleg­tes Fehl­ver­hal­ten habe so kei­ne Kon­se­quen­zen, und es gebe kaum adäqua­te Gre­mi­en oder Ver­fah­ren, die­ses Durch­set­zungs­de­fi­zit zu bean­stan­den. Um durch eine Ver­än­de­rung der Gover­nan­ce „von oben“ einen grund­le- gen­den Kul­tur­wan­del anzu­sto­ßen, sei es aller­dings not-

senkonflikten/[zuletzt abge­ru­fen am 17.08.2023]. 7 Art. 5 Abs. 3 GG.

246 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 243–250

wen­dig, dass durch die finan­zie­ren­den Minis­te­ri­en hand­fes­te mate­ri­el­le Anrei­ze gesetzt wür­den, indem Zie- le zur Gover­nan­ce und Com­pli­ance, Diver­si­ty und Gleich­stel­lung fest­ge­legt und die Ver­ga­be von Mit­teln an deren nach­weis­ba­rer Umset­zung geknüpft wür­den. Hin­ge­wie­sen wur­de auch auf die ungüns­ti­gen Aus­wir- kun­gen einer nicht zeit­ge­mäs­sen Vor­stel­lung, exzel­len­te Wis­sen­schaft beru­he vor allem auf fach­lich her­aus­ra­gen- den, „genia­len“ Ein­zel­per­so­nen, denen daher in jeder Hin­sicht mög­lichst freie Hand bei der Orga­ni­sa­ti­on ihrer For­schung gelas­sen wer­den müs­se. Die­se sowohl unter lei­ten­den For­schen­den als auch in der Admi­nis­tra­ti­on ver­brei­te­te Ansicht füh­re dazu, dass letz­te­re ihre Funk­ti- on nicht im Sin­ne eines Gegen­ge­wichts mit „Checks and Balan­ces“ zur wis­sen­schaft­li­chen Selbst­ver­wal­tung aus- übe, son­dern in ihren Dienst gestellt wür­de. In die­sem Zusam­men­hang wur­de auch die Abhän­gig­keit jun­ger Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­ler von ihren Betreu­en­den als Pro­blem genannt, sowie der Umstand dass die­se sich durch den hohen Zeit- und Leis­tungs- druck der wis­sen­schaft­li­chen Lauf­bahn kei­ner­lei Ver­zö- gerung leis­ten könn­ten und daher im Kon­flikt­fall eher klein bei­gä­ben oder aus dem Wis­sen­schafts­sys­tem aus- schie­den. Es gebe erfolg­rei­che Model­le für geteil­te Pro- movie­ren­den­be­treu­ung oder Rota­ti­ons­sys­te­me im In- und Aus­land, die sich auch in Deutsch­land stär­ker ver- brei­ten sollen.

III. Empi­ri­sche Daten

Zunächst stel­le Hang Liu, Spre­cher von PhD­net, der Dok­to­ran­den­or­ga­ni­sa­ti­on der MPG, sowie Dok­to­rand am MPI für Herz- und Lun­gen­for­schung, unter dem Titel „Con­flicts in Sci­ence: What we can know from doc- toral rese­ar­chers?” Ergeb­nis­se aus der aktu­el­len Bef­ra- gung unter MPG-Pro­mo­vie­ren­den vor, an der sich mit ca. 2.500 Ant­wor­ten­den etwa 50 Pro­zent der Ein­ge­la­de- nen auch betei­ligt hatten8. Die­ser seit 2009 eta­blier­te jähr­li­che Sur­vey, der seit 2019 ver­gleich­bar auch in den Nach­wuchs­or­ga­ni­sa­tio­nen der Helmholtz‑9 und Leib- niz-Gemein­schaf­t10 sowie an ein­zel­nen Uni­ver­si­tä­ten durch­ge­führt wird, betrifft unter ande­rem Arbeits­be­din- gun­gen, Zufrie­den­heit, Unter­stüt­zung und Betreu­ung, Kar­rie­re­ent­wick­lung, psy­chi­sche Gesund­heit, Wahr­neh- mung von Macht­miss­brauch sowie Gleich­be­rech­ti­gung. Herr Liu hob her­vor, dass um die 13 Pro­zent der Teilneh-

8 https://www.phdnet.mpg.de/survey [zuletzt abge­ru­fen am 14.08.2023].

9 https://www.helmholtz.de/fileadmin/user_upload/06_jobs_talen- te/Helmholtz-Juniors/Survey_Report2019.pdf [zuletzt abge­ru­fen am 14.08.2023].

men­den einen schwe­ren Kon­flikt mit einem Vor­ge­setz- ten erlebt hat­ten, die­sen aber nicht ein­mal in der Hälf­te der Fäl­le mel­de­ten — meist (auch) aus der Furcht vor beruf­li­chen Nach­tei­len, die sich dar­auf erge­ben könn­ten. Bemer­kens­wer­ter­wei­se sei­en die­se Mel­dun­gen deut­lich häu­fi­ger erfolgt, wenn es sich um Kon­flik­te mit einer weib­li­chen und/oder einer jün­ge­ren, erst seit kur­zem eta­blier­ten Füh­rungs­per­son gehan­delt habe.

