Sarah Rachut Ralf P. Schenke
Ulrich Rommelfanger
Samuel Weitz
Recht ohne Wirklichkeit? Ein rechtswissen- schaftlicher Ausblick ins Jahr 2035 191–208
Promotion und Wissenschaftsplagiate: Eine Bestandsaufnahme im Regelungsverbund zwi- schen Landesgesetzgebung, Hochschulen und Richterrecht 209–220
Von der Guten Wissenschaft zum wissen- schaftlichen Fehlverhalten 221–224
Die neue Hessische Hochschule für öffent- liches Management und Sicherheit: Hoch- schulorganisation sui generis – auf Kosten der Wissenschaftsfreiheit 225–234
Karoline Haake
Maike Reimer
Prüfungen im digitalen Zeitalter – aktuelle rechtliche Fragestellungen. Bericht über die Tagung des Vereins zur Förderung des deut- schen und internationalen Wissenschafts- rechts e.V. am 12.5.2023 235–242
Governance in Wissenschaftsorganisationen — Konstruktiver Umgang mit Konflikten und Vorwürfen. Bericht über die Tagung am 16. und 17.3.2023 an der Bergischen Universität Wuppertal 243–250
Heft 4 / 2023
Aufsätze
Berichte
ISSN 2197–9197
ORDNUNG DER WISSENSCHAFT (2023)
Ausgegraben
Landständische Forderungen einer ausrechen- den Finanzierung der Universität Freiburg 251–252
ISSN 2197–9197
I. Eine Bestandsaufnahme: 12 Jahre in Recht und Wirklichkeit
1. Drohender Wirkungsverlust des Rechts: Die normative Kraft des Faktischen
2. Gesetzgebung – Verlorener Wettlauf mit der Realität? 3. Rechtsprechung – In 12 Jahren zum Recht?
4. Rechtsumsetzung
5. Juristenausbildung – Nach 12 Jahren qualifiziert?
6. Zwischenergebnis
II. Verstärkende Faktoren
1. Zunehmende Komplexität
a) Komplexität auf der Sachverhaltsebene b) Komplexität auf der Rechtsebene
c) Folgen der Komplexität
2. Keine Abhilfe durch Technologieeinsatz
3. Unattraktivität der klassischen juristischen Berufe
4. Kultur und Selbstverständnis von Jurist*innen
5. Negative Synergien
6. Zwischenergebnis: Der Rechtsstaat in einer Abwärtsspirale
III. Dem Steuerungsverlust des Rechts begegnen 1. Das Ziel: Der Rechtsstaat als Standortfaktor 2. Modernisierung der juristischen Ausbildung 3. Netzwerke schaffen und fördern
4. Durchlässigkeit und Interdisziplinarität stärken 5. Fehler- und Lernkultur etablieren
6. Digitalisierung des Rechts
7. Wandel der Rechtskultur
IV. Fazit: Das Recht zwischen Kontinuität und Adaption
Stellt man sich das Leben im Jahr 2035 vor, werden Tech- nologien im Einsatz sein, die den Alltag weitgehend digi- talisieren, automatisieren und vernetzen. Nahezu alles und jeder wird Daten erheben und gleichzeitig Gegen- stand von Datenerhebung sein. Vernetzung erschließt Potentiale, durch die heute noch unbekannte Erkennt- nisse erlangt werden, die die Kraft haben, Gesellschaft, Staat und Wirtschaft grundlegend zu verändern.1 Neue Geschäftsmodelle werden entstehen, möglicherweise setzt sich der Trend zu mehr Individualisierung fort,
* Die Autorin dankt Kathrin Walther für die Erstellung der Grafik sowie Zoe Nogai für die Anregung aus einer rechtswissenschaftli- chen Perspektive auf das Jahr 2035 zu blicken.
vielleicht nimmt aber auch die Gemeinschaft einen grö- ßeren Stellenwert gegenüber dem Individuum ein, erle- ben wir eine ungeahnte Partizipation – wir wissen es noch nicht.
Was wir jedoch wissen: Das Leben wird schneller und komplexer, nicht nur der technologische Fortschritt, auch Klimakrise und Kriege werden unsere Gesellschaft weiter herausfordern. Der Erfassung und Verarbeitung von Daten wird dabei eine noch größere Bedeutung zu- kommen und die Weichen, die unsere Zukunft bestim- men, werden bereits jetzt gestellt. Denn längst hat der Wettlauf um die (digitale) Souveränität der Staaten, die Verteilung von Ressourcen, den Aufbau benötigter Inf- rastruktur und das Schaffen von innovationsfreundli- chen, aber sicheren bzw. „gerechten“ Datenräumen begonnen.
Einen der wichtigsten Hebel bietet dabei das Recht. Wie wir unseren Rechtsstaat gestalten, somit neues Recht schaffen, bestehendes anpassen und in Rechtspre- chung und Rechtsanwendung auf die wechselnden He- rausforderungen reagieren, wird entscheidend dafür sein, ob es uns gelingt, mit dem Wandel in Technologie und Gesellschaft mitzuhalten. Bei alledem darf indes nicht vergessen werden: Egal wie „gut“ das Recht objek- tiv an die Wirklichkeit in der Zukunft angepasst sein wird, es wird ohne uns Menschen nicht funktionieren. Einerseits ist der Faktor Mensch entscheidend, wenn es um die Akzeptanz und Legitimität des Rechtsstaates geht. Andererseits müssen auch die Jurist*innen in den Wandel einbezogen werden. Denn sie wenden das Recht tagtäglich an und sind entscheidend an dessen Weiter- entwicklung beteiligt. Ohne sie wird der notwendige In- teressenausgleich kaum gelingen.
Bis zum Jahr 2035 sind es von heute an zwölf Jahre. Was zwölf Jahre in der Technologieentwicklung bedeu- ten, kann man erahnen, wenn man zurückblickt, was „Stand der Technik“ in den Jahren 2011 und 1999 war. Schaut man sich demgegenüber die Rechtsentwicklung an, ist ein Jahrzehnt schneller vergangen, als man von ei-
Sodan/Möstl, Staatsrecht, München, 2022, § 121 Rn. 2 sprechen von den „größten Umwälzungen der Menschheitsgeschichte“, die sie mit den „Disruptionsfaktoren Eindringlichkeit, Sprengkraft, Geschwindigkeit und Unmerklichkeit“ bemessen.
1 Heckmann/Paschke, Digitalisierung und Grundrechte, in: Stern/
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
Sarah Rachut
Recht ohne Wirklichkeit?
Ein rechtswissenschaftlicher Ausblick ins Jahr 2035*
192 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208
nem Fortschritt gesetzlicher Anpassung an die Lebens- wirklichkeit sprechen kann. Während elektronische Kommunikation im privaten und beruflichen Umfeld seit Jahren Standard ist und sowohl Waren als auch Dienstleistungen bequem online bestellt bzw. gebucht werden können, ist dies bei staatlichen Verwaltungsan- geboten weiterhin die Ausnahme. So wurde zum Bei- spiel 2003 erstmals durch eine Ergänzung des Verwal- tungsverfahrensgesetzes geregelt, dass elektronische Kommunikation zwischen Bürger*innen und Verwal- tung überhaupt zulässig ist – zunächst nur auf freiwilli- ger Basis aller Beteiligten.2 Zehn Jahre später sah das E‑Government-Gesetz des Bundes dann eine Pflicht des Staates zu elektronischer Kommunikation vor3 und durch das Online-Zugangs-Gesetz (OZG)4 sollte er- reicht werden, dass bis Ende des Jahres 2022 eine nen- nenswerte Anzahl an staatlichen Leistungen auch elekt- ronisch zur Verfügung steht. Nachdem letzteres nicht gelungen ist, gibt es nun 2023 einen neuen Anlauf zur ge- setzlichen Umsetzung der Verwaltungsdigitalisierung („OZG 2.0“).5
Um zu verstehen, warum Recht und (technologische) Wirklichkeit so weit auseinanderklaffen, muss man nä- her betrachten, wie Recht (im Sinne von Rechtsanwen- dung, Rechtsetzung, Rechtsprechung, aber auch juristi- scher Ausbildung) funktioniert und warum dieses mit der Technologieentwicklung nicht mithalten kann – vielleicht auch gar nicht muss. Am Ende lässt sich mög- licherweise eine Prognose wagen, wohin uns dieser Spa- gat von Recht und Technik im Jahr 2035 führen kann.
I. Eine Bestandsaufnahme: 12 Jahre in Recht und Wirklichkeit
Unabhängig davon, wie rasant die Technologieentwick- lung in den nächsten zwölf Jahren sein mag: das Recht dürfte der Wirklichkeit immer hinterherhinken. Anschaulich wird dies insbesondere beim Blick auf die Verfahrensdauer gerichtlicher Entscheidungen. Bis ein Streit rechtskräftig entschieden ist, gehen oftmals meh- rere Jahre vorbei.6 Bis dahin ist der persönliche Groll vielleicht schon verflogen, das Leben weiter gegangen und der eigentliche Streitpunkt nicht mehr als eine
- 2 Heckmann, E‑Government im Verwaltungsalltag, in: Kommu- nikation & Recht, 2003, S. 425 ff.; Roßnagel, Das elektronische Verwaltungsverfahren. Das Dritte Verwaltungsverfahrensände- rungsgesetz, in: NJW 2003, 469 ff.
- 3 Habammer/Denkhaus, Das E‑Government-Gesetz des Bundes. Inhalt und erste Bewertung – Gelungener Rechtsrahmen für elekt- ronische Verwaltung?, in: Multimedia und Recht, 2013, S. 358 ff.
- 4 Gesetz zur Verbesserung des Onlinezugangs zu Verwaltungsleis- tungen v. 14.8.17 (BGBl. 2017 I, S. 3122), zul. geändert am 28.6.21
unschöne Erinnerung. Und ging es bei dem Rechtsstreit um eine Technologie, ist diese während des Gangs durch die Instanzen oft gealtert. Ebenso scheinen Rechtset- zung, Rechtsanwendung und Rechtsausbildung einem anderen Takt zu folgen, als man dies aus anderen Berei- chen des Lebens gewohnt ist. Fraglich ist, wie sich dies mit den vor allem durch die digitale Transformation her- vorgerufenen Herausforderungen verträgt.
Das Recht erfüllt dabei innerhalb von Staat und Ge- sellschaft verschiedene Funktionen, sichert in erste Linie das friedliche Zusammenleben und schützt die Freiheit jedes Einzelnen. Durch die rechtsstaatlichen Vorgaben wird im Interesse aller sichergestellt, dass ein fairer Inte- ressenausgleich stattfindet, Minderheiten geschützt und Machtungleichgewichte ausgeglichen werden. Ein sol- cher Rechtsstaat ist transparent und vorhersehbar. Wel- che abstrakten Rechte und Positionen dabei als grundle- gend erachtet werden und wie der Staat aufgebaut ist, er- gibt sich im deutschen Recht aus dem Grundgesetz. Die- sen abstrakten Regelungen liegt das gesamtgesellschaftliche Werteverständnis zugrunde, welches sich durchaus im Laufe der Zeit wandeln kann. Was heute als gerecht empfunden wird, muss es in zwölf Jahren nicht mehr sein. Kontinuierliche Veränderungen tatsächlicher Umstände (z.B. die Entwicklung und Ein- führung neuer Technologien oder das Entstehen von Be- drohungslagen)wirkensichzumindestmittelbaraufdie Gesellschaft und die Vorstellung des Miteinanders aus und sind damit u.a. Gegenstand der soziologischen For- schung.7 Das Recht muss entsprechend auf solche tat- sächlichen und gesellschaftlichen Änderungen regieren. Einerseits kann allein der Wandel der Wertvorstellungen dazu führen, dass bisher als gerecht empfundene Rege- lungen nun als ungerecht erachtet werden (z.B. bei der rechtlichen Unterscheidung zwischen gleichgeschlecht- lichen und nicht-gleichgeschlechtlichen Partnerschaf- ten), andererseits können sich aufgrund tatsächlicher Änderungen neue Gefahren oder Risiken ergeben, für die bisher keine (gerechten) Regelungen existieren. Ge- rade durch die digitale Transformation und die aktuellen globalen bzw. bevorstehenden Herausforderungen be- steht die Möglichkeit von Interessen- und damit Macht- verschiebungen. Diese wiederum bergen das Risiko, dass
(BGBl. 2021 I, S. 2250).
5 Schuster, MMR-Aktuell 2023, 455784.
6 Fobbe hat hierzu eine umfassende Auswertung der Verfahrensdau-
er an deutschen Gerichten, u.a. dem BVerfG vorgenommen. Die
Datensätze sind hier abrufbar: https://zenodo.org/record/7133364. 7 Friedmann, Das Rechtssystem im Blickfeld der Sozialwissenschaf-
ten, 1981; vgl. auch exemplarisch Tamm, Rechtsevolution — darge- stellt am Beispiel des Verbraucherrechts, KJ 2013, 52 ff.
sich künftig vermehrt Individualinteressen gegenüber dem allgemeinen Wertverständnis durchsetzen. Aufgabe des Rechts ist es daher auch, diese Entwicklungen zu überblicken und diesen entgegenzusteuern. Hierbei gilt es beispielsweise, die soziotechnischen Folgen zu er- gründen und auf diese zu reagieren, um so auch zukünf- tig (Rechts-)Frieden und die Wirksamkeit der Grund- rechte – mithin unsere gesellschaftlichen Vorstellungen von einem gerechten Zusammenleben – zu gewährleisten.
1. Drohender Wirkungsverlust des Rechts: Die normati- ve Kraft des Faktischen
Geschieht dies nicht – verliert das Recht somit seine Wirk- und Steuerungskraft – kommt die Macht, Regeln zu setzen und somit normativ zu wirken, anderen zu. Hierbei wird die normative Kraft des Faktischen8 rele- vant: Diese beruht nicht auf einem gesamtgesellschaftli- chen Werteverständnis, sondern ist vielmehr Ergebnis bestehender rechtlicher Lücken oder „Grauzonen“, wel- che das Schaffen von Tatsachen, „dem Faktischen“, ermöglichen. Wie sich die normative Kraft des Fakti- schen auch in einem vermeintlich durchnormierten Rechtsstaat ausbreiten kann, zeigt z.B. das Handeln des Unternehmens Uber Technologies Inc.9 Der von Uber angebotene Fahrdienst umfasst verschiedenen Beförde- rungsmodelle, die stetig ergänzt oder verändert werden. Die Personenbeförderung, die durch Kund*innen direkt über die Uber-App gebucht wird, erfolgt hierbei durch Privatpersonen mit ihren eigenen Fahrzeugen. Durch Uber wird lediglich die Plattform bereitgestellt, die ihrer- seits Netzwerkeffekte nutzt. Das Interesse des Unterneh- mens Uber besteht darin, eine möglichst große Zahl von Personen an sich zu binden. Dabei hat es die Macht, ein- seitig die Regeln der Beförderung zu bestimmen und diese jederzeit anzupassen und somit auch unmittelbar oder mittelbar bestimmte Personen(-gruppen) von sei- nem Mobilitätsangebot auszuschließen.