Unter dem Titel „Impres­si­ons from the 2022 MPG Post- doc­Net Sur­vey“ gab Dr. Nicho­las Rus­sell, Gene­ral­sek­re- tär des Post­doc­Net der MPG und Post­doc am MPI für Pflan­zen­züch­tungs­for­schung, Ein­bli­cke in die Ergeb­nis- se einer ähn­li­chen Befra­gung, die 2022 unter allen post- gra­dua­len Mit­ar­bei­ten­den der MPG durch­ge­führt wur- de11. Her­vo­zu­he­ben sei, dass die Post­Docs der MPG in noch höhe­rem Aus­maß als die Pro­mo­vie­ren­den — näm- lich zu 75 Pro­zent — nicht aus Deutsch­land stamm­ten, und noch häu­fi­ger als die­se im Rah­men sehr kur­zer Ver- trag­s­lauf­zei­ten und unter hoher Unsi­cher­heit über die nach­fol­gen­den Kar­rie­re­op­tio­nen und teil­wei­se Auf­ent- halts­ge­neh­mi­gun­gen sowie unter hohem Leis­tungs- und Pro­duk­ti­vi­täts­druck arbei­te­ten. Inso­fern über­ra­sche es nicht, dass auch hier die von um die 30 Pro­zent erleb­ten unso­zia­len Ver­hal­tens­wei­sen vor allem aus Sor­ge über mög­li­che Nach­tei­le für die Kar­rie­re und eine Unkennt- nis der Mög­lich­kei­ten und Optio­nen sel­ten ange­spro- chen würden.

Zuletzt behan­del­ten Pro­fes­sor Dr. Isa­bell Wel­pe und Dr. Mai­ke Rei­mer, Lei­te­rin und wis­sen­schaft­li­che Refe- ren­tin des IHf, „The seni­or per­spec­ti­ve on con­flict, re- port­ing and gover­nan­ce“. Sie the­ma­ti­sier­ten zunächst metho­di­sche und empi­ri­sche Her­aus­for­de­run­gen in Be- zug auf Defi­ni­ti­on und Erhe­bungs­me­tho­den von zen­tra- len Kon­zep­ten wie „Kon­flikt“, „Fehl­ver­hal­ten“ oder „Mob­bing“. Der Fokus lag wei­ter­hin auf den Ergeb­nis­sen eines For­schungs­pro­jek­tes, in dem die Sicht lei­ten­der Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­lern aus der Phy­sik auf die Erfah­run­gen mit Kon­flik­te und Füh­rung in ihren im Rah­men von Inter­views unter­sucht wur­den. Als Kon­flikt­the­men sei­en zum einen wis­sen­schaft­li­che Aspek­te (z.B. Autor­schafts­kon­flik­te oder Pla­gia­te) ge- nannt wor­den, zum ande­ren Aspek­te des Arbeits­verhal- tens von Pro­mo­vie­ren­den oder Post­docs, etwa Arbeits- qua­li­tät, Unab­hän­gig­keit in der wis­sen­schaft­li­chen Ar- beit sowie Arbeits­hal­tung und ‑ein­stel­lung. Unter- stüt­zung inner­halb der Uni­ver­si­tät oder Forschungsein-

10 https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/69403 [zuletzt abge­ru­fen am 14.08.2023].

11 https://www.postdocnet.mpg.de/134932/survey-2022; [zuletzt abge­ru­fen am 14.08.2023].

Rei­mer · Gover­nan­ce in Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen 2 4 7

rich­tun­gen sei in den sel­tens­ten Fäl­len gesucht wor­den, zum Teil, weil vor­han­de­ne Anlauf­stel­len sich als nicht zustän­dig betrach­te­ten, zum Teil aus dem Ein­druck her- aus, dass es kei­ne Unter­stüt­zungs­mög­lich­kei­ten für Pro- fes­so­rin­nen und Pro­fes­so­ren gebe. Die Inter­view­ten hät- ten häu­fig auch den eige­nen Füh­rungs­stil reflek­tiert und auf den Umstand ver­wie­sen, dass die Füh­rung eines Teams nicht Bestand­teil ihrer eige­nen Aus­bil­dung gewe- sen sei.