Rechtlich unterliegt Uber mit seinem Fahrdienst den Regelungen des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG), das das Einhalten bestimmter Mindeststandards hin-
- 8 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Berlin, 1929, S. 341 ff.
- 9 Rachut, Polizeibeamte als Personenbeförderer – Genehmigungsfä-higkeit einer Nebentätigkeit als Uber-Fahrer, in: ZBR 2021, 29 ff.
- 10 Rachut, ZBR 2021, S. 29 f. m. w. N.
- 11 OLG Frankfurt, Urt. v. 20.5.21 – 6 U 18/20 = GRUR 2022, 98; Bay-VerfGH, Beschl. v. 26.4.21 – 11 ZB 20.2076 = BeckRS 2021, 10964; LG Frankfurt, Urt. v. 17.2.21 – 3–08 O 67/20 = GRUR-RS 2021, 6221;
sichtlich Sicherheit und Zuverlässigkeit der Personenbe- förderung sicherstellen soll. Personenbeförderungsauf- träge unterwegs anzunehmen, ist dabei Taxiunterneh- men vorbehalten, an die erhöhte Anforderungen gestellt werden. Uber unterläuft mit seinem Modell diese Vorga- ben und stellt sich auf den Standpunkt, dass die Vorga- ben für Taxiunternehmen für das eigene Geschäftsmo- dell schlicht nicht anwendbar seien. Seit 2015 kam es da- her zwischen Uber und den nationalen Gerichten zu ei- nem ständigen Hin-und-Her.10 Während verschiedene Gerichte nach Klagen von Taxiunternehmen das Modell von Uber aufgrund der Missachtung der rechtlichen Vorgaben (u.a. § 49 Abs. 4 S. 2 und 3 PBefG) als rechts- widrig einstuften und dieses untersagten,11 stellt sich Uber auf den Standpunkt, sein Angebot (die App) ange- passt zu haben.12 Weil sich das jeweilige Urteil daher auf ein früheres Modell der Uber-App erstrecke und nicht auf das aktuelle Geschäftsmodell, fühlt sich Uber nicht an das Urteil gebunden und setzt seine Tätigkeit daher fort. Konkurrierende Unternehmen, die diese Urteile er- stritten hatten, schreckten auf Grundlage dieser Argu- mentation davor zurück, die Urteile – welche zumindest vorläufig vollstreckbar waren – durchzusetzen. Sie fürch- teten etwaige Schadensersatzansprüche, sollte sich her- ausstellen, dass die jeweiligen Urteile tatsächlich nicht auf das „neue Uber-Geschäftsmodell“ angewandt wer- den könnten. Faktisch konnte sich Uber daher auf Dau- er dem geltenden Recht entziehen. Der Gesetzgeber hat inzwischen reagiert und den sog. „Bedarfsverkehr“ so- wie Vermittlerdienste von Mobilitätsplattformen im PBefG geregelt13, um der normativen Kraft von Uber und ähnlich agierender Akteure entgegenzuwirken.
Vergleichbare Entwicklungen könnten sich künftig insbesondere bei der Erstellung bestimmter (techni- scher) Standards oder dem Etablieren von Technologien zeigen. Immer dann, wenn die staatliche Handhabe na- hezu unmöglich gemacht wird, wie z.B. aktuell bei dem Versuch, einen Bußgeldbescheid an den Messenger- dienst Telegram zuzustellen,14 kommt die Steuerungs- macht anderen zu.
LG München I, Urt. v. 10.2.20 – 4 HK O 14935/16 = MMR 2021, 91;
LG Köln, Beschl. v. 25.10.19 — 81 O 74/19 = BeckRS 2019, 38797. 12 Rachut, ZBR 2021, S. 29 f.
13 Gesetz zur Modernisierung des Personenbeförderungsrechts v.
16.4.21, BGBl. 2021 I, S. 822, vgl. auch BT-Drs. 19/26175, S. 23.
14 Vgl. https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/hass-hetze-telegram-
anwendbarkeit-netzdg-soziales-netzwerk-messenger/.
Rachut · Recht ohne Wirklichkeit? 1 9 3
194 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208
2. Gesetzgebung – Verlorener Wettlauf mit der Realität?
Die Gesetzgebung befindet sich daher in einem perma- nenten Wettlauf mit der Wirklichkeit. Dies führt dazu, dass das in Normen kodifizierte Wertesystem mitunter punktuell oder in ganzen Bereichen nicht mehr mit der Realität übereinstimmt. Bereits der diese Entwicklung kennzeichnende Begriff „Digitale Transformation“ zeigt, dass es dabei um mehr als die bloße „Technologisierung“ einzelner Lebensbereiche geht, sondern vielmehr um eine grundlegende Transformation.15 Diese kann sich zunächst im mehrheitlichen Verhältnis zu bestimmten (körperlichen oder nicht-körperlichen) Dingen nieder- schlagen. So hat sich der private Umgang mit Daten in den letzten Jahrzehnten entscheidend verändert. Dass die personenbezogenen Daten einer jeden Person Gegenstand automatisierter Verarbeitung sind, ist inzwi- schen Normalität. Die aus dieser Entwicklung nicht weg- zudenkenden sozialen Medien sind darauf ausgerichtet, dass höchstpersönliche Informationen mit einer unüber- schaubaren Anzahl von Personen überall auf der Welt geteilt werden. So entsteht ein leicht zugängliches Perso- nenarchiv. Einer Person, die online nicht auffindbar ist, begegnet man vielleicht sogar mit Misstrauen. Weitere Veränderungen ergeben sich dadurch, dass (digitale) Technologien inzwischen in Bereiche Einzug gefunden haben, die vorher „analog“ geprägt waren. Vor allem während der weltweiten Corona-Pandemie wurden Technologien eingesetzt, um die aufgrund von Kontakt- beschränkungen entstandene Distanz zwischen Perso- nen zu überbrücken. Neben Schul-16 und Hochschulun-
15 Hoffmann-Riem, Recht im Sog der digitalen Transformation, Tübingen, 2021, S. 2 m. w. N.
16 Vgl. Helm/Huber/Loisinger, Was wissen wir über schulische Lehr- Lern-Prozesse im Distanzunterricht während der Corona-Pande- mie? – Evidenz aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 2021, S. 237 ff.
17 Vgl. Neuber/Göbel, Zuhause statt Hörsaal. Erfahrungen und Ein- schätzungen von Hochschulangehörigen zur Umstellung der Lehre im ersten pandemie-bedingten Lockdown der Universitäten, in: MedienPädagogik, 2021, S. 56 ff.
18 Vgl. Reimann/Sievert, Interaktion unerwünscht? Online-Gottes- dienste während der Corona-Pandemie, in: Cursor_Zeitschrift für explorative Theologie, 2021, S. 1 ff.
19 Vgl. Waschkau/Steinhäuser, Wandel des Bedarfs an Videosprech- stunden in Zeiten einer Pandemie. Eine qualitative Betrachtung, in: Zeitschrift für Allgemeinmedizin, 2020, S. 317 ff.
20 War es zuvor unmöglich, dass beaufsichtigte Hochschulprüfun- gen außerhalb der Hochschulen geschrieben werden, wurden während der Pandemie in fast allen Bundesländern entsprechende Rechtsgrundlagen geschaffen. Damit hatten alle Studierenden
die Möglichkeit, in dieser Zeit an den Prüfungen teilzunehmen,
terricht17 wichen auch Kirchen18 oder Ärzte und Ärztin- nen19 auf Videokonferenzen aus.
Die digitale Transformation ist aber auch gerade des- halb so disruptiv, da sie mit Machtverschiebungen ein- hergeht. Digitalisierung, Vernetzung und Automatisie- rung schaffen neue Berufe und Sparten, können bisheri- ge Ideen und Modelle obsolet machen, Abhängigkeiten auflösen und neue entstehen lassen. Daneben ergeben sich mitunter Lösungen für Herausforderungen, die zu- vor unlösbar erschienen.20 Während der Gesetzgeber so- mit gefragt ist, das Potential und die Chancen der digita- len Transformation zu fördern und entsprechende Neu- erungen rechtlich zu ermöglichen, muss er ebenso den damit einhergehenden Risiken und Gefahren begegnen.
Aktuell erfolgt dies in einem zweistufigen Prozess: Der Entwicklung neuer Technologien oder Konzepte (Innovation) schließt sich der Versuch an, diese zu regle- mentieren. Mitunter manifestiert sich hier das Faktische zum Normativen. Nur selten werden Experimentierräu- me geschaffen21, in denen regional und zeitlich begrenzt untersucht wird, welche tatsächlichen Folgen eine be- stimmte Innovation hätte, um diese anschließend zu re- gulieren und darauf aufbauend Weiterentwicklungen zu ermöglichen.22 Dies hat zur Folge, dass Regulierung nicht nur eine lange Zeit in Anspruch nimmt, sondern daneben oftmals auch nicht auf einer ausreichenden Da- tengrundlage basiert. Teilweise kommt es sogar vor, dass mittels einer politisch bedingten regulatorischen Wende (z.B. nach einem Regierungswechsel) die zuvor erlasse- nen Normen ins Gegenteil verkehrt werden oder sich Regelungen zu widersprechen scheinen.23 Eine solch un-
was wiederum den Studierenden half, die sich dem erhöhten Infektionsrisiko auf dem Weg zu und in den Hochschulen nicht aussetzen durften oder wollten. Darüber hinaus wurde die Chance genutzt, diese Art des Prüfens zu erproben, um Hochschulprü- fungen künftig inklusiver gestalten zu können. Ausführlich hierzu Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung, Berlin, 2023, S. 59 ff., 68 ff.; Rachut, ODW 2023, 89 ff.
21 Eine Experimentierklausel enthält zum Beispiel Art. 56 BayDiG. 22 Die Bayerische Fernprüfungserprobungsverordnung (BayFEV)
sieht z. B. die Möglichkeit vor, in Übungsklausuren automatisierte Verfahren zur Beaufsichtigung von Hochschulprüfungen zu erpro- ben, vgl. § 10 BayFEV.
23 Kritisiert wird dies z. B. beim Nachweisgesetz (NachwG). Wäh- rend aktuell auf allen Ebenen versucht wird, von der Papierform zur elektronischen Form zu gelangen (bspw. mittels elektronischer Aktenführung in den Behörden, den Gerichten oder der elektro- nischen Patientenakte) nimmt der Gesetzgeber die elektronische Form bei der Nachweispflicht der wesentlichen Bestimmungen eines Arbeitsverhältnisses ausdrücklich aus, vgl. § 2 Abs. 1 S. 2 NachwG.
stete und unvorhersehbare Regulierung kann letztlich Skepsis und Zurückhaltung bei der Entwicklung neuer Ideen hervorrufen.
Die Aufgabe der Gesetzgebung obliegt dabei haupt- sächlich den Parlamenten. Hierbei kommt der demokra- tischen Debatte sowie der anschließenden parlamentari- schen Entscheidung eine wichtige und bedeutende Funktion innerhalb des demokratischen Rechtsstaats zu. Bei der zunehmenden Komplexität der zu regulierenden Materie und der steigenden Zahl an verabschiedeten Ge- setzen muss indes auch die Frage nach deren Qualität ge- stellt werden.24 In der Corona-Pandemie hat sich ge- zeigt, dass die Regulierung einzelner, durchaus komple- xer Sachverhalte bei einer entsprechenden Priorisierung deutlich schneller erfolgen kann. Zu Beginn der Pande- mie kam dem Gesetzgeber aufgrund der bestehenden Ungewissheit dabei ein deutlich größerer Einschät- zungsspielraum zu, auch umfassende und tiefgreifende Grundrechtseingriffe waren rechtmäßig und hielten ei- ner Verhältnismäßigkeitsprüfung stand.25 Zunehmend lagen indes mehr und mehr Daten über das Virus, die Übertragung und den hervorgerufenen Krankheitsver- lauf vor, was die Anforderungen an den Gesetzgeber er- höhte. Mit diesen Daten war das Mittel zur Hand, die Regulierung und damit auch die in die Grundrechte ein- greifenden Maßnahmen an die neuen Erkenntnisse an- zupassen.26 Einschränkungen aufgrund der Pandemie mussten somit kontinuierlich überprüft und an die neu- en Erkenntnisse angepasst werden.27 Nachdem bei- spielsweise Informationen über die häufigsten Übertra- gungswege vorlagen,28 mussten die infektionsschutz- rechtlichen Maßnahmen angepasst und infolgedessen u.a. die Maskenpflicht für bestimmte Bereiche (im Frei- en und unter Abstand) aufgehoben werden. Dass beson- ders weitgehende Ausgangsbeschränkungen in Bayern
24 2020 verabschiedete der Deutsche Bundestag 156 Gesetze in 64 Sitzungstagen, 2021 waren es trotz Regierungswechsels 203 Geset- ze in 46 Sitzungstagen, s. Deutscher Bundestag, Parlamentsdoku- mentation, Statistische Daten zur Arbeit des Deutschen Bundes- tages im Zeitraum vom 1.1. bis zum 31.12.2020; ders. Statistik der Gesetzgebung – 19. Wahlperiode; vgl. auch: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw06- jahresstatistik-2021–879640#:~:text=203%20Gesetze%20hat%20 der%20Deutsche,Deutschen%20Bundestages%20endete.
25 Vgl. z. B. Hofmann, Verhältnismäßigkeit mit der Holzhammerme- thode, Verfassungsblog v. 13.4.20, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/verhaeltnismaessigkeit-mit-der- holzhammermethode/.
26 Vgl. u. a. VGH München, Beschl. v. 30.3.20 – 20 NE 20.632 = NJW 2020, 1236, 1240.
27 BVerfG, Beschl. v. 8.8.78 – 2 BvL 8/77 = BVerfGE 49, 89; BVerfG,
zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 unverhältnis- mäßig waren, stellte das Bundesverwaltungsgericht mehr als zweieinhalb Jahre später fest.29
Obwohl von Seiten der Wissenschaft weltweit über das Sars-CoV-2-Virus geforscht, die gewonnenen Er- kenntnisse ausgetauscht wurden und eine solch umfas- sendewissenschaftlicheBeratungderPolitik,wiesiege- rade in der Anfangszeit der Pandemie erfolgte, in den vergangenen Jahrzehnten wohl einzigartig war, liegen bis heute weiterhin nicht ausreichend Informationen vor, um das Wirken der entsprechenden „Corona-Maßnah- men“ abschließend bewerten und überprüfen zu können.30
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass selbst in einer weltweiten Ausnahmesituation, in der Wissen- schaft, Wirtschaft und Gesellschaft zusammenwirkten, um dieser Herausforderung gemeinsam mit der Politik zu begegnen, es auch nach drei Jahren nicht gelungen ist, mittels entsprechender Daten die Wirksamkeit umfas- sender grundrechtseingreifender Maßnahmen zu beur- teilen und so über den mehrjährigen Zeitraum der Pan- demie eine adäquate, d.h. verhältnismäßige Rechtset- zung zu gewährleisten. Auf Seiten des Gesetzgebers er- scheint es damit aktuell unmöglich, schnell, effektiv und vor allem wissend, d.h. datenbasiert, auf Veränderungen zu reagieren.