IV. Per­spek­ti­ven der Poli­tik, des Jour­na­lis­mus‘ und der Wirtschaft

In sei­nem Impuls­vor­trag „War­um das deut­sche Wis­sen- schafts­sys­tem eine so mise­ra­ble Gover­nan­ce betreibt – und was zu tun ist!“ emp­fahl Dr. h. c. Tho­mas Sat­tel­ber- ger, par­la­men­ta­ri­scher Staats­se­kre­tär a.D., aus der Pers- pek­ti­ve der Wis­sen­schafts­po­li­tik dem deut­schen Wis­sen­schafts­sys­tem einen unab­hän­gi­gen Sys­tem Review, um die Per­so­nal- und Orga­ni­sa­ti­ons­füh­rung wis­sen­schafts­ad­äquat zu moder­ni­sie­ren. Dabei sei von allen Akteu­ren anzu­er­ken­nen, dass her­vor­ra­gen­de Wis- sen­schaft­le­rin­nen bzw. Wis­sen­schaft­ler in der Regel nicht auch pro­fes­sio­nell und kom­pe­tent in der Füh­rung von Orga­ni­sa­tio­nen und Mit­ar­bei­ten­den sei­en, und hier­zu auch kei­ner­lei Aus­bil­dung erfüh­ren. Wich­tig sei dabei, die Spiel­räu­me für oppor­tu­nis­ti­sches Ver­hal­ten ein­zu­schrän­ken und die Wis­sen­schafts­ad­mi­nis­tra­ti­on per­so­nell und pro­fes­sio­nell aufzuwerten.

Kris­tin Haug, Jour­na­lis­tin beim SPIEGEL, erläu­ter­te in ihrem Bei­trag „Bericht­erstat­tung über Macht­miss- brauch an Hoch­schu­len und For­schungs­ein­rich­tun­gen“, dass von Macht­miss­brauch betrof­fe­ne Nach­wuchs­wis- sen­schaft­le­rin­nen und ‑wis­sen­schaft­ler häu­fig von sich aus Kon­takt mit Jour­na­lis­tin­nen oder Jour­na­lis­ten auf- näh­men, da sie in einer aus ihrer Sicht aus­weg­lo­sen Situ- ati­on kei­ne ande­re Unter­stüt­zung fin­den könn­ten. Dies gesche­he auch häu­fig in Reak­ti­on auf eine bereits erfolg- te Bericht­erstat­tung zum The­ma. Wäh­rend der Recher- che wür­den die­se meist psy­chisch stark belas­te­ten Per­so- nen grund­sätz­lich ernst genom­men, ihre Aus­sa­gen aber auch hin­ter­fragt und vor einer Ver­öf­fent­li­chung durch wei­te­re Recher­chen gestützt. Hier sei aller­dings anzu- mer­ken, dass sich mög­li­che Zeu­gen, betrof­fe­ne Orga­ni- satio­nen und Pro­fes­so­rin­nen bzw. Pro­fes­so­ren der Pres- se gegen­über häu­fig nicht äußern möch­ten, so dass er- gän­zen­de oder kon­tras­tie­ren­de Per­spek­ti­ven denen der

Hin­weis­ge­ben­den nicht immer im wün­schens­wer­ten Maß gegen­über­ge­stellt wer­den könnten.

Hau­ke Paasch, Mit­glied im Vor­stand der Fir­ma Vor- werk, beschrieb aus der Per­spek­ti­ve der Wirt­schaft unter dem Titel „Gover­nan­ce @ Vor­werk — Gover­nan­ce in ei- nem Fami­li­en­un­ter­neh­men“, wie sich ähn­li­che Her­aus- for­de­run­gen in sei­nem Unter­neh­men dar­stell­ten und wel­che Ansät­ze hier zur Lösung ein­ge­setzt wür­den. Bei der Ver­fah­rens­ge­stal­tung und ‑opti­mie­rung müs­se stets zunächst die Leit­fra­ge „Wo lie­gen (aktu­ell) die größ­ten Com­pli­ance-Risi­ken für mei­ne Orga­ni­sa­ti­on?“ geklärt und dann geeig­ne­te Maß­nah­men umge­setzt wer­den. Im Bereich der Unter­neh­mens­kul­tur und des Umgangs mit- ein­an­der sei stets der bzw. die jewei­li­ge Vor­ge­setz­te für das Arbeits­kli­ma in sei­nem Team ver­ant­wort­lich, und bezüg­lich Fehl­ver­hal­tens gel­te eine kla­re Linie der „Null- Tole­ranz“. Idea­ler­wei­se sei Anony­mi­tät in der Kon­flikt- bear­bei­tung nicht nötig; das Unter­neh­men koope­rie­re aber mit einer exter­nen unab­hän­gi­gen Mel­de­stel­le, an die sich Mit­ar­bei­ten­de auch anonym mit Hin­wei­sen auf pro­ble­ma­ti­sche Vor­gän­ge wen­den könnten.