Der Gesetzgeber ist jedoch nicht nur auf nationaler, sondern ebenso auf internationaler Ebene gefragt. Auch hier gilt es die eigenen Werte und Vorstellungen in Re- gulierungsvorhaben einfließen zu lassen und sich bei- spielsweise mittels Stellungnahmen am Normgebungs- verfahren auf EU-Ebene zu beteiligen. Dies setzt jedoch nicht nur voraus, dass Deutschland über die entspre- chenden Kompetenzen und Ressourcen verfügt und auf politischer Ebene eine Einigung erzielt werden kann,31
Beschl. v. 29.4.20 – 1 BvQ 47/20 = BeckRS 2020, 7210; Gold- hammer/Neuhöfer, Grundrechte in der Pandemie – Allgemeine Lehren, in: Juristische Schulung, 2021, S. 212, 214 m. w. N.
28 Robert Koch Institut, Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV‑2 und COVID-19, 2. Übertragungswege, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_ Coronavirus/Steckbrief.html;jsessionid=C3091F506673DDD7F3711 AEA354526FE.internet101?nn=13490888#doc13776792bodyText2.
29 BVerwG, Beschl. v. 10.11.222 – 3 CN 2.21 = BeckRS 2022, 31961.
30 Vgl. z. B. Sachverständigenausschuss nach § 5 Abs. 9 IfSG, Evaluati-
on der Rechtsgrundlagen und Maßnahmen der Pandemiepolitik,
2022, S. 8.
31 Dass dies nicht immer gelingt, zeigt z. B. Stierle, AI Act: Verzö-
gerungen und offene Fragen, Tagesspiegel Background v. 14.9.22, abrufbar unter: https://background.tagesspiegel.de/digitalisierung/ ai-act-verzoegerungen-und-offene-fragen.
Rachut · Recht ohne Wirklichkeit? 1 9 5
196 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208
sondern ebenso, dass die notwendigen Informationen vorliegen, um überhaupt verschiedene Optionen erfas- sen und bewerten zu können.
3. Rechtsprechung – In 12 Jahren zum Recht?
Während ein Gesetzgebungsprozess die Beteiligung einer Vielzahl von Personen und Institutionen zur Her- beiführung einer Mehrheitsentscheidung verlangt, könnte im Bereich der Rechtsprechung die Möglichkeit bestehen, agiler auf Veränderungen und die damit ein- hergehenden Rechtsunsicherheiten zu reagieren, um so Defizite in anderen Bereichen ausgleichen zu können.
„Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtspre- chung sind an Gesetz und Recht gebunden.“ In diesem Wortlaut findet sich das Rechtstaatsprinzip im Grundge- setz (Art. 20 Abs. 3 GG). Die Rechtsprechung hat dabei die Aufgabe, das staatliche Handeln zu überprüfen und den allgemeinen Rechtsfrieden zu wahren. Auch die Entscheidungen der Gerichte sind wiederum überprüf- bar – daraus ergibt sich ein ausgeklügeltes Instanzensys- tem, das eine unabhängige und gerechte Judikative ge- währleistet. Für dieses System gibt es gute und gewichti- ge Gründe, die sich nicht zuletzt in der deutschen Histo- rie finden lassen. Es gibt Raum für richterliche Unabhängigkeit und Kontrollinstanzen, um etwaige Fehlentscheidungen zu korrigieren. Gleichwohl bedeu- tet ein solches Instanzensystem aber auch, dass bis zu ei- ner rechtskräftigen Entscheidung diese Instanzen von den Parteien durchlaufen werden können. Entscheidun- gen, die noch nicht rechtskräftig sind, können mögli- cherweise vorläufig vollstreckbar sein, beenden den Rechtsstreit jedoch nicht und gehen selbst mit einem ge- wissen Risiko einher.32 Die Verfahrensdauer eines Rechtsstreits hängt daher maßgeblich von der Dauer je Instanz und der Anzahl der durchlaufenen Instanzen ab.33 Diese Zeit wird von Beteiligten jedoch häufig als zu lang empfunden.34 Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat sich bereits mehrfach mit der teils sehr langen Verfahrensdauer an deutschen
- 32 Z.B. mit einer Schadensersatzpflicht nach § 717 Abs. 2 ZPO.
- 33 Fobbe hat hierzu eine umfassende Auswertung der Verfahrensdau-er an deutschen Gerichten, u.a. dem BVerfG vorgenommen. DieDatensätze sind hier abrufbar: https://zenodo.org/record/7133364.
34 So gaben bei einer Befragung von 1.069 Personen 81% an, dass sie
die Verfahrensdauer im deutschen Rechtssystem als viel zu lange empfinden, vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie /167571/umfrage/meinungen-zum-deutschen-rechtssystem/.
35 Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, WD 2 – 3000–190/07, S. 3.
Gerichten beschäftigt. Allein zwischen 1978 und 2008 verurteilte der EGMR die Bundesrepublik Deutschland in 24 Verfahren wegen überlanger Gerichtsverfahren und stellte hierbei Verstöße gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) sowie teils zudem gegen Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) fest.35 Denn gerade in bestimmten Verfahren (z.B. in Strafsa- chen, familien- oder sozialgerichtlichen Verfahren) stellt ein nicht abgeschlossenes Verfahren eine erhebliche Be- lastung für die Beteiligten dar. Die Entscheidungen ge- gen Deutschland bezogen sich dabei nicht lediglich auf einzelne Rechtsbereiche, sondern vielmehr auf unter- schiedliche Gerichtsbarkeiten36 und zeigen damit die vielfach sehr langen Entscheidungswege im gesamten bestehenden Rechtssystem auf.
Als Konsequenz dieser EGMR-Entscheidung wurde 2011 das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsver- fahren37 erlassen. Darüber hinaus einigten sich Bund und Länder 2019 auf einen „Pakt für den Rechtsstaat“.38 Diese bereits im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD vorgesehene Übereinkunft sollte vor allem durch die Aufstockung des Personals zu einer besseren und schnelleren Rechtsdurchsetzung beitragen.39 Im Sep- tember 2022 folgte die Ankündigung von Bundesjustiz- minister Marco Buschmann (FDP) zu einem „Pakt für den digitalen Rechtsstaat“, durch welchen die Gerichte bei der Modernisierung und Digitalisierung unterstützt werden sollen.40
Trotz dieser Bemühungen zeigt sich seit Jahren ein strukturelles Defizit in Form einer Überlastung der Jus- tiz. Auch wenn nicht sämtliche relevanten Kennzahlen erfasst werden, z.B. die Dauer zwischen Klageeingang beiGerichtundTerminierung,41oderdiesenurlücken- haft oder zeitverzögert vorliegen, lässt sich die Überlas- tung durch vorhandene Daten untermauern. So wurde beispielsweise von Seiten des Deutschen Richterbundes eine stetig wachsende Verfahrensdauer in Strafsachen bemängelt: „Gerechnet ab Eingang bei der Staatsanwalt- schaft laufen die erstinstanzlichen Verfahren beim Land-
36 Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, WD 2 – 3000–190/07, S. 4.
37 Vgl. BGBl. 2011 I, S. 2302.
38 Pressekonferenz der Bundesregierung v. 31.01.2019.
39 CDU/CSU/SPD, Koalitionsvertrag, Ein neuer Aufbruch für Europa
– Eine neue Dynamik für Deutschland – Ein neuer Zusammenhalt
für unser Land, 2018, S. 16 f.
40 Vgl. https://www.bmj.de/SharedDocs/Meldungen/DE/2022/0927_
Pakt_Rechtsstaat.html.
41 So u. a. in Bayern, s. LT-Drs. 18/2325.
gericht im Schnitt sogar mehr als 20 Monate, so lange wie noch nie.“42 Vergleicht man die Verfahrensdauer der erstinstanzlichen Verfahren, zeigen sich zwischen den einzelnen Bundesländern und den verschiedenen Ver- fahrensarten große Unterschiede. So lag die durch- schnittliche Verfahrensdauer an den Verwaltungsgerich- ten 2016 zwischen 3,9 Monaten (Rheinland-Pfalz) und 22,6 Monaten (Brandenburg).43 Der langen Verfahrens- dauer steht die hohe Arbeitsbelastung der Richter*innen und Staatsanwält*innen gegenüber. Bayerische Richter*innen an den Amtsgerichten bearbeiteten bspw. 2018 durchschnittlich 506,5 Zivilverfahren und 331,9 Strafverfahren.44 Staatsanwält*innen bearbeiteten 2016 jeweils über 1.300 Verfahren.45
Dass ein Verfahren, welches mehrere Instanzen bis zur Rechtskraft durchläuft, somit mehrere Jahre dauern kann, ist somit nicht unüblich. Dennoch gibt es be- stimmte Rechtsstreitigkeiten, die hier herausstechen und demonstrieren, zu welchem Ausmaß sich die Verfah- renszeiten summieren können. Neben den über mehrere Jahre dauernden und medial intensiv begleiteten straf- rechtlichen Verfahren im NSU-Prozess46 und zur Auf- klärung des Loveparade-Unglücks 2010,47 dürfte das be- kannteste zivilrechtliche Verfahren mit außerordentli- cher Verfahrenslänge jenes der Gruppe Kraftwerk („Me- tall-auf-Metall“) sein. 1997 wurde das von Moses Pelham produzierte Lied „Nur mir“ veröffentlicht und löste da- mit einen Rechtsstreit aus, der bis heute (26 Jahre später) noch immer die Gerichte beschäftigt. Das allein mag be- reits für Aufsehen sorgen, kurioser wird es, wenn man bedenkt, dass Gegenstand der Streitigkeit nicht das ge- samte Lied, sondern ein lediglich zwei Sekunden langer „Tonfetzen“ ist. Pelham hatte diese kurze Sequenz dem Lied „Metall auf Metall“ der Band Kraftwerk entnom- men und seinem Song unverändert zugrunde gelegt (sog. Sampling). Ob dies eine Verletzung der Tonträger- rechte von Kraftwerk darstellt, ist weiterhin umstritten. Kompliziert macht diesen Fall einerseits, dass neben der nationalen Rechtslage auch EU-Recht zu beachten ist.
- 42 Rebehn, Strafjustiz am Limit, abrufbar unter: https://www.drb. de/newsroom/presse-mediencenter/nachrichten-auf-einen-blick/ nachricht/news/strafjustiz-am-limit‑1.
- 43 Vgl. hierzu: https://www.lto.de/recht/justiz/j/justiz-ranking- 2016-zahlen-deutsche-gerichte-erledigungsquote-verfahrensdauer- bestaende/IchfragedieStaatsregierungAuslastungderZivilgerichte: 1.1.WieentwickelnsichdieFallzahlenderandenbayerischenZivilge- richtenanh%E4ngigen.
44 LT-Drs. 18/2325, S. 4, 9.
45 Vgl. hierzu: https://www.lto.de/recht/justiz/j/justiz-ranking-
Dieses verfügt gegenüber den nationalen Normen über einen Anwendungsvorrang und ist auf die Nutzungs- handlungen ab 2002 anwendbar. Der Zeitraum davor be- urteilt sich ausschließlich nach den (damaligen) natio- nalen Vorschriften. Andererseits sieht das Recht keine klaren Regelungen für das Sampling, eine durchaus gän- gige Methode im Bereich der elektronischen Musik, vor, sodass die Gerichte im Wege der Rechtsauslegung eine Entscheidung treffen müssen. Im konkreten Fall sind sich die Gerichte jedoch uneins. Immer neue Detailfra- gen müssen geklärt werden, sodass der Rechtsstreit aktu- ell zum fünften Mal beim BGH (nach der Verhandlung am 1. Juni 2023 wird nun überlegt, den Fall nochmals dem EuGH vorzulegen) anhängig ist. Dabei geht es in- zwischen weniger um die eigentliche Urheberrechtsver- letzung, sondern um das generelle Verhältnis von Kunst- freiheit und Urheberrecht.
Abbildung: Verfahrensgang des Rechtsstreits „Metall- auf-Metall“, Stand: August 2023
Die Beantwortung dieser Frage liegt dabei nicht nur im Interesse der Beteiligten, sondern zeigt anschaulich die grundlegende Bedeutung der Rechtsprechung inner- halb des Rechtsstaats. Hier wird sichtbar, wie sehr Recht und Realität auseinanderfallen können und wie sich der Rechtsstaat letztlich um eine gerechte Lösung bemüht. Jede*r kann inzwischen mithilfe des Smartphones und
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2016-zahlen-deutsche-gerichte-erledigungsquote-verfahrensdauer- bestaende/IchfragedieStaatsregierungAuslastungderZivilgerichte: 1.1.WieentwickelnsichdieFallzahlenderandenbayerischenZivilge- richtenanh%E4ngigen.
Vgl. https://www.spiegel.de/panorama/nsu-prozess- warum-dauerte-der-prozess-fuenf-jahre-lang- a‑00000000–0003-0001–0000-000002602349.
Vgl. https://www.sueddeutsche.de/panorama/loveparade-prozess- urteil‑1.4896181.
198 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208
entsprechender Softwareunterstützung in Sekunden- schnelle Werke erstellen und sich und seine Meinung ausdrücken. Die Form zu kommunizieren, sich auszu- tauschen und auszudrücken, wird zunehmend multime- dialer; Memes, Pastiches oder Reels gehören zum Alltag, wie es früher für Briefe oder Nachrichtensendungen galt. Bei dieser neuen Art zu kommunizieren, geht es ge- rade darum, auf bestehende Werke zurückzugreifen und sie in einen anderen Kontext zu stellen; dabei wird häu- fig auf eine ganz bestimmte Situation oder ein Gefühl Bezug genommen, welches als Grundlage für die eigene Botschaft dient. Derselbe Effekt würde sich mit einer ei- genen Darstellung gar nicht erreichen lassen. Dem (Kunst-) Urheberrecht war diese Art der (Massen-) Kommunikation indes lange fremd. Aktuell sind weitere Entwicklungen zu sehen, die von einem neuen Verständ- nis von und dem Umgang mit Kunst sprechen. Zu nen- nen sind hier z.B. die Aktion des Künstlers Banksy, der während einer Auktion bei Sotheby’s sein Bild sich teil- weise selbst zerstören ließ,48 NFT-Kunst49 oder die Pro- testaktionen der „Letzten Generation“. Letztere ließen bereits die Forderungen nach neuen Straftatbeständen und härteren Strafen entstehen, wobei fraglich ist, ob der Weg über das Strafrecht tatsächlich zielführend ist.50
Der Fall „Metall-auf-Metall“ zeigt, welche Herausfor- derungen aus dem Auseinanderfallen von normiertem Recht und Wirklichkeit für die Rechtsprechung folgen und wie sich dies zeitlich auswirken kann. Solche beson- ders langen Verfahren belasten die Gerichte zusätzlich und führen dazu, dass auch hier faktische Grenzen er- reicht werden. Es bleibt zu fragen, wie die Rechtspre- chung auf ähnliche Entwicklungen reagieren und vor al- lem in welcher Geschwindigkeit dies geschehen wird. Gewiss ist jedoch: In der Masse werden wir uns über 20 Jahre laufende Verfahren nicht mehr leisten können.51
4. Rechtsumsetzung
Neben der Rechtsetzung und der Rechtsprechung kommt der Rechtsumsetzung eine zentrale Rolle zu. Hier zeigt sich, wie die normativen Vorgaben konkret angewandt werden und ihre gestalterische Wirkung ent-
48 Vgl. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/ banksys-zerstoertes-bild-steigert-seinen-wert-15825859.html.