In der anschlie­ßen­den Dis­kus­si­on wur­de die Fra­ge nach dem Zusam­men­hang von Gover­nan­ce und wis­sen- schaft­li­cher Qua­li­tät bzw. Exzel­lenz auf­ge­wor­fen. Zu Unrecht wer­de häu­fig argu­men­tiert, dass Maß­nah­men zur För­de­rung eines bes­se­ren Umgangs mit Mit­ar­bei­ten- den, zur Gleich­stel­lung von Frau­en und Män­nern oder zu einer stär­ke­ren Kon­trol­le von For­schungs­or­ga­ni­sa­tio- nen die wis­sen­schaft­li­che Exzel­lenz gefähr­de­ten. Im Ge- gen­teil sei­en es viel­mehr die intrans­pa­ren­ten und dis­kri- minie­ren­den Füh­rungs­sys­te­me, die her­aus­ra­gen­de jun­ge Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­ler aus aller Welt abschreck­ten und so selbst Inno­va­ti­ons­kraft und Er- kennt­nis­ge­winn der deut­schen Wis­sen­schaft beein­träch- tigen. Erfor­der­lich sei auch ein höhe­res Maß an Selbst­re- flek­ti­on lei­ten­der Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen- schaft­ler, damit sich die­se der Dis­kre­panz zwi­schen ihrer Eigen­wahr­neh­mung als „Leben für die For­schung“ und der Fremd­wahr­neh­mung „Aus­beu­tung und schlech­te Arbeits­be­din­gun­gen“ bewusst wür­den. Als wich­tig für den Erfolg aller Lösungs­an­sät­ze wur­de auch her­vor­ge- hoben, dass jeweils klar zu defi­nie­ren sei, wel­che Her­aus- for­de­run­gen Prio­ri­tät hät­ten und wel­cher Ansatz bzw. wel­ches Instru­ment für ein kon­kre­tes Pro­blem sinn­voll sei. Etwa kämen man­geln­de Diver­si­tät einer­seits und Macht­miss­brauch ande­rer­seits auf unter­schied­li­chen Wegen zustan­de und müss­ten durch unterschiedliche,

248 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 243–250

wenn auch abge­stimm­te, Maß­nah­men adres­siert werden.

V. Lösungs­an­sät­ze

Kers­tin Düb­ner-Gee, Lei­te­rin der Abtei­lung Per­so­nalent- wick­lung & Chan­cen der MPG, stell­te in ihrem Vor­trag „Ver­ant­wort­li­che Füh­rung in Hoch­leis­tungs­or­ga­ni­sa­tio- nen“ die seit 2019 neu ent­wi­ckel­ten Pro­gram­me und Maß­nah­men für Füh­rungs­kräf­te in der MPG vor. Zum einen sei­en dies struk­tu­rel­le Maß­nah­men, die auf eine nach­hal­ti­ge Ver­bes­se­rung der Arbeits­kul­tur durch ein regel­mä­ßi­ges Feed­back und Moni­to­ring abzie­len, so dass die ein­zel­nen Insti­tu­te ihre jewei­lig wich­tigs­ten Hand- lungs­fel­der iden­ti­fi­zie­ren kön­nen. Wei­te­re Maß­nah­men beträ­fen die bes­se­re Sicht­bar­keit und Ver­net­zung kon- flikt­prä­ven­ti­ver und ‑bear­bei­ten­der Stel­len sowie die Ein­füh­rung spe­zi­ell geschul­ter Kon­flikt­lot­sen, die nied- rig­schwel­lig und bereits im Vor­feld einer Eska­la­ti­on eine kol­le­gia­le Lösung von Kon­flik­ten unter­stütz­ten. Par­al­lel dazu wer­de die Pro­fes­sio­na­li­sie­rung der Füh­rungs­kräf­te (Direk­to­rin­nen und Direk­to­ren sowie For­schungs­grup- pen­lei­tun­gen) durch einen Code of Con­duct und des­sen ver­bind­li­che Imple­men­tie­rung im Arbeits­all­tag ange- strebt, inklu­si­ve der obli­ga­to­ri­schen Schu­lung und Men- toring neu ein­tre­ten­der Füh­rungs­kräf­te, damit die­se ihre wis­sen­schaft­li­chen Exzel­lenz­an­sprü­che mit ver­ant­wor- tungs­vol­lem und pro­fes­sio­nel­lem Füh­rungs­ver­hal­ten in Ein­klang brin­gen kön­nen. Zuletzt sei eine Ver­bes­se­rung der Arbeits­be­din­gun­gen und eine insti­tu­tio­na­li­sier­te Kar­rie­re­för­de­rung von Pro­mo­vie­ren­den und Post­Docs in Anpas­sung an inter­na­tio­na­le Stan­dards ein­ge­führt worden.

Kom­ple­men­tär dazu stell­te Katha­ri­na Klein­lein, eine frü­he­re Mit­ar­bei­te­rin an einem Max-Planck-Insti­tut, in ihrem Vor­trag „Case stu­dy on sci­en­ti­fic gover­nan­ce: What (not) to do“ Erfah­run­gen aus ihrer eini­ge Jah­re zu- rück­lie­gen­den Pro­mo­ti­ons­zeit vor. Sie und meh­re­re an- dere von Kon­flik­ten und Fehl­ver­hal­ten Betrof­fe­ne hät­ten unter 30 mög­li­chen Anlauf­stel­len des For­schungs­in­s­ti- tuts, der For­schungs­ge­sell­schaft, der Uni­ver­si­tät oder dem Clus­ter aus­wäh­len kön­nen; dar­un­ter Kon­flikt­be­ra- ter, Gleich­stel­lungs­be­auf­tra­ge, Ombuds­per­so­nen, An- walts­kanz­lei­en und Diver­si­täts­be­auf­trag­te, teil­wei­se auch auf Lei­tungs­ebe­ne. Eini­ge Stel­len sei­en sehr ver- ständ­nis­voll gewe­sen, hät­ten aber kei­ne wir­kungs­vol­len Unter­stüt­zung anbie­ten kön­nen; hin­ge­gen habe das Ge- spräch mit Lei­tungs­per­so­nen dazu geführt, dass zuge- sag­te Ver­trau­lich­kei­ten nicht ein­ge­hal­ten wor­den sei­en und der Rat erfolgt sei, die Zustän­de zu akzep­tie­ren und

nichts wei­ter zu unter­neh­men, um die eige­ne Kar­rie­re nicht zu gefähr­den. Als Lösungs­an­sät­ze for­der­te sie, ne- ben der Reduk­ti­on von Abhän­gig­kei­ten des wis­sen- schaft­li­chen Nach­wuch­ses von ihren unmit­tel­ba­ren Vor- gesetz­ten, auch ver­bes­ser­te exter­ne Regu­la­ti­ons­me­cha- nis­men sowie eine bes­se­re Aus­bil­dung von Wis­sen- schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­lern in Bezug auf ihre Füh­rungs- und Vorgesetztenrollen.

Inge Bell, Jour­na­lis­tin und Grün­de­rin von Bell Con- sul­ting, adres­sier­te in ihrem Vor­tag „Alles Zicken oder was?! War­um es Fair­ness für Frau­en und muti­ge Män­ner braucht“ ins­be­son­de­re den Aspekt der kon­struk­ti­ven Zusam­men­ar­beit der Geschlech­ter in der Wis­sen­schaft. Die­se sei eine tra­di­ti­ons­rei­che „Bran­che“ mit jahrhun- der­te­lan­ger Geschich­te, die stark von Hier­ar­chie, Auto­ri- tät und Macht gekenn­zeich­net und über die meis­te Zeit aus­schließ­lich von Män­nern ähn­li­chen Hin­ter­grun­des gestal­tet wor­den sei. Dies ver­trü­ge sich schlecht mit den Anfor­de­run­gen einer moder­nen Wis­sen­schaft, die von der kon­struk­ti­ven Zusam­men­ar­beit unter­schied­lichs­ter Per­so­nen lebe. Oft­mals ver­lie­ßen daher Men­schen mit hohem Poten­ti­al das Sys­tem, da erwar­te­te Gleich­heit bei erleb­ter Ungleich­heit für Ent­täu­schung sor­ge. Um das Ver­trau­en der Mit­glie­der in die Orga­ni­sa­ti­on zu erhal- ten, sei das Empower­ment sowohl von Män­nern als auch von Frau­en auf allen Ebe­nen und eine „Lea­der­ship“ er- for­der­lich, die eine bedin­gungs­lo­se kla­re Hal­tung in Be- zug auf jeg­li­che Art von Fehl­ver­hal­ten ver­tre­te. Wei­ter- hin sei auf allen Ebe­nen eine geleb­te Zivil­cou­ra­ge von „Ver­bün­de­ten“ erfor­der­lich, die als nicht betrof­fe­ne Zeu- gen von Fehl­ver­hal­ten die Betrof­fe­nen unter­stütz­ten und ihre Beob­ach­tun­gen öffent­lich machten.

Auch Dr. Nor­bert Sack, pro­mo­vier­ter Phy­si­ker und auf Hoch­schu­len und For­schungs­ein­rich­tun­gen spe­zia­li- sier­ter Per­so­nal­be­ra­ter, fokus­sier­te aus sei­ner lang­jähri- gen Bera­tungs­pra­xis auf „Gen­der-Aspek­te in Hoch­schul- Lea­der­ship & Gover­nan­ce“ und stell­te die Fra­ge, wel­che Aspek­te in der deut­schen Hoch­schul-Gover­nan­ce es weib­li­chen Füh­rungs­per­so­nen erschwer­ten, erfolg­reich zu wer­den und zu blei­ben. Sei­ner Beob­ach­tung nach sei die Füh­rung in Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen deut­lich anspruchs­vol­ler als in ver­gleich­bar gro­ßen Unter­neh- men, da es sich um „hoch­neu­ro­ti­sche Gebil­de mit einer teil­dys­funk­tio­na­len Schön­wet­ter-Gover­nan­ce“ han­de­le, die durch eine hohe insti­tu­tio­nel­le Kom­ple­xi­tät, das Prin­zip der Frei­heit der Wis­sen­schaft, die öffent­lich- recht­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen sowie ein feh­len­des bzw. schwa­ches mitt­le­res Manage­ment cha­rak­te­ri­siert sei­en. In den Struk­tu­ren der aka­de­mi­schen Selbst­ver- wal­tung sei­en bestimm­te sinn­vol­le, weib­lich konnotierte

Rei­mer · Gover­nan­ce in Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen 2 4 9