49 Kleiber, NFT – eine Einordnung zwischen Recht, Kunst und Blockchain, in: MMR-Aktuell, 2022, Meldung 445475; Heine/Stang, Weiterverkauf digitaler Werke mittels Non-Fungible-Token aus urheberrechtlicher Sicht. Funktionsweise von NFT und Betrach- tung der urheberrechtlichen Nutzungshandlungen, in: MMR 2021, 755.
50 Vgl. Rostalski, Das Strafrecht ist keine Therapie, libra-rechtsbrie- fing v. 15.11.22.
51 S. hierzu auch Fobbe, Sind zwanzig Jahre zuviel?,
falten, ob die beabsichtigte Wirkrichtung des Rechts tat- sächlich eintritt oder bisher unbekannte bzw. nicht bedachte Hürden entstehen. Wenn bereits der normative Schaffensprozess langwierig ist, könnte man meinen, dass die anschließende Rechtsumsetzung entsprechend effizient und unaufgeregt möglich ist. Dennoch kommt es auch an dieser Stelle immer wieder zu Problemen, die dabei nicht immer auf normative Schwächen zurückzu- führen sind, jedoch ein Indiz für solche sein können.
Ein Beispiel für die besonders langwierige Umset- zung ist die Einführung der elektronischen Patientenak- te.52 Bereits 2003 wurde mit dem Gesetz zur Modernisie- rung der gesetzlichen Krankenversicherungen53 ange- stoßen, dass die wichtigen Gesundheitsdaten der Patient*innen nicht mehr ausschließlich dezentral bei den Behandelnden vorliegen sollten. Der erste Ansatz hierzu war die Einführung der elektronischen Gesund- heitskarte (eGK), die zunächst 2006 erfolgen sollte, dann jedoch mehrfach verschoben wurde. Die genaue Funkti- onsweise der eGK war darüber hinaus zunächst umstrit- ten und wurde erst 2020 mit der Neuregelung des SGB V durch das Patientendaten-Schutz-Gesetz (PDSG)54 end- gültig geklärt. So verfügten die Versicherten mit der eGK im Gegensatz zur vorherigen Krankenversichertenkarte z.B. bereits über die technische Möglichkeit, elektroni- sche Rezepte zu verwenden oder weitere Daten neben den Patientenstammdaten zu speichern. Wie genau die- se neuen elektronischen Funktionen jedoch ausgestaltet werden sollten, war nicht geregelt,55 sodass von diesen Optionen kein Gebrauch gemacht wurde. Einerseits hät- te die (technische) Möglichkeit bestanden, auf der eGK möglichst viele Patientendaten zu speichern, sodass die eGK somit als mobile elektronische Patientenakte hätte fungieren können („eGK als Speicher“), andererseits hätte sie ausschließlich eine bloße Authentifizierungs- und Autorisierungsfunktion haben können („eGK als Schlüssel“). Durch die ausführliche Normierung der elektronischen Patientenakte (ePA) in den §§ 341 ff. SGB V und der Neuregelung der eGK wurde durch den Gesetzgeber 2020 schließlich klargestellt, dass die eGK selbst nicht als elektronische Akte fungieren
Rechtsempirie v. 1 13.12.2022 DOI 10.25527/re.2022.03.
52 Ausführlich hierzu Heckmann/Rachut, Elektronische Patienten-
akte und elektronische Gesundheitskarte, in: Rehmann/Till- manns, E‑Health / Digital Health, München, 2022, Kap. 3 E.; bis 2025 sollen lt. Bundesregierung mind. 80 Prozent der gesetzlich Krankenversicherten die ePA nutzen, vgl. https://www.aerzteblatt. de/nachrichten/137322/Elektronische-Patientenakte-Bund-will- 80-Prozent-Abdeckung-bis-2025.
53 BGBl. 2003 I, S. 2190.
54 BGBl. 2020 I, S. 2115.
55 Vgl. Thüsing/Rombey, NZS 2019, 201, 202.
soll. Stattdessen wurde der stufenweise Aufbau der ePA ab 2021 beschlossen.56 Hierbei wurden die Krankenver- sicherungen verpflichtet, diese ihren Versicherten ab dem 1.1.2021 zur Verfügung zu stellen und sie stufenwei- se auszubauen.57 Doch auch die konkreten Vorgaben hierzu stellten die Krankenversicherungen vor enorme praktische Herausforderungen. Nicht nur musste die ePA technisch umgesetzt werden, der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) hielt die Regelungen der ePA zudem für rechtswidrig und rief die Krankenversicherungen unter Androhung etwaiger aufsichtsrechtlicher Maßnahmen dazu auf, von der Bereitstellung einer seiner Ansicht nach rechtswidri- gen ePA abzusehen.58 Diese Debatte mag zudem dazu beigetragen haben, dass die (mittlerweile eingeführte) ePA kaum genutzt wird. Es scheint an Wissen, Akzep- tanz, Transparenz und Funktion der ePA59 zu fehlen. Die gesetzgeberische Absicht, die Gesundheitsversorgung durch eine elektronische Aktenführung in vielen Punk- ten zu verbessern, stößt inhaltlich auf Zustimmung, ent- faltet in der Realität jedoch auch nach mehreren Jahren kaum Wirkung. Die aktuelle Regierung hat sich daher dazu entschlossen, das Modell der ePA weiter zu refor- mieren und die Nutzung im Wege eines Opt-Out-Ver- fahrens zu gestalten.60
Die Normierung eines Bereichs, um eine bestimmte Materie nach dem Willen des Gesetzgebers zu gestalten, reicht nicht immer aus, um die entsprechenden Verän- derungen auch tatsächlich herbeizuführen. Mitunter wird erst bei dem Versuch der Rechtsanwendung deut- lich, dass eine weitere Regulierung notwendig ist, um Unklarheiten oder Hürden in der Anwendung zu besei- tigen. Dies wiederum kostet weitere wertvolle Zeit und hängt möglicherweise mit der Art und Weise der bishe- rigen Regulierung zusammen.
56 Heckmann/Rachut, Elektronische Patientenakte und elektronische Gesundheitskarte, in: Rehmann/Tillmanns, E‑Health / Digital Health, München, 2022, Kap. 3 E, Rn. 459 ff.
57 Heckmann/Rachut, Elektronische Patientenakte und elektronische Gesundheitskarte, in: Rehmann/Tillmanns, E‑Health / Digital Health, München, 2022, Kap. 3 E, Rn. 468 ff.
58 https://www.bfdi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/ DE/2020/20_BfDI-zu-PDSG.html. Hierzu unter verfassungs- rechtlichen Aspekten auch Heckmann/Paschke, Datenschutz, in: Stern/Sodan/Möstl, Staatsrecht, München, 2022, § 103 Rn. 122 ff.
59 So wurde bspw. die Einführung des elektronischen Rezepts erneut verschoben, vgl. https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/ news/artikel/2021/12/20/bmg-e-rezept-start-auf-unbestimmte- zeit-verschoben.
60 SPD/Grüne/FDP, Mehr Fortschritt wagen. Koalitionsvertrag, 2012, S. 65, abrufbar unter: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/
5. Juristenausbildung – Nach 12 Jahren qualifiziert?
Nachdem der Faktor Mensch bei Veränderungsprozes- sen eine zentrale Rolle spielt, könnte auch die Ausbil- dung der Jurist*innen als Hebel für die Beschleunigung des Rechts fungieren. Wie die anderen Bereiche des Rechts, zeichnet sich auch die juristische Ausbildung durch seit vielen Jahren etablierte Strukturen aus. Das zweistufige Ausbildungsformat kann bereits auf eine lan- ge Historie zurückblicken: 1750 wurde in Preußen eine mehrstufige Ausbildung eingeführt, an deren Ende der Assessorentitel stand.61 Die Ausbildung mit Referen- darsexamen (nach der universitären Ausbildung) und dem Assessorexamen (nach der weiteren praktischen Ausbildung) gibt es seit 1869.62 Die Grundgedanken stammen somit aus einer Zeit, in denen Herausforde- rungen, wie sie die digitale Transformation und die aktu- ellen globalen Entwicklungen mit sich bringen, noch gar nicht bedacht waren und das Rechtswesen nur bestimm- ten Personen(-gruppen) vorbehalten war. So wurde vor gerade einmal 100 Jahren (am 7.12.1922) erstmals eine Frau als Rechtsanwältin zugelassen. Noch heute geht man davon aus, dass die Referendar*innen während der circa zweijährigen Vorbereitungszeit auf das zweite juris- tische Staatsexamen von familiärer Seite finanziell unter- stützt werden. Aus diesem Grund gewährt der Staat ihnen lediglich eine Unterhaltsbeihilfe, die „eine Hilfe zum Bestreiten des Lebensunterhalts während der Aus- bildung darstellt“63 und lässt Nebentätigkeiten während des Referendariats nur in engen Grenzen bzw. „in Aus- nahmen“ zu.64 U.a. Referendar*innen aus einkommens- schwächeren Familien wird der Erwerb des zweiten Staatsexamens und damit der Zugang zum Richteramt oder zur Anwaltschaft dadurch weiterhin erschwert.
Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf.
61 Vgl. Köbler, Zur Geschichte der juristischen Ausbildung in
Deutschland. in: JZ 1971, 768 ff.
62 Vgl. Wegner/Suchrow/Bussmann-Welsch, Was bisher nicht geschah
(und warum), FAZ Einspruch v. 25.2.20, abrufbar unter: https:// www.faz.net/einspruch/reform-des-jurastudiums-was-bisher- nicht-geschah-und-warum-16650988.html?GEPC=s3&premium= 0x261782a4edba5f46303d071148ee73e5&fbclid=IwAR19h0UiiVarFd 4ho7OORQPTrP1wE_iY2xeV-B_lt-t30WoFMqRFHjRplTE.
63 VG Schleswig, Beschl. v. 29.5.17 – 11 B 15/17 m. w. N. = BeckRS 2017, 121343; VG Saarlouis, Urt. v. 14.9.2010 – 2 K 1112/09 = BeckRS 2010, 54740.
64 In Bayern z.B. Mindestpunktzahl in der ersten juristischen Staatsprüfung, maximale Wochenarbeitszeit der Nebentätigkeit von 9 bzw. 14 Stunden sowie Anrechnung der Vergütung auf die Unterhaltsbeihilfe, vgl. Art. 3 Abs. 2, 3 SiGjurVD.
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Auch wenn sich die juristische Ausbildung, beste- hend aus dem Studium der Rechtswissenschaft und dem zweijährigen Rechtsreferendariat, theoretisch innerhalb von sieben bis acht Jahren durchlaufen ließe,65 sieht die Realität für viele anders aus. Durch das regelmäßige Überschreiten der Regelstudienzeit,66 die Notwendigkeit von Wiederholungsversuchen, um die für den Wunsch- beruf weiterhin ausschlaggebende Examenspunktzahl zu erreichen,67 Wartezeiten bis zum Beginn des Referen- dariats68 und zur Verkündung der Prüfungsergebnisse69 dauert es deutlich länger. Diese Zeit kann sich durch Auslandsaufenthalte, Auszeiten, Carearbeit oder eine Promotion weiter erhöhen. An den Abschluss des zwei- ten Examens schließt sodann die weitere Ausbildung („on the job“) in dem konkret zu ergreifenden Beruf so- wie der Erwerb von Zusatzqualifikationen, z.B. eine Me- diations- oder Fachanwaltsausbildung, an.
Dies bedeutet, dass es bei der Frage, wie das Recht im Jahr 2035 aussehen soll, nicht um eine ferne Zukunft geht. Vielmehr sind die Personen, die dann Recht spre- chen, Recht anwenden und gestalten sollen, diejenigen, die jetzt mit ihrer juristischen Ausbildung beginnen. Wenn aktuell darüber diskutiert wird, ob und wie die ju- ristische Ausbildung modernisiert werden soll,70 z.B. durch das Ablegen von Prüfungen am Computer (E‑Klausuren)71 statt den bisherigen handschriftlichen Ausarbeitungen, die in fünf Stunden angefertigt werden müssen, dann ist dies eigentlich zu spät. Die Reformen müssten aufgrund des zeitlichen Ausmaßes der juristi- schen Ausbildung vielmehr die Arbeitswelt und deren Anforderungen an Jurist*innen in einer ferneren Zu- kunft in den Blick nehmen.
65 An das mindestens fünf bis sechs Jahre umfassende Studium schließt sich der juristische Vorbereitungsdienst (Referendariat) an, an dessen Ende das zweit juristische Staatsexamen steht. Dieses ist Voraussetzung für das Ergreifen der meisten (traditionellen) juristischen Berufe, siehe auch: Kilian, Die Zukunft der Juristen. Weniger, anders, weiblicher, spezialisierter, alternativer – und entbehrlicher?, in: Neue Juristische Wochenschrift, 2017, S. 3043 ff.
66 Die Regelstudienzeit betrug zunächst neun, seit November 2019 zehn Semester, § 5d Abs. 2 S. 1 DRiG (Deutsches Richtergesetz). Die tatsächliche Studienzeit der Studierenden betrug 2016 bereits 11,3 Semester (BT-Drs. 19/8581, S. 6.) und dürfte sich gerade durch die Corona-Pandemie in den letzten Jahren weiter verlängert haben.
67 Bei Nichtbestehen oder zur Notenverbesserung haben die Studie- renden in den meisten Bundesländern zudem die Möglichkeit, innerhalb der nächsten beiden Prüfungstermine erneut an der Staatsprüfung teilzunehmen. Nachdem die erreichte Examens- note in beiden Staatsexamen nach wie vor entscheidend für die späteren Berufsmöglichkeiten sind, wird diese Option von vielen Studierenden genutzt, siehe auch: https://www.lto.de/karriere/ jura-referendariat/stories/detail/zweites-staatsexamen- wiederholen-verbesserungsversuch-noten-kanzleien.
6. Zwischenergebnis
Zwölf Jahre im Recht können sich unterschiedlich gestal- ten. Im schlimmsten, aber durchaus realistischen Fall, gelingt es in diesem Zeitraum nicht, eine bestimmte Materie zu regeln oder ein Vorhaben in der Rechtspraxis umzusetzen; auch eine rechtskräftige Entscheidung muss nach zwölf Jahren noch nicht vorliegen. Ziemlich sicher wird es in dieser Zeit jedoch einer Generation an Jurist*innen gelingen, die juristische Ausbildung zu durchlaufen. Dabei zeigt sich bereits jetzt: Der Rechts- staat steht vor großen Herausforderungen, die sich zukünftig weiter ausbreiten werden. Bisher hat man jedoch keinen Ansatz gefunden, den unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Recht und Wirklichkeit beizu- kommen. Während sich die Welt in allen Lebensberei- chen immer schneller dreht, kommt der Rechtsstaat schlicht nicht mit. Insbesondere durch die digitale Trans- formation werden hierbei Tatsachen geschaffen, die sich nachträglich normativ mitunter nicht mehr ausgleichen lassen. Dies birgt die Gefahr, dass es vermehrt zu einer normativen Kraft des Faktischen kommt und das Recht seine Funktion nach und nach verliert, bis es schließlich wirkungslos ist.