Füh­rungs­ver­hal­tens­wei­sen (etwa eine stär­ke­re Inhalts- und Gemein­wohl­ori­en­tie­rung und eine sach­li­che­re, we- niger über Bezie­hungs­netz­wer­ke lau­fen­de Füh­rung) häu­fig weni­ger erfolg­reich. Dies sei dar­auf zurück­zu­füh- ren, dass die Auf­sicht sich weni­ger an kla­ren Zie­len und Ziel­vor­ga­ben ori­en­tie­re und in den basis­de­mo­kra­ti­schen Ent­schei­dungs­pro­zes­sen star­ke Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen wirk­sam sei­en. Ent­schei­dun­gen wür­den oft weni­ger durch sach­li­che Argu­men­te bestimmt, son­dern durch stra­te­gi­sche Alli­an­zen und Ver­spre­chun­gen an Schlüs- sel­per­so­nen. Lösungs­an­sät­ze sei­en hier vor allem eine wei­te­re Pro­fes­sio­na­li­sie­rung der Auf­sicht, eine Stär­kung der Manage­ment­struk­tu­ren sowie eine stär­ke­re Aus­rich- tung von Ent­schei­dun­gen an der Zukunfts­fä­hig­keit der Organisation.

In ihrem Schluss­wort stell­te Pro­fes­sor Dr. Bir­git­ta Wolff fest, dass auf der Kon­fe­renz zum einen gezeigt wor- den sei, dass die Wis­sen­schaft als Sys­tem und Orga­ni­sa- tion eine gro­ße Her­aus­for­de­rung für fai­re, trans­pa­ren­te und jus­ti­zia­ble Gover­nan­ce­struk­tu­ren und ‑ver­fah­ren dar­stel­le, und es auf­grund der Selbst­er­hal­tungs­ten­den- zen des Sys­tems nicht zu erwar­ten sei, dass sich Struk­tu- ren und Ver­fah­ren von selbst ändern und ver­bes­sern wür­den. Zum ande­ren sei­en zahl­rei­che viel­ver­spre­chen- de Über­le­gun­gen und Ansät­ze für eine Optimierung

und zukunfts­fä­hi­ge Gestal­tung aus­ge­spro­chen enga­giert und kon­struk­tiv dis­ku­tiert wor­den. Hier sei eine her­vor- ragen­de Basis für wei­te­re Ent­wick­lun­gen und Opti­mie- run­gen des Sys­tems zu erken­nen, die hof­fent­lich wei­te­re Früch­te tra­gen wer­de. Beson­ders wich­tig sei in der Zu- kunft, kla­re Pro­blem­ana­ly­sen anzu­stel­len und dar­auf ab- gestimm­te, evi­denz­ba­sier­te Lösungs­stra­te­gien zu ent­wi- ckeln. Dabei sei es erfor­der­lich, bei ein­zel­nen, für Ände- run­gen moti­vier­ten Akteu­ren zu begin­nen und ande­re über nach­ge­wie­se­ne erziel­te Erfol­ge zu moti­vie­ren. Sie wün­sche sich einen „Werk­zeug­kas­ten“ von Gover­nan­ce- und Füh­rungs­in­stru­men­ten, deren Wirk­sam­keit für wis- sen­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen empi­risch geprüft sei. Hier­zu kön­ne die Gover­nance­for­schung bereits viel bei- tra­gen, es sei­en aber noch zahl­rei­che For­schungs­fra­gen offen. Beson­ders viel­ver­spre­chend sei der Ansatz, pro­be- wei­se in Real­la­bo­ren ein­ge­führ­te Maß­nah­men rigo­ros zu eva­lu­ie­ren und ggf. auch wie­der zu been­den, wenn die­se die ange­streb­ten Zie­le nicht erreichten.

Mai­ke Rei­mer ist als wis­sen­schaft­li­che Refe­ren­tin am Baye­ri­schen Staats­in­sti­tut für Hoch­schul­for­schung und Hoch­schul­pla­nung in Mün­chen. Sie nahm an der Kon­fe­renz als Vor­tra­gen­de und Mit-Orga­ni­sa­to­rin teil.

250 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 243–250

In der Sit­zung der Zwei­ten Kam­mer der Badi­schen Landstände1 vom 10. Mai 1819 bean­trag­te der Frei­bur­ger Abge­ord­ne­te Johann Joseph Adrians2, die Finan­zie­rung der Frei­bur­ger Uni­ver­si­tät sol­le in ver­gleich­ba­rer Wei­se, wie die der Hei­del­ber­ger Uni­ver­si­tät erfolgen:

„Ich habe ange­regt, dass die Dota­tio­nen der Lan- des­uni­ver­si­tät Frei­burg nicht hin­rei­chen, ihr jene Ein- rich­tung zu geben, die dem Bedürf­nis der Zeit ange­mes- sen ist … und dar­auf den Antrag gemacht, die hochan- sehn­li­che Kam­mer wol­le Se. Königl. Hoheit den Groß- her­zog um den Vor­schlag eines Geset­zes bit­ten, wodurch der Lan­des­uni­ver­si­tät Frei­burg aus der all­ge­mei­nen Staats­kas­se ein hin­rei­chen­der Zuschuss zuteil wird.