II. Verstärkende Faktoren
Blickt man in die Zukunft, lassen sich verschiedene Fak- toren ausmachen, welche die beschriebene Dynamik verstärken werden.
68 Je nach Note und Bundesland müssen die Interessierten hier mit mehreren Monaten Wartezeit rechnen. In Berlin betrug die Warte- zeit 2022 für die Top-Absolvent*innen des ersten Examens (mehr als 10 Punkte) vier bis 19 Monate. Für Personen, die nicht zu den besten Examenskandidaten gehörten (weniger als 10 Punkte) sogar 19 bis 22 Monate (https://www.berlin.de/gerichte/ kammergericht/karriere/rechtsreferendariat/bewerbungsver fahren/wartezeit/). Während die Referendar*innen in den nächs- ten zwei Jahren verschiedene Ausbildungsstationen (z. B. an den Gerichten, bei der Staatsanwaltschaft oder bei Anwält*innen) durchlaufen, bereiten sie sich parallel auf das zweite juristische Staatsexamen vor. Auch hier muss, vergleichbar zum ersten Exa- men, mit entsprechender Zeit für Korrektur, mündliche Prüfung und einen etwaigen Wiederholungsversuch gerechnet werden.
69 Nach Ablegen der schriftlichen Prüfungen des Examens muss mit mehreren Monaten bis zur Korrektur und mündlichen Prüfung gerechnet werden.
70 Hier machte insbesondre die Initiative iur.reform auf sich auf- merksam, die eine große Studie zum Bedarf der Ausbildungsmo- dernisierung durchführte, https://iurreform.de/.
71 Heckmann/Rachut‚ E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung, Berlin, 2023, S. 24 ff.
1. Zunehmende Komplexität
Die Komplexität der Sachverhalte, denen sich das Recht annehmen muss, wird kontinuierlich steigen. Nachdem der Rechtsstaat bereits jetzt an seine Grenzen stößt, erscheint es fraglich, wie mit diesen Herausforderungen auf tatsächlicher und rechtlicher Seite umgegangen wer- den soll.72
a) Komplexität auf der Sachverhaltsebene
Die Verfahren zum NSU-Prozess73 oder im Zuge des Loveparade-Unglücks74 zeigen, dass eine gründliche Aufarbeitung großer Sachverhalte Zeit benötigt. Verfah- ren, die aktuell als besonders komplex beschrieben wer- den, zeichnen sich vor allem durch eine große Zeitspan- ne oder Personenzahl aus. Hier braucht es die entspre- chenden prozessualen Mittel, um Verfahren zu bündeln, sowie Ressourcen, um diese Vielzahl an Informationen aufzuarbeiten. Umfangreiche Akten bedürfen schlicht einer längeren Zeit zum Lesen und Bearbeiten.
Sachverhalte können auch derart komplex sein, dass ein bloßes Mehr an bestehenden Ressourcen (insbeson- dere Zeit und Personal) nicht genügt. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn für deren Erfassung und Bewertung Spezialkenntnisse notwendig sind, etwa wenn es um eine bestimmte Technologie geht, die eine besondere Ex- pertise erfordert. Insbesondere hinsichtlich des Einsat- zes von KI-gestützten Systemen, Quantentechnologie oder IoT-Diensten wird es in den kommenden Jahren zu rechtlichen Fragestellungen kommen, die auch durch die Gerichte beantwortet werden müssen.
Gerichte bzw. Spruchkörper, die auf bestimmte The- men spezialisiert sind, bilden die Ausnahme, sodass sol- che Situationen der Unwissenheit Jurist*innen grund- sätzlich nicht fremd sind. Niemand – auch nicht Richter*innen – muss alles wissen und verstehen. In sol- chen Fällen behilft man sich durch das Hinzuziehen ex- terner Sachverständiger, die einen bestimmten (z.B. vom Gericht vorgegebenen) Fragenkatalog aufgrund ihres speziellen Sachverstandes beantworten. Dies geschieht beispielsweise regelmäßig bei Streitigkeiten im Zusam- menhang mit Unfällen im Straßenverkehr. Wie schnell das Auto eines Beteiligten war oder ob ein technischer Defekt vorlag, wird dann durch Sachverständige ermit- telt. Grundsätzlich lässt sich dieses Prinzip auch auf neue oder komplexere Systeme übertragen, hat jedoch sehr
- 72 Zur Komplexität als Rechtsproblem s. Zollner, Komplexität und Recht, Berlin, 2014, S. 47 ff.
- 73 Vgl. https://www.spiegel.de/panorama/nsu-prozess- warum-dauerte-der-prozess-fuenf-jahre-lang- a‑00000000–0003-0001–0000-000002602349.
wohl seine Grenzen. Zum einen gibt es (technische) Sachverhalte, welche sich nicht aufklären lassen bzw. ei- nem stetigen Wandel unterliegen, sodass beispielsweise der Sachverhalt in der Zeit, in der ein Mensch ihn nach- vollzogen hätte, sich bereits geändert hat und für die rechtliche Beurteilung nicht mehr relevant ist. Dies ist z.B. bei selbstlernenden algorithmischen Systemen der Fall. Hier geht es in der Anwendung nicht darum, zu ver- stehen, wie genau das System funktioniert, sondern nur darum, dass es (zu einem bestimmten Grad) funktio- niert. Dieser Ungewissheit in der Praxis steht jedoch das Bedürfnis des Rechts nach Gewissheit gegenüber.
Zum anderen stellt sich die Frage, ob ab einem gewis- sen Punkt eine Entscheidung gänzlich ohne entspre- chendes Fachwissen überhaupt noch möglich sein wird. Immer neue Gutachter*innen müssten zu immer mehr Fragen angehört werden, was den Prozess nicht nur im- mer weiter verlangsamen würde, sondern auch die Frage aufwirft, ob das Gericht überhaupt noch über die not- wendige Kompetenz verfügt, seine Rolle auszufüllen.
b) Komplexität auf der Rechtsebene
Hinzu kommt, dass die Komplexität auch auf der recht- lichen Ebene weiter steigt. Solange keine speziellen Rege- lungen für Technologien wie KI, Blockchain oder NFTs existieren, stellt sich in der Rechtsanwendung die Frage, unter welche der bestehenden Normen diese Technolo- gie zu subsumieren ist, ob und wenn ja, welche Ausnah- men oder telelogischen Reduktionen vorzunehmen sind. Ähnlich dem rechtlichen Umgang mit Musiksampling, herrscht gerade in Hinblick auf den Einsatz bestimmter Technologien oder der Zu- bzw. Einordnung bestimmter Konzepte (etwas des Metaverse oder Web 3.0) eine allge- meine Rechtsunsicherheit. Neben den Entwicklungen auf der nationalen Ebene muss zudem vermehrt auch das internationale Geschehen in den Blick genommen werden. Insbesondere die EU bemüht sich gerade um ein umfassendes Regulierungspaket und hat sich mit ihrer Datenstrategie zum Ziel gesetzt, in den nächsten Jahren an die Spitze der datengesteuerten Gesellschaften zu gelangen sowie einen einheitlichen Binnenmarkt für Daten zu errichten, sodass eine EU-weite und branchen- übergreifende Datenweitergabe zum Nutzen von Unter- nehmen, Forschenden und öffentlichen Verwaltungen möglich sein soll.75 Darauf basierend befinden sich aktu- ell verschiedene regulatorische Vorhaben auf dem Weg
74 Vgl. https://www.sueddeutsche.de/panorama/loveparade-prozess- urteil‑1.4896181.
75 Europäische Kommission, Eine europäische Datenstrategie, COM(2020) 66 final.
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202 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208
(u.a. AI Act, Data Governacne Act, Data Act, Digital Markets Act, Digital Services Act), deren konkretes Zusammenwirken noch nicht genau absehbar ist. Ande- re Rechtsfragen, wie beispielsweise hinsichtlich der Möglichkeit, personenbezogene Daten in Drittstaaten – vor allem die USA – zu übertragen, sind nach dem letz- ten Urteil des EuGH,76 trotz Angemessenheitsbeschluss erneut in der Schwebe.77
c) Folgen der Komplexität
Eine Komplexitätsreduktion ist zum Erhalt einer funkti- onierenden Rechtsordnung notwendig, Wege dorthin aber bisher nicht absehbar. Was am Beispiel der Gerich- te erläutertet wurde, gilt ebenso für die anderen Bereiche des Rechtsstaats. Die drohenden Folgen dessen können von Qualitätsverlust bis hin zum (zumindest partiellen) Stillstand im Hinblick auf Rechtsetzung, Rechtsanwen- dung und Rechtsprechung reichen.
2. Keine Abhilfe durch Technologieeinsatz
Insoweit könnte man nun darauf hoffen, dass auch der Rechtsstaat sich bestimmter Technologien zur Unter- stützung bedient. Allerdings hat sich gerade in der Coro- na-Pandemie gezeigt, wie schlecht u.a. die Gerichte tech- nisch ausgestattet sind. Zwar besteht z.B. im Zivilrecht mit § 128a ZPO bereits seit 2013 die Möglichkeit, eine Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung durchzuführen, sodass nicht mehr alle Parteien vor Ort sein müssen.78 Doch auch knapp zehn Jahre später ist eine solche Verhandlung weiterhin die Ausnahme. Haut- li und Schlicht haben über 3000 Anträge von Anwält*innen auf Durchführung einer Videoverhand- lung ausgewertet und kommen zu einem ernüchternden Ergebnis79: Knapp die Hälfte der Anträge (48,4 Prozent) wurde negativ beschieden, wobei als Gründe dafür sei- tens der Gerichte auf eine fehlende technische Ausstat- tung, Fehlen des hinreichend technisch versierten
76 EuGH, Urt. v. 16.7.20 – C‑311/18 = NJW 2020, 2613.
77 Für eine technologische, statt rechtliche Lösung s. Heckmann,
libra-rechtsbriefing v. 10.5.22.
78 Vgl. zur Entwicklung der Digitalisierung in der Justiz Anne
Paschke, Digitale Gerichtsöffentlichkeit, Berlin, 2018, S. 235 ff.
79 Hautli/Schlicht, Ablehnungen von Videoverhandlungen: Eine Ana-
lyse von 3.000 „Dieselverfahren“, zpo-blog v. 27.5.2021, abrufbar unter: https://anwaltsblatt.anwaltverein.de/de/zpoblog/hautli- schlicht-ablehnung-videoverhandlungen-128a-zpo-diesel verfahren.
80 S. z. B. Müller, BSG: Signatur bei Übermittlung elektronischer Dokumente über das beA, in: NJW 2022, 1336; Oelschlägel, Zu- mutbarkeit der Nutzung des beA, in: IT-Rechtsberater 2021, S. 79; Günther, Haftungsfallen rund ums beA, in: NJW 2020, 1785; NZA 2019, S. 825; Siegmund, Das beA von A bis Z, in: NJW, 2017, S. 3134; BGH, Urt. v. 22.3.21 – AnwZ (Brfg) 2/20 = NJW 2021, 2206; BGH,
Gerichtspersonals oder die Nichtnotwendigkeit auf- grund eines ausreichend großen Gerichtssaals während der Pandemie verwiesen wurde.
Auch in anderen Bereichen, etwa der elektronischen Kommunikation, zeigt sich, wie schwer sich die über Jahrzehnte bis Jahrhunderte gewachsenen Strukturen des deutschen Rechtsstaats mit der Digitalisierung tun. Das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) bei- spielsweise dient zur sicheren elektronischen Kommuni- kation der Anwält*innen mit den Gerichten. Bereits 2013 wurde hier der Grundstein zur aktiven Nutzungspflicht (Pflicht zur Übersendung von bestimmten Dokumenten an die Gerichte ausschließlich in elektronischer Form) gelegt. In den Jahren des Aufbaus des beA sowie im ers- ten Jahr der aktiven Nutzungspflicht ereigneten sich dennoch zahlreiche Pannen.80
Vom Einsatz unterstützender, z.B. automatisierter Systeme oder eines KI-Einsatzes in der Breite ist die Jus- tiz noch weit entfernt. Auch wenn es hier bereits erste Überlegungen gibt, benötigen all diese Technologien ne- ben der Infrastruktur zunächst eine entsprechende Da- tengrundlage. Dabei geht es nicht nur darum, dass die Informationen überhaupt elektronisch bestehen und so- mit verarbeitet werden können, sondern auch, wo, in welcher Qualität und wie diese ausgetauscht werden. Aktuell besteht nicht einmal ein vollständiges Bild über die in Deutschland getroffenen gerichtlichen Entschei- dungen. Denn nur ein verschwindend kleiner Teil davon (ca. 1 Prozent) wird überhaupt veröffentlicht und elekt- ronisch zugänglich bereitgestellt.81
3. Unattraktivität der klassischen juristischen Berufe
Nimmt man den demografischen Wandel hinzu82, müs- sen komplexere Verfahren perspektivisch von immer weniger Personen bearbeitet werden, was zu einer weite- ren Erhöhung der Bearbeitungszeit und damit Verlänge- rung der Verfahren an den Gerichten führt.
Beschl. v. 29.9.21 – VII ZB 12/21 = NJOZ 2022, 93; BGH, Beschl. v.
11.5.21 – VIII ZB 9/20 = NJW 2021, 2201;
81 https://www.lto.de/recht/justiz/j/studie-veroeffentlichung-gerichts
entscheidungen-deutschland-transparenz-justiz/; zur Veröffent- lichungspflicht von Gerichtsentscheidungen s. z.B. kürzlich OVG Münster, Beschl. v. 11.1.2023 – 15 E 599/22 = NJW 2023, 1232.
82 Bundesweit geht man von einem Ausscheiden von gut 40 Prozent aller Jurist*innen bis 2030 aus. So Deutscher Richterbund, Die personelle Zukunftsfähigkeit der Justiz in der Bundesrepublik Deutschland, S. 7, abrufbar unter: http://rba-nw.de/uploads/DRB- Positionspapier%20Nachwuchsgewinnung_kl.pdf; jüngst warnten zudem mehrere Gewerkschaften in diesem Zusammenhang vor der Handlungsunfähigkeit des Staates, s. https://www.welt.de/ wirtschaft/article246878548/Fachkraeftemangel-Gewerkschaften- warnen-vor-staatlicher-Handlungsunfaehigkeit.html.
83 Gleichzeitig könnte man von den Werten und Sichtweisen der
Zwar könnte man den bestehenden und aufkommen- den Personalmangel möglicherweise durch die Einstel- lung von jungen, motivierten und idealerweise digitalaf- finen Jurist*innen beseitigen.83 Dies wirft jedoch ein weiteres Problem auf: Die für die Aufrechterhaltung von Justiz und Verwaltung wichtigen Berufe (also sämtliche Organe der Rechtspflege oder Verwaltungsjurist*innen) werden zunehmend als unattraktiv wahrgenommen. Sie erfordern einerseits ein zweites juristisches Staatsexa- men – immer mehr Absolvent*innen entscheiden sich nach dem ersten Examen jedoch gegen das Referendari- at und damit gegen den Eintritt in die klassischen juristi- schen Berufe.84 Andererseits entstehen auch im juristi- schen Bereich neue Berufsfelder, die eine flexiblere, indi- viduellere aber gleichzeitig sinnstiftende Tätigkeit er- möglichen. Legal Tech ermöglicht bspw. die Verknüpfung neuester Technologien mit Rechtsfragen. Mittels Legal Design erhält darüber hinaus der Design Thinking-An- satz Einzug in das Bearbeiten von Rechtsfragen und zahlreiche Jurist*innen haben ihren Weg in Unterneh- men gefunden, wo sie als eine Art Übersetzer*innen tä- tig sind, um rechtliche Gesichtspunkte z.B. frühzeitig in Entwicklungsprozesse einzubringen. Selbst wenn man das zweite Examen mit den vom Staat geforderten guten Noten ablegt, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass der Weg in Justiz und Verwaltung vorgegeben ist, um dort im Bereich von Rechtsprechung und Rechtsanwendung oder der Vorbereitung von Regulierungsverfahren mit- zuwirken. Der öffentliche Dienst ist hier gegenüber vie- len möglichen Alternativen schlicht im Nachteil. Dies bezieht sich in erster Linie nicht auf die niedrigere Ver- gütung, sondern vor allem auf die geringeren Möglich- keiten von individueller Förderung, Aufstiegschancen und Selbstbestimmtheit der Arbeit.
4. Kultur und Selbstverständnis von Jurist*innen
Des Weiteren zeigen sich Jurist*innen vermehrt auch in anderen Rollen, die nicht unbedingt eine neue Berufs- sparte bedeuten. Gerade bei der Frage des Datenschutzes bzw. der Beurteilung der dahinterstehenden Rechte (auf EU-Ebene: Achtung des Privat- und Familienlebens sowie Schutz bezogener Daten, Art. 7, 8 GrCh; auf natio- naler Ebene: Recht auf informationelle Selbstbestim- mung, Art. 2 Abs. 1 i.V.m Art. 1 Abs. 1 GG) hat sich in den letzten Jahren eine intensive und kontrovers geführte Diskussion gezeigt. Hierbei kommt es vor, dass
Jüngeren profitieren.
84 Deutscher Richterbund ebda., S. 10 ff.
85 Zur Grundrechtsgewährleistung durch Datennutzung siehe Heck-
mann/Paschke, Datenschutz, in: Stern/Sodan/Möstl, Staatsrecht,
München, 2022, § 103 Rn. 97 ff.
86 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik
Jurist*innen, die eigentlich dazu angehalten wären, den Umgang mit Daten in einen rechtlich zulässigen Rah- men zu lenken und dabei die verschiedenen rechtlich geschützten Positionen in einen angemessenen Aus- gleich zu bringen, sich eher als Lobbyist*innen hervor- getan haben. Keine Frage, Jurist*innen dürfen parteiisch sein, wenn ihre Position dies erfordert. Werden sie aber (im staatlichen und damit allgemeinen Interesse) für bestimmte Aufgaben, z.B. als Datenschutzbeauftragte, bestellt, so gilt es, alle relevanten Positionen einzubezie- hen. Neben dem Schutz personenbezogener Daten bein- haltet das auch das Recht auf Nutzung (personenbezoge- ner) Daten.85 Des Öfteren scheint in der (öffentlichen) Debatte vergessen zu werden, dass bspw. die DSGVO nicht nur „Vorschriften zum Schutz natürlicher Perso- nen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten“, sondern auch „zum freien Verkehr solcher Daten“ ent- hält, vgl. Art. 1 Abs. 1 DSGVO. Das Recht auf Daten- schutz ist kein „Übergrundrecht“ und übertrumpft daher auch nicht pauschal andere Interessen. Wie bei anderen Kollisionen ebenfalls, gilt es, die betroffenen Rechtsposi- tionen in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. Kollidieren verschiedene Grundrechte miteinander, muss ihnen im Wege der praktischen Konkordanz zu Geltung verholfen werden. Demnach gilt es, eine Lösung zu finden, bei der beide Grundrechte bestmöglich zum Tragen kommen, durch das eine das andere jedoch nicht an Wirkkraft verliert.86
Das Datenschutzrecht ist hierbei nur ein Beispiel da- für, dass sich Jurist*innen durchaus als „Verhinderer“ und weniger als „Ermöglicher“ positionieren. Statt in den aufgeworfenen Rechtsfragen die Möglichkeit zu se- hen, Chancen zu ergreifen und Wege aufzuzeigen, wird oftmals betont, was nicht geht. Damit wird mitunter der Weg zu einer möglichen funktionierenden und rechts- konformen Lösung verbaut.
Eng mit dem Selbstverständnis der Jurist*innen ver- bunden ist die bestehende Kultur. Die Ausbildung för- dert weiterhin Einzelkämpfer*innen und belohnt Indivi- duen, die sich von der Gruppe abheben. Der Fokus der Ausbildung und Bewertung liegt dabei auf dem Repro- duzieren bestimmter Streitstände und Rechtsprechung. Mittelbar wird dadurch die Abgrenzung unter den Stu- dierenden gefördert, Auswendiglernen geht Verständnis vor und zusätzliche Aktivitäten und das Erlernen weite- rer Kompetenzen87, die nicht examensrelevant sind,
Deutschland, Heidelberg, 1999, S. 71.
87 Zur Teamfähigkeit und ihrer Einbeziehung in Ausbildung und
Prüfung siehe auch Heckmann/Seidl/Pfeifer/Koch c.t. <compliant teamwork>. Teamorientiertes Lernen in den Rechtswissenschaf- ten, Berlin, 2015.
88 Vgl. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechts-
Rachut · Recht ohne Wirklichkeit? 2 0 3
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werden nur selten honoriert. Es wundert daher nicht, dass man auch den „fertigen Jurist*innen“ nachsagt Einzelkämpfer*innen zu sein und sich schwer tun, als Gruppe oder Team etwas zu erreichen. Möglicherweise bedingt dies ebenfalls, dass Fehler eher versteckt werden, als diese öffentlich zu machen, um einen gemeinsamen Lernprozess anzustoßen.
5. Negative Synergien
Hinzu kommt, dass sich die vorgenannten Faktoren gegenseitig verstärken. Das immer weitere Entfernen von Recht und Wirklichkeit sorgt für eine stetige Aus- weitung von Rechtsunsicherheit und damit zu negativen Folgen für das Individuum und die Gesellschaft. Ein Staat, der nicht in der Lage ist, Innovationen durch einen entsprechenden Rechtsrahmen zu ermöglichen und zu fördern, verliert seine Attraktivität als Wirtschaftsstand- ort. Fehlende Ressourcen bei steigendem Bedarf sowie die im Verhältnis unattraktiver werdenden beruflichen Aussichten, verstärken den bestehenden Personalmangel und verringern die Handlungsmöglichkeiten des Staates weiter. Eine Lösung erscheint hier nicht mehr allein über das Aufbringen enormer finanzieller Mittel möglich, sondern es droht zumindest ein zeitweises Abfallen der Qualität. Schließlich können die individuellen negativen Erfahrungen mit dem Recht in all seinen Facetten zum Schwinden der Akzeptanz in der Gesellschaft beitragen und die Steuerungsmöglichkeit des Rechts weiter ein- schränken, bis der Rechtsstaat schließlich ganz zum Erliegen kommt.
6. Zwischenergebnis: Der Rechtsstaat in einer Abwärts- spirale
Ein Auseinanderfallen von Recht und Wirklichkeit ist unserem Rechtsstaat zu einem gewissen Grad nicht fremd.88 Die zögerliche bzw. überlegte Adaption des Rechts mag zum Teil sogar als Vorteil im Sinne eines Ge-
normen, 1997, S. 173 ff.; Bringewat, Geltungsverlust von Normen und Verfügungen des öffentlichen Baurechts im Spannungsver- hältnis von Recht und Wirklichkeit, Baden-Baden, 2012, S. 19; vgl. auch, jedoch mit stärkerem Fokus auf Österreich Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates, Berlin, 1970, S. 30.
89 Zum Entwickeln von Visionen aus Science-Fiction s. Hermann, Von Science-Fiction lernen: Welche Digital- und Datenpolitik wollen wir?, Tagesspiegel Background v. 2.12.22, abrufbar unter: https://background.tagesspiegel.de/digitalisierung/von-science- fiction-lernen-welche-digital-und-datenpolitik-wollen-wir.
90 So beeinflussten die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerten Werte und Konzepte die Verfassungen einer Vielzahl von Demokratien, u.a. erkennbar z. B. auch bei der Verankerung der Unantastbarkeit der Würde des Menschen in die post-franquistische Verfassung Spaniens von 1978, vgl. Oehling de
genpols an Beständigkeit zu den sich ansonsten so schnell verändernden Umständen angesehen werden.
Gewiss bedeutet Kontinuität im Recht auch Verläss- lichkeit, Absicherung und Vorhersehbarkeit; Attribute, die man mit einem funktionierenden Rechtsstaat verbin- den sollte. Nichtsdestotrotz kann die Diskrepanz zwi- schen Recht und Wirklichkeit irgendwann so groß wer- den, dass die beiden Ebenen nur noch losgelöst vonein- ander existieren, das Recht mithin seine Steuerungskraft im Wesentlichen verliert.
In einer solchen Situation helfen auch abstrakte Wer- te oder Ordnungsprinzipien nicht, wenn sie nicht (mehr) mit Vorstellung und Moral der gegenwärtigen Gesell- schaft als Subjekte der Rechtsordnung übereinstimmen. Die Folge einer solchen Abwärtsspirale ist der schlichte Akzeptanzverlust des Rechts und mit ihm die fehlende Möglichkeit, zu wirken.
Dieser Abwärtsspirale entgegenzuwirken wird daher zentrale Aufgabe der kommenden Jahre sein, um auch unter Zeitdruck den verschiedenen Krisen trotzen zu können.
III. Dem Steuerungsverlust des Rechts begegnen
Aus dieser beschriebenen Abwärtsspirale ergibt sich nichts weniger als ein drohender Steuerungsverlust des Rechts, dem es ganzheitlich zu begegnen gilt.
1. Das Ziel: Der Rechtsstaat als Standortfaktor
Ziel der Maßnahmen kann dabei nicht nur sein, die Steuerungskraft in irgendeiner Art zu erhalten, sondern vielmehr einer klaren Vision zu folgen.89 Das deutsche Rechtssystem ist im EU-weiten und internationalen Ver- gleich hoch angesehen, verfügt über viele Stärken und sowohl Rechtsprechung als auch Gesetze gelten als Vor- bilder und Orientierungsmarken für verschiedene Län- der weltweit.90 Ein funktionierender, im Sinne von Kon-
91
los Reyes, El concepto constitucional de dignidad de la persona: Forma de comprensión y modelos predominantes de recepción en la Europa continental, in: Revista Española de Derecho Constitu- cional, 2011, S. 164 ff. Auch im zivil- und strafrechtlichen Bereich konnten zahlreiche deutsche jur. Konzepte und Standards ihren Fingerabdruck in diversen internationalen Rechtsordnungen hinterlassen (v.a. in Estland, Asien und Südamerika), vgl. Kull, Reform of Contract Law in Estonia: Influences of Harmonisation of European Private Law, in: Juridica International, 2008, S. 122 ff.; Zaffaroni/ Croxatto, El pensamiento alemán en el derecho penal argentino, in: Journal of the Max Planck Institute for European Legal History, 2014, S. 192 ff.; Luney Jr., Traditions and foreign influences: Systems of Law in China and Japan, in: Law and Con- temporary Problems, 1989, S. 129 ff.
Vgl. z.B. LL.B Legal Tech (Passau), https://www.uni-passau.de/
tinuität und Zuverlässigkeit getragener, Rechtsstaat stellt hierbei auch einen wichtigen Standortfaktor dar, auf den es sich zu besinnen und diesen es auch künftig zu för- dern gilt. Fraglich ist daher, mit welchen Impulsen es gelingen kann, den Rechtsstaat auch im Jahre 2035 (noch) als wertvollen Standortfaktor zu etablieren bzw. zu fördern. Denn die oben dargestellten negativen Syn- ergien auf Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft könn- ten mit einem starken Rechtsstaat ebenso ins Gegenteil verkehrt werden. Der Rechtsstaat wäre somit Garant für eine Gesellschaft nach unseren freiheitlich demokrati- schen Vorstellungen und Werten – mithin im Sinne aller.
2. Modernisierung der juristischen Ausbildung
Das Recht ist ohne die Menschen nichts. Wie bei ande- ren Transformationsprozessen, hängt dessen Erfolg maßgeblich von den Personen ab, die sie bewirken und die von ihnen betroffen sind. Der effektivste Prozess und die besten Technologien sind wertlos, wenn sie nicht genutzt werden. Aus diesem Grund gilt es, die juristische Ausbildung an die Arbeitswelt und Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft anzupassen. Neben der materiell-rechtlichen Auseinandersetzung mit Digitali- sierungsthemen (wie z.B. durch die Möglichkeit sich bereits während der Ausbildung darauf zu spezialisieren (sog. Schwerpunktbereich oder Berufsfeld) oder im Rahmen spezieller und interdisziplinärer Studiengän- ge91), bedarf es ebenso der Vermittlung der praktischen Fähigkeiten. Jurist*innen arbeiten bereits jetzt zu wesent- lichen Teilen am Computer, nutzen verschiedene Daten- banken und Software zur Erstellung der Schriftsätze oder Berechnung von Ansprüchen. Eine Reform der juristischen Ausbildung hätte nicht nur den Vorteil, dass diese inklusiver und chancengerechter gestaltet wäre und die Absolvent*innen die tatsächlich benötigten Fähigkeiten vermittelt bekämen,92 sondern auch, dass die tendenziell bestehende Hemmung gegenüber Inno- vationen im Rechtsbereich abgebaut werden könnte. Dies ebnet den Weg dafür, das technisch Mögliche gekonnt einzusetzen und so zur dringend benötigten Entlastung des knappen Personals beizutragen. Jurist*innen sind nicht ersetzbar, es gibt jedoch Aspekte der juristischen Arbeit, die sich automatisieren oder zumindest vereinfachen ließen, wenn man es denn zulie- ße.
legaltech, sowie LL.M. Legal Tech (Regensburg), https://www. legaltech-ur.de/.
92 Vgl. Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprü-
Initiativen wie iur.reform93 setzen sich bereits jetzt für eine Modernisierung der juristischen Ausbildung ein. Dazu wurde die seit über 20 Jahren bestehende Re- formdiskussion ausgewertet und in 44 zentrale Thesen gefasst, welche schließlich in die bundesweit größte Um- frage unter Jurist*innen geflossen sind. Solche Bestre- bungen gilt es zu fördern und deren Ergebnisse als ersten Impuls zu nutzen.