Dass die Uni­ver­si­tät Frei­burg so wie jene in Hei­del- berg als con­sti­tu­tio­nel­le Lan­des­an­stalt zu betrach­ten und in ihrem Fort­be­stand gesi­chert sei, spricht der § 21 der Ver­fas­sungs­ur­kun­de aus.3 Auch ist die­ses die Vor- aus­set­zung, .…dass sie eine gemein­nüt­zi­ge Anstalt sei, die dem Land den meis­ten und edels­ten – dem Staats- zweck vor­zugs­wei­se ent­spre­chen­den – Gewinn brin­ge, näm­lich Bil­dung des Geis­tes und Her­zens, Reli­gi­on und Sitt­lich­keit, Kunst und Wis­sen­schaft, Über­flus an tüch­ti- gen Män­nern für alle Staats­diens­te und Wir­kungs­krei­se geis­ti­ger Tätigkeit.

Ich kom­me auf die Ange­le­gen­heit der Uni­ver­si­tät Frei­burg: Die jähr­li­che Ein­nah­me der­sel­ben beläuft sich auf 36.000 fl. … Dass die­se Ein­nah­me nicht hin­reicht, um die zum frucht­brin­gen­den Dasein der Uni­ver­si­tät not- wen­di­gen Aus­ga­ben zu decken, ist wohl ohne Erör­te- rung klar. Ich bemer­ke nur, dass gemäß des mir vor­lie- gen­den Etats … ein jähr­li­ches Defi­zit von 2 bis 3.000 fl. sich ergibt.

Dage­gen hat die Hei­del­ber­ger Uni­ver­si­tät eine jähr­li- che Ein­nah­me aus der Staats­kas­se von 70.000 fl., bei­na- he das Dop­pel­te von den Ein­künf­ten der Frei­bur­ger. Wel­cher Baden’scher Bür­ger und wel­cher Freund der Wis­sen­schaf­ten soll­te sich nicht freu­en über Hei­del­bergs Wohl­stand, der so herr­li­che Früch­te fort­wäh­rend er- zeugt. … Auch heischt es die Ehre des Staa­tes, dass eine Anstalt, die sei­nen Namen trägt, an den Mit­teln zur Er-

  1. 1  Ver­hand­lun­gen der Zwei­ten Kam­mer der Stän­de­ver­samm­lung des Groß­her­zogs­tums Baden, 3. Heft, 1819, S. 109 ff. – Der Text ist sprach­lich etwas geglättet.
  2. 2  Ober­bür­ger­meis­ter der Stadt Frei­burg; vgl. den Arti­kel in Wiki­pe- dia.
  3. 3  Nach § 21 der Badi­schen Ver­fas­sung von 1818 sol­len „die Do-

rei­chung ihres Zwe­ckes kei­nen Man­gel lei­de. … Es sei er- laubt, die­se Betrach­tun­gen auf die Uni­ver­si­tät Frei­burg anzu­wen­den. Die­ses einst blü­hen­de lite­ra­ri­sche Gemein- wesen hat durch unse­li­ge Unbil­de der Zeit die här­tes­ten Schlä­ge erfah­ren. Es hat, wie Hei­del­berg, sei­ne Besit­zun- gen auf dem lin­ken Rhein­ufer ver­lo­ren, aber es ist nicht, wie sei­ne Schwes­ter­schu­le, so glück­lich gewe­sen, dafür den rei­chen Ersatz in der Groß­mut eines neu­en Stif­ters zu fin­den. … (Kurz­um) es ist kein freu­di­ger Fort­be­stand des Gedei­hens und des Glan­zes, son­dern ein küm­mer­li- cher der Beschrän­kung und der durch öko­no­mi­sche Sor­gen gehemm­ten Wirk­sam­keit: Lehr­stel­len sind unbe- setzt, berühm­te Män­ner kön­nen nicht beru­fen wer­den, die Biblio­thek lei­det an Dürf­tig­keit der Zuflüs­se usw.

Gleich­wohl hat Frei­burg die näm­li­chen Ansprü­che auf die Sorg­falt des Staa­tes wie Hei­del­berg: bei­de sind Lan­des­uni­ver­si­tä­ten, bei­der Ruhm und Gedei­hen gerei- chen gleich­mä­ßig dem Staat zur Ehre und zum Nut­zen. Die eine ist für die obe­ren Pro­vin­zen so wich­tig und viel- leicht wich­ti­ger, als die ande­re für die unte­re; die eine wird von den Katho­li­ken, die ande­re von den Pro­te­stan- ten als ein kost­ba­res Besitz­tum geach­tet. Und wenn dar- in ein Unter­schied lie­ge, dass Hei­del­berg unmit­tel­bar aus der Staats­kas­se und Frei­burg aus eige­nen Stif­tungs­gü­tern sei­ne Ein­nah­men zieht, so möch­te gera­de die­ser Um- stand zur Recht­fer­ti­gung des Anspruchs wenigs­tens auf eini­ge Unter­stüt­zung aus der­sel­ben Staats­kas­se die­nen. Wird doch die­se Staats­kas­se aus Bei­trä­gen aller Bür­ger gebil­det, die Bür­ger Frei­burgs und des Ober­lan­des tra- gen also mit an der Unter­hal­tung der Uni­ver­si­tät Hei­del- berg bei; soll­ten nicht auch die Unter­län­der geneigt sein und es bil­lig fin­den, wenigs­tens ein Sechs­teil von dem, was zu ihren Guns­ten vom Ober­lan­de bezahlt wird, auch zu Guns­ten die­ses Ober­lan­des zurückzuzahlen? .….