3. Netzwerke schaffen und fördern
Netzwerke sind auch für Jurist*innen wichtig. Sie sollten weniger mit drohenden Befangenheitsanträgen assozi- iert und stattdessen bewusst geschaffen und genutzt wer- den. Solche Netzwerke entstehen aktuell vor allem auf natürliche Weise in den verschiedenen Institutionen und über die üblichen beruflichen Kontakte. In einigen Bereichen finden sich auf Initiative Einzelner bereits orts- bzw. institutionsübergreifend Menschen zum Aus- tausch zusammen. Foren wie die digitale Richterschaft oder Vereine wie der Next e.V. ermöglichen es Interes- sierten einerseits, sich mit ihren Erfahrungen und Fra- gen an ein größeres Publikum zu wenden und persönli- che Kontakte zu knüpfen. Dies schafft Vertrauen unterei- nander und fördert einen ehrlichen Umgang mit Problemen und Herausforderungen. Andererseits infor- mieren solche Initiativen und lenken Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen, sorgen somit für eine gewisse Sichtbarkeit und motivieren möglicherweise zum eige- nen Engagement. Dadurch wiederum können vermeint- liche Einzelkämpfer*innen ermutigt und zusammenge- bracht werden. Diese Netzwerke sind zudem notwendig, um der steigenden Komplexität auf technischer und rechtlicher Ebene zu begegnen. Es gilt daher, sie aktiv einzurichten und zu fördern.
4. Durchlässigkeit und Interdisziplinarität stärken
Die Vielseitigkeit der juristischen Berufe und die unter- schiedlichen Erfahrungen, die dadurch gesammelt wer- den können, bieten eine weitere große Chance vonein- ander zu lernen. Dennoch sind Perspektivwechsel eher eineSeltenheit.NurwenigeJurist*innenwechselnaus der Anwaltschaft ins Richteramt und umgekehrt, oft- mals wird der nach dem Examen eingeschlagene Karrie- reweg über viele Jahre weiterverfolgt. Gerade das Dienst- und Beamtenrecht bietet hier nur wenig Durchlässigkeit
fung, Berlin, 2023, S. 22. 93 Vgl. https://iurreform.de/.
94 Zum bisherigen Stand und Verständnis s. Wrase/Scheiwe, Rechts-
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und Anreize, die in anderen Bereichen erworbenen Fähigkeiten (zeitweise) in den Dienst des Staates zu stel- len.
Anpassungen in diesem Bereich müssen zudem nicht auf Jurist*innen beschränkt sein. Bereits jetzt stellt diese Berufsgruppe z.B. einen großen Teil der ministeriellen Beamt*innen und schließt dadurch wertvolle Perspekti- ven und Methoden anderer Fachrichtungen aus. Fellow- ship-Programme wie Work4Germany haben den Mehr- wert dieses Ansatzes bereits unter Beweis gestellt und ge- zeigt, dass interdisziplinäres Arbeiten auch im öffentli- chen Sektor gelingen kann.
Neben der Durchlässigkeit zwischen den verschiede- nen Berufen, gilt es daher, die Rechtswissenschaft mit weiteren Disziplinen zu verknüpfen. Recht und Rechts- staat sind jetzt auf die Erkenntnisse anderer Wissen- schaften und Disziplinen angewiesen. So wird es auf- grund der digitalen Transformation immer wichtiger, neben der technischen Funktionsweise auch die Auswir- kungen auf Gesellschaft oder Wirtschaft zu begreifen.
Damit dies gelingt, mithin eine „gute“ Rechtsetzung ermöglicht wird, die den Regelungsbedarf erkennt und im Rahmen der (verfassungs-)rechtlichen Vorgaben und anhand des politischen Willens umsetzt, bedarf es mehr als die aktuell im Gesetzgebungsprozess etablierten An- hörungen. Es ist vielmehr ein frühzeitiger und echter in- terdisziplinärer Austausch notwendig. Dies umfasst ins- besondere eine Kommunikation auf Augenhöhe, die Fä- higkeit, sich in andere Positionen hineinzuversetzen und das Hinterfragen der eigenen Annahmen. Interdiszipli- näres Arbeiten ist mehr als das Beteiligen verschiedener Disziplinen. Es erfordert weniger die höchsten Fertigkei- ten im eigenen Fachbereich, sondern vielmehr bestimm- te, oft unter der Kategorie soft skills zusammengefasste Fähigkeiten, die somit als „Zukunftsskills“ in den Mittel- punkt rücken.
5. Fehler- und Lernkultur etablieren
Auch wenn ein Rechtsstaat danach strebt, Fehler zu ver- meiden, so kommen sie zwangsläufig vor und werden sich möglicherweise häufen, wenn man innovative Ansätze verfolgt. Eine Kultur, in der Fehler unweigerlich negative Konsequenzen für den Einzelnen haben, regt dazu an, diese zu verschweigen. Dass Fehler nicht ver- schwiegen, sondern offen behandelt werden sollten, ist per se nicht Neues. Wichtig ist jedoch sich bewusst zu machen, dass der transparente Umgang mit Fehlern nicht nur aus Sicht des Einzelnen wünschenswert ist,
wirkungsforschung revisited, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie,
2018, S. 5 ff.
95 S. Lessig, Code: And Other Laws Of Cyberspace, New York, 1999,
sondern vor allem die Möglichkeit bietet, durch Aufklä- rung und Adaption des Systems weitere Fehler zu ver- meiden. Daher müssen solche Strukturen geschaffen werden, die sicherstellen, dass etwaige Fehler nicht nur kommuniziert, sondern aus ihnen auch die notwendigen Schlüsse gezogen werden, somit neben einer Fehler- auch eine Lernkultur sicherstellen.
6. Digitalisierung des Rechts
Entscheidend wird zudem sein, ob es gelingt, die Poten- tiale der Digitalisierung auch im und für das Recht zu nutzen. Eine flächendeckende elektronische Aktenfüh- rung kann hierbei nur ein erster Schritt sein, um eine umfassende elektronische Grundlage für die weitere Arbeit zu schaffen. Es bedarf darüber hinaus einer umfassenden Datengrundlage und der qualitativen Auf- bereitung dieser, um den künftigen Herausforderungen zu begegnen. Nicht nur würde z.B. eine Veröffentlichung und Aufbereitung sämtlicher Gerichtsentscheidungen in anonymisierter Form dazu beitragen, dass Richter*innen bei ihren Entscheidungen im gesamten Bundesgebiet auf umfassende Materialien zur Bewertung und Einschät- zung zurückgreifen könnten, sondern ebnete dies auch den Weg zu einer umfassenden Rechtswirkungsfor- schung. Auf der einen Seite würden dadurch die Entscheidungsträger*innen in Exekutive, Legislative und Judikative entlastet, da sie ihre wertvollen Kapazitä- ten nicht mehr zur mühsamen Erfassung und Aufberei- tung des Sachverhalts, der Beauftragung von weiteren Gutachten oder Studien sowie der Tatsache, dass bestimmte Informationen schlicht nicht eingeholt wer- den können, verwenden müssten. Zudem schafft ein solch datenbasiertes Recht Transparenz und dadurch nicht nur Vertrauen in den Rechtsstaat, sondern ermög- licht es ebenso, dass das Recht gerechter wird. Verhält- nismäßig leicht könnten z.B. regionale Unterschiede in der rechtlichen Bewertung dargestellt und hinterfragt werden. Zudem könnte dadurch überprüft werden, ob die Regelungsintention des Gesetzgebers mit einer kon- kreten Norm tatsächlich erreicht wird sowie, ob und wo sich Probleme in der Rechtsanwendung stellen, um ent- sprechend schnell darauf reagieren zu können (Rechts- wirkungsforschung94). Weiter könnten Regulierungs- wirkungen von Umständen oder Dritten aufgedeckt werden, die bei der bisherigen Fokussierung auf formel- les und materielles Recht unberücksichtigt bleiben. Neben der normativen Kraft des Faktischen gilt es eben- so, die normativen Wirkungen von Code95, (Industrie-)
S. 3 ff.
96 Insbes. auch nicht gesetzlich normierte Regularien, sog. (Indust-
Standards96 oder die Macht nichtstaatlicher und/oder globaler Akteure zu untersuchen.97
In diesem Zusammenhang ist zudem zu hinterfra- gen, inwieweit durch technische oder systemimmanente Vorgaben Rechtsbrüche bereits vermieden werden kön- nen. So mag es auf der einen Seite vorteilhaft erscheinen, dass bestimmte rechtswidrige Handlungen schlicht un- möglich gemacht würden, auf der anderen Seite darf nicht vergessen werden, dass Gegenstand einer solchen Regulierung durch Technik der Mensch ist, dessen indi- viduelle (Entscheidungs-)Freiheit es durch das Recht zu schützen gilt. Eine solche Lösung löst daher nur das oberflächliche Problem der Überlastung, schützt in Wahrheit aber nicht die individuelle Freiheit und ist da- her im Ergebnis abzulehnen. So mag es vielleicht kein „Recht auf Rechtsbruch“ geben, jedoch schützen grund- rechtliche Freiheiten vor einer vollständigen Determi- nierung menschlicher Entscheidungen und Handlungs- weisen durch umfassende technologisch ermöglichte Automatisierung des Normvollzugs98.
Mehr Daten führten darüber hinaus keinesfalls dazu, dass Jurist*innen obsolet würden. Die komplexen Ein- schätzungsspielräume und Abwägungen erfordern gera- de eine menschliche Entscheidung, die nicht automati- siert werden kann. Daten und der Einsatz entsprechen- der datenbasierter Technologien (z.B. durch Legal Tech) können jedoch die notwendige Entlastung im Bereich des Rechts schaffen. Dies kann indes nur gelingen, wenn neben der technischen Infrastruktur, dem Aufbau der Daten und der Kompetenzvermittlung auch ein allge- meines Bekenntnis zur Datennutzung erfolgt. Dies be- deutet, dass eine etwaige bestehende einseitige Fokussie- rung auf Datenschutz in einen verhältnismäßigen Aus- gleich mit den Interessen an der Datennutzung gebracht werden muss.
Darüber hinaus müssen die Fragen der praktischen Umsetzung, u.a. das Aufbringen der notwendigen finan- ziellen Mittel, diskutiert werden. Im Bundesrat wurde hierzu beispielsweise schon ein Vorschlag für eine dies- bezügliche Grundgesetzänderung eingebracht.99
rie-)Standards (z. B. DIN-Normen), nehmen mittlerweile einen hohen Stellenwert im internationalen Handel ein, vgl. Sandl, Technische Normen und Standards – unterschätzte Größen im geopolitischen Machtwettbewerb, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 2021, S. 265 ff.
97 Bspw. Gewerkschaften als konstruktive Vetospieler, vgl. Urban, Gewerkschaften als konstruktive Vetospieler. Kontexte und Prob- leme gewerkschaftlicher Strategiebildung, in: Forschungsjournal NSB, 2005, S. 44 ff.
7. Wandel der Rechtskultur
Kein Zweifel: Wir werden innerhalb der nächsten 12 Jah- re einen Wandel des Rechts – von der Art, wie es ent- steht, über die Mechanismen seiner Verwirklichung bis zu der Rolle der (menschlichen) Akteure in der Rechts- ordnung – erleben, wie es dies über all die Jahre, Jahr- zehnte, Jahrhunderte nicht gab, in denen Rechtsstaat- lichkeit zum prägenden Element moderner Gesellschaf- ten avancierte. Die rasante technologische Entwicklung schafft neue Zugänge zum Recht durch Digitalisierung, Konfliktvermeidung durch Automatisierung, produktive Mensch-Maschine-Interaktionen und Verfahrenseffizi- enz durch smarte Prozesse auf besserer Datenbasis. So forscht man bereits an algorithmenbasierter Gesetzge- bung, die künftig Grundlage des automatisierten Geset- zesvollzugs, aber auch der digitalen Vermittlung von Norminhalten an die (rechtsunkundigen) Normadressa- ten sein wird.
Es leuchtet ein, dass dies alles schon aufgrund seiner Komplexität und Dynamik nicht in die Denkweise über- kommener Rechtspraxis und Juristenausbildung passt. Um so mehr (und schneller) muss man umdenken und die Rechtsordnung – behutsam anpassend – umgestal- ten, solange dies noch in beherrschbaren Schritten erfol- gen kann. Das alles gelingt unterdessen nur, wenn man das überkommene Recht nicht gegen innovative Rechts- ideen ausspielt, ganz nach dem Motto: Die hier darge- stellten juristischen Innovationen seien letztlich rechts- widrig und schon deshalb zu unterbinden. Um genau dies zu verhindern, fordert Dirk Heckmann einen Rechts- kulturwandel100 hin zu einer konstruktiv-abwägenden Haltung gegenüber dem Neuen, dem Unbekannten: „Konstruktiv in dem Sinne, dass man auch als Jurist nicht einfach Bedenken in den Raum stellt, sondern so- fort Lösungen anbietet oder zumindest anstrebt – und dabei zugleich den Wert der digitalen Innovation aner- kennt. Sowie abwägend in dem Sinne, dass man bei dem (im Übrigen notwendigen) Rechtsgüterschutz nicht nur das eine Rechtsgut benennt und verteidigt, um das man
98 So zutreffend in Anlehnung an das Böckenförde-Diktum Paschke, Digitale Gerichtsöffentlichkeit und Determinierungsgesamtrech- nung, in: MMR 2019, 563: „Nur ein totalitärer Staat verhindert flächendeckend den Rechtsbruch, erzwingt die Einhaltung dessen, was er als Recht setzt, durch Totalüberwachung oder allgegenwär- tigen technischen Zwang.“
99 BR-Drs. 165/1/18, S. 10 f.
100 Siehe den IFO-Schnelldienst 08/2023 vom 16. August 2023, S. 22 ff. 101 Hierzu der Werkstattbericht von Rachut, ODW 2023, 89 ff.
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sich sorgt, sondern zugleich kollidierende Rechtsgüter in den Blick nimmt, deren Wert und Wichtigkeit ebenso auf die Waagschale gehören.“
Das alles lässt sich aber nur bewältigen, wenn man stärker als je zuvor wissenschaftliche Expertise in all die- se Prozesse einbezieht, und zwar von der Konzeptions- phase über Sachverständigengutachten in der Projekt- entwicklung bis zur fachlichen Unterstützung vor, wäh- rend und nach einer Evaluation. Eine solche Rolle nimmt etwa das TUM Center for Digital Public Services (www. tum-cdps.de) seit seiner Entstehung im Juni 2020 mit Erfolg ein.101
Die Neugestaltung einer (digitalisierten) Rechtsord- nung kann nicht „von innen heraus“ gelingen – vielmehr sollte hier die (Rechts-)Wissenschaft solche Transforma- tionsprozesse begleiten: sie hat die notwendige Experti- se, Glaubhaftigkeit und Gestaltungskraft. Rechtswissen- schaft, zumal in ihrer interdisziplinären Verflechtung, kann mehr als nur das Recht erklären und Debatten lei- ten. Sie kann und sollte auch Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung darin unterstützen, sich unter den Bedingungen fortwährender Digitalisierung, Automati- sierung und Vernetzung zu erneuern.
IV. Fazit: Das Recht zwischen Kontinuität und Adap- tion
Die vorstehenden Maßnahmen zeigen erste Ansatz- punkte auf, um den Rechtsstaat zukunftsfähig zu machen. Unbenommen wird das Recht stets auf Verän- derungen reagieren müssen. Denn Aufgabe des Rechts ist es nicht, zu regulieren, was in ferner Zukunft sein könnte, sondern allgemein gültige abstrakt-generelle Regelungen für das Heute aufzustellen und über deren Anwendung zu wachen. Diese Normen anzupassen kann aus verschiedenen Gründen notwendig sein. Inno- vationen können ein Treiber dieser Entwicklung sein, nicht jeder Fortschritt erfordert jedoch eine Anpassung des Rechts. Die bekannten Herausforderungen in die-
sem Anpassungsprozess erhalten durch die aktuell beste- henden, zu erwartenden und noch nicht absehbaren Entwicklungen eine neue Dimension. Die digitale Trans- formation und der stetige technologische Fortschritt sind nur ein Beispiel für Herausforderungen in einer Größe, dass, sollten sie ignoriert werden, sie zu einem Steuerungsverlust des Rechts führen könnten.
Die Fragen, mit denen sich der Rechtsstaat konfron- tiert sieht, haben sich durch das Digitale bereits verviel- facht und werden dies künftig in immer schnellerer Ab- folge tun. Damit der Rechtsstaat weiterhin handlungsfä- hig bleiben kann und nicht externen Zwängen unter- worfen wird, sind bereits heute weitsichtige Anpassungen erforderlich. Bei dem Ruf nach Adaption und Innovati- on, darf gleichzeitig nicht vergessen werden, dass die Kontinuität des Rechts ein zentraler Erfolgsfaktor unse- res Rechtsstaats ist. Eine gewisse Zerrissenheit des Rechts zwischen Kontinuität und Adaption ist daher un- ausweichlich. Statt zu versuchen diesen Konflikt aufzu- lösen oder zu umgehen, kann er stattdessen genutzt wer- den, um das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Po- len herzustellen und zu bewahren. Dies mag sich als be- sonders herausfordernd und in der Praxis durchaus aufreibend gestalten, kann letztlich jedoch die Zukunfts- fähigkeit des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates gewährleisten. Allemal lohnt es sich, über die Rolle des Rechts in der digitalen Transformation innovativ, kreativ und auch disruptiv nachzudenken – und dies jetzt, nicht erst in 12 Jahren.
Sarah Rachut ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Recht und Sicherheit der Digitalisierung (Prof. Dr. Dirk Heckmann) an der Technischen Universi- tät München und Geschäftsführerin der Forschungs- stelle TUM Center for Digital Public Services. Sie forscht und lehrt zu verfassungsrechtlichen Fragen der Digitalisierung, schwerpunktmäßig in den Bereichen E‑Government, E‑Health und E‑Education.
Übersicht*
I. Einleitung
II. Grundrechtliche Einordnung
III. Überblick über die geltenden Rechtsgrundlagen 1. Hochschulgesetze der Länder
2. Promotionsordnungen
3. Zwischenbetrachtung
IV. Neuere Entwicklungen in der Rechtsprechung
1. Täuschung und „geltungserhaltende Reduktion“
2. Sanktionierung und Grenzen der Satzungsautonomie
V. Fazit und rechtspolitischer Ausblick
I. Einleitung
Seit im Februar 2011 erste Meldungen über Unregelmä- ßigkeiten in der Doktorarbeit des damaligen Verteidi- gungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg die Runde
* Der Beitrag ist in Dankbarkeit und Verehrung meinem akade- mischen Lehrer Thomas Würtenberger zu seinem 80. Geburtstag gewidmet. Dem gesamten Team des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Dt., Europ. und Intern. Steuerrecht, Universität Würzburg danke ich ganz herzlich für die wertvolle Unterstützung bei der Abfassung des Beitrags, insbesondere bei der umfangreichen Sichtung der Rechtsquellen.
- 1 Angestoßen worden ist die Affäre bekanntlich durch Fischer- Lescano, Rezension zu Guttenberg, Verfassung und Verfassungs- vertrag, KJ 2011, 112, aufgegriffen in der SZ vom 16.02.2011 Preuß/ Schultz, Guttenberg soll bei Doktorarbeit abgeschrieben haben, Süddeutsche Zeitung 16.2.2011 (https://www.sueddeutsche.de/ politik/plagiatsvorwurf-gegen-verteidigungsminister-guttenberg- soll-bei-doktorarbeit-abgeschrieben-haben‑1.1060774–0#seite‑2, zuletzt abgerufen am 17.07.2023).
- 2 Tagesschau Meldung v. 23.02.2011 (Uni Bayreuth entzieht Gutten- berg den Doktor www.tagesschau.de/inland/guttenberg-ts-198. html, zuletzt abgerufen am 17.07.2023); Wikipedia-Eintrag zur Plagiatsaffäre Guttenberg (wikipedia.org, zuletzt abgerufen am 17.07.2023); maßgeblichen Anteil hatte GuttenPlag Wiki, ein offenes Wiki, dessen Mitarbeiter plagiierte Stellen der Dissertation dokumentierten (https://guttenplag.fandom.com/de/wiki/Gutten Plag_Wiki, zuletzt abgerufen am 17.07.2023).
- 3 Schavan verliert Doktortitel — und kündigt Klage an, Süddeutsche Zeitung 5.2.2013; Annette Schavan bei
Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Annette_ Schavan#Plagiatsvorw%C3%BCrfe,_Aberkennung_des_Doktor grads_und_R%C3%BCcktritt, zuletzt abgerufen am17.07.2023); Entzug gerichtlich bestätigt durch VG Düsseldorf,
Urt. v .20.03.2014, 15 K 2271/13, ZUM 2014, 602; siehe auch https://
machten,1 vergeht praktisch kein Monat, in dem das Thema Wissenschaftsplagiate nicht die Öffentlichkeit bewegt. Die Liste derjenigen, die sich gegen Plagiatsvor- würfe verteidigen mussten, ist lang und prominent. Auf Ebene der Bundesminister hat dies nicht nur bei Karl- Theodor zu Guttenberg,2 sondern auch bei Annette Schavan3 sowie Franziska Giffey4 zum Titelentzug geführt. Nicht bestätigt haben sich oder jedenfalls fol- genlos geblieben sind hingegen die Vorwürfe, die gegen die frühere Verteidigungsministerin und heutige Präsi- dentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen5 sowie den früheren Außenminister und heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier6 erhoben worden sind.
Die Gründe, warum das Thema Wissenschaftsplagia- te an Relevanz gewonnen hat, sind vielfältig. Gelegenheit macht bekanntlich Diebe. Mit dem Internet ist eine na- hezu unbegrenzte Wissensressource nur einen Maus- klick entfernt.7 Auch Bücher und Zeitschriftenartikel,
schavanplag.wordpress.com, zuletzt abgerufen am 31.08.2023.
4 Meldung der FU Berlin vom 10.06.2021 (Freie Universität Berlin entzieht Franziska Giffey den Doktorgrad – https://www.fu-
berlin.de/presse/informationen/fup/2021/fup_21_109-ergebnis- pruefverfahren-franzsiska-giffey/index.html, zuletzt abgerufen am 17.07.2023); Wikipedia Eintrag zu Franziska Giffey u.a. zur Plagiatsaffäre (wikipedia.org, zuletzt abgerufen am 17.07.2023); die Dissertation wurde von VroniPlag Wiki überprüft, siehe dazu https://vroniplag.fandom.com/de/wiki/Dcl, zuletzt abgerufen am 31.08.2023.
5 Greiner/Gebauer/Töpper, Darum darf von der Leyen ihren Doktor behalten, Spiegel 9.3.2016; Ursula von der Leyen bei Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Ursula_von_der_Leyen#Plagiate_ in_der_Dissertation, zuletzt abgerufen am 17.07.2023); siehe auch Ursula von der Leyen bei VroniPlag Wiki (https://vroniplag. fandom.com/de/wiki/Ugv, zuletzt abgerufen am 17.07.2023).
6 Plagiatsverdacht gegen SPD-Politiker Steinmeier – Vorwürfe aus umstrittener Quelle, Süddeutsche Zeitung vom. 29.9.2013 (https:// www.sueddeutsche.de/bildung/plagiatsverdacht-gegen-spd- politiker-steinmeier-vorwuerfe-aus-umstrittener-quelle‑1.1783302, zuletzt abgerufen am 17.07.2023); auch thematisiert im Wikipedia- Eintrag zu Frank-Walter Steinmeier (https://de.wikipedia.org/ wiki/Frank-Walter_Steinmeier, zuletzt abgerufen am 17.07.2023); Überprüfung der Dissertation auf VroniPlag Wiki, siehe dazu https://vroniplag.fandom.com/de/wiki/Fws, zuletzt abgerufen am 31.08.2023.
7 Trotz Plagiatsvorwürfen lesenswert zu den Möglichkeiten der juristischen Recherche im Internet (Holznagel/Schumacher/Ricke, Juristische Arbeitstechniken und Methoden, 1. Aufl. 2012, S. 35 ff.).
Ralf P. Schenke*
Promotion und Wissenschaftsplagiate: Eine Be- standsaufnahme im Regelungsverbund zwischen Landesgesetzgebung, Hochschulen und Richterrecht
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
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die nicht originär digital angeboten werden, können ein- gescannt, sprachlich verschleiert und dann als eigener Text ausgegeben werden. Wichtiger als die Mühelosig- keit des Plagiierens durch „Copy and Paste“ ist aber ein anderes Moment. Der digitale Fortschritt hat gegenläufig auch verbesserte Möglichkeiten geschaffen, Plagiatoren auf die Schliche zu kommen. Um einen ersten Plagiats- verdacht zu begründen, muss kein großer technischer Aufwand betrieben werden. Sofern aus frei zugänglichen Internetquellen plagiiert wurde, kann sich bereits die schlichte Eingabe einzelner Passagen der Arbeit in eine Suchmaschine als zielführend erweisen. Aufwendiger ist eine systematische Plagiatssuche, wenn die Referenztex- te hinter Bezahlschranken verborgen oder zunächst nicht digital verfügbar sind. Hier führt kein Weg daran vorbei, die Vergleichstexte zunächst in digitaler Form zu erfassen. Schon wer über begrenzte Programmierkennt- nisse verfügt, kann sich dann aber einen Plagiatsdetektor auf einem Standardrechner installieren, der die Einspei- sung zuvor eingescannter Referenztexte ermöglicht.8 Die noch bessere Alternative sind professionelle Programme zur Plagiatssuche, wie beispielswiese Ithenicate.9
Zusätzlich befeuert worden ist die Aufdeckung von Plagiaten durch die kollaborative Plagiatssuche. Gold- standard der kollaborativen Plagiatssuche ist die Inter- netplattform vroniplag-wiki.10 Die Seite ging Ende März 2011 online. Namensgeberin war Veronica Saß, die Toch- ter des früheren bayerischen Ministerpräsidenten Ed- mund Stoiber, deren Doktorarbeit zunächst im Rahmen des Wiki Guttenplag diskutiert wurde. Auf vroniplag-wi- ki sind Stand Juli 2023 217 Dissertationen gelistet, die sich einer kollaborativen Plagiatssuche unterziehen mussten. Nach eigenen Angaben sind die Mitwirkenden rein ehrenamtlich tätig. Nach den Regeln der Communi- ty setzt eine Aufnahme in die öffentliche Liste plagiats- verdächtiger Arbeiten einen Anfangsverdacht voraus, der eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschritten haben muss.11 Die Qualität der dort geleisteten Arbeit darf bei aller Kritik, die an der Einrichtung geübt wird,
8 https://github.com/topics/plagiarism-checker?l=python (zuletzt abgerufen am 11.09.2023).
9 https://www.ithenticate.com/ (zuletzt abgerufen am 11.09.2023).
- 10 Abrufbar unter https://vroniplag.fandom.com/de/wiki/Home.Nicht verwechselt werden darf vroniplag-wiki mit vroniplag.de. Hierbei handelt es sich um ein kommerzielles Angebot zur Plagi- atssuche, das seinen Auftraggebern strikte Anonymität zusichert und für den „Einstieg in die Plagiatssuche” offensichtlich noch nicht einmal einen Anfangsverdacht voraussetzt (https://www.vroniplag.de/plagiatssuche/articles/plagiatsuche-der- einstieg.html, zuletzt abgerufen am 31.08.2023).
- 11 https://vroniplag.fandom.com/de/wiki/VroniPlag_Wiki:FAQ — Wie wird die Plagiatsdokumentation finanziert? (zuletzt abgerufen am 19.7.2023).
keinesfalls unterschätzt werden. Dies unterstreicht schon die Anzahl der Entziehungen, die auf der Seite von vro- niplag-wiki dokumentiert und in den allermeisten Fäl- len wohl entscheidend durch den auf der Seite geäußer- ten Plagiatsverdacht angestoßen worden sind.
Wenn Titel entzogen wurden, hatte dies in nicht we- nigen Fällen ein juristisches Nachspiel. Die Versuche, sich dagegen verwaltungsgerichtlich zur Wehr zu setzen, sind zahlreich. Insgesamt waren sie aber nur von sehr bescheidenem Erfolg gekrönt.12 Bei den Verwaltungsge- richten können Plagiatoren offensichtlich auf wenig Sympathie hoffen. Soweit ersichtlich, sind bislang nahe- zu sämtliche Klagen erfolglos abgewiesen worden.13 Dies gründet in wesentlichen Teilen darauf, dass der Standardeinwand, die Arbeit weise trotz der Plagiate noch hinreichend viel Substanz auf, regelmäßig zurück- gewiesen wurde.14
Die relative Geräuschlosigkeit der administrativen und juristischen Verarbeitung des Phänomens erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, die rechtswissen- schaftlichen Fragen der Entziehung des Doktorgrades seien abschließend und zufriedenstellend beantwortet. Anlass, diesen Befund in Zweifel zu ziehen, bieten aber sowohl jüngere Entwicklungen im Landeshochschul- recht, den Promotionsordnungen der Fakultäten, aber auch in der Rechtsprechung, die im Folgenden nachge- zeichnet werden sollen.
Um die Analyse vorzubereiten, soll die Thematik in einem ersten Schritt zunächst grundrechtlich eingeord- net werden (dazu II.). Dies ist notwendig, weil die grund- rechtliche Dimension nicht nur im Rahmen von Ermes- sensentscheidungen über die Aberkennung mitgedacht werden muss, sondern bereits die Anforderungen an die Rechtsgrundlagen für den Titelentzug bestimmt. Im An- schluss ist ein Überblick über die geltenden Regelungen in den Landeshochschulgesetzen und den Promotions- ordnungen zu geben (dazu III.). Mit Recht viel Beach- tung haben eine bereits 2017 ergangene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zum Täuschungstatbe-
12 Esposito, Anna/Schäfer, Ansgar, Überblick über die Rechtsprechung zu Plagiaten in Hochschule und Wissenschaft, 07.02.2017 (aus- gewertet wurde eine Auswahl von rund 80 besonders relevanten einschlägigen Gerichtsentscheidungen in Deutschland).
13 Gärditz, Der Entzug von Doktorgrad oder Habilitation wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens, WissR 2021, 150 (167) unter Verweis auf VG Köln, Urt. v. 12.01.2017, 6 K 7332/15 und einen wei- teren Fall, in dem verwaltungsgerichtliche Entscheidungen nicht veröffentlicht wurden