Ich will bemer­ken, dass mit einem Zuschuss von jähr­li­chen 15 bis 18.000 fl. die Uni­ver­si­tät Frei­burg nach den beson­de­ren Vor­tei­len ihrer Lage und Ver­hält­nis­se ganz gewiss in einen blü­hen­den, dem Inter­es­se, wie der Ehre des Baden’schen und des Deut­schen Vater­lan­des ent­spre­chen­den Zustand wür­de ver­setzt wer­den. Glei-

tatio­nen der bey­den Lan­des­uni­ver­si­tä­ten und ande­rer höhe­rer Lehr­an­stal­ten, sie mögen in eigent­hüm­li­chen Gütern und Gefäl­len oder in Zuschüs­sen aus der all­ge­mei­nen Staats­cas­se bestehen, … unge­schmä­lert blei­ben“, ein Wort­laut, dem Adri­ans eine Bestands- garan­tie der bei­den Lan­des­uni­ver­si­tä­ten entnimmt.

Land­stän­di­sche For­de­run­gen einer aus­rei­chen­den Finan­zie­rung der Uni­ver­si­tät Freiburg

Ord­nung der Wis­sen­schaft 2023, ISSN 2197–9197

252 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 1 (2023), 251–252

ches Inter­es­se am Wohl­stand aller Bade­ner und eines je- den – ist die Frucht der voll­kom­me­nen Ver­bin­dung sei- ner Tei­le durch die Con­sti­tu­ti­on, die wir hier ja so in Ein- tracht pfle­gen, und mich hof­fen lässt, dass mei­ne Moti­on nicht umsonst war“.

Die Beru­fung auf die Uni­ver­si­täts­ga­ran­tie der Badi- sche Ver­fas­sung, auf die glei­che Finanz­aus­stat­tung der badi­schen katho­li­schen und pro­tes­tan­ti­schen Uni­ver­si- tät, auf die uni­ver­si­tä­te Finan­zie­rung aus dem unter­län- dischen und ober­län­di­schen Steu­er­auf­kom­men und auf hier­aus her­ge­lei­tet die finan­zi­el­le Gleich­be­hand­lung der bei­den Lan­des­uni­ver­si­tä­ten brach­te die in der Sit­zung der Zwei­ten Kam­mer anwe­sen­den Ver­tre­ter der Lan­des- regie­rung in Zug­zwang. Ihr dila­to­ri­scher Vor­schlag bot die Ein­set­zung einer Kom­mis­si­on an, die in ers­ter Linie

prü­fen sol­le, ob die Admi­nis­tra­ti­on der Frei­bur­ger Uni- ver­si­tät so ver­bes­sert wer­den kön­ne, dass sie kei­nes Lan- des­zu­schus­ses bedürfe.4

Die Abge­ord­ne­ten Duttlinger5 und Kern6 stimm­ten in ihren Rede­bei­trä­gen der Ein­set­zung einer Kom­mis­si- on zu, aber nicht der Begren­zung ihres Prüf­auf­tra­ges. Kern ver­lang­te sehr deut­lich: „Die Ehre der Regie­rung und der Stän­de for­dert, die Frei­bur­ger Uni­ver­si­tät so zu stel­len, dass sie wie ihre Schwes­ter allen For­de­run­gen ent­spre­chen kön­ne, wel­che die Zeit an ein sol­ches wis- sen­schaft­li­ches Insti­tut mache“.7

Beschlos­sen wur­de: „Bei jetzt erfog­ter Abstim­mung wur­de mit Stim­men­ein­hel­lig­keit die Bera­tung des An- trags und die Ver­wei­sung auf die Abtei­lun­gen beschlossen“.8

4 Ver­hand­lun­gen aaO, S. 105
5 Dutt­lin­ger war Pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät Frei­burg und reprä-

sen­tier­te den Wahl­kreis von Walds­hut, St. Bla­si­en, Tien­gen; zu ihm von Weech, All­ge­mei­ne Deut­sche Bio­gra­phie, Bd. 5, 1877, S. 498 f.

6 Kern war Regie­rungs­rat in Frei­burg und reprä­sen­tier­te in der Zwei­ten Kam­mer die Stadt Freiburg.

7 Ver­hand­lun­gen aaO, S. 107 8 Ver­hand­lun­gen aaO, S. 107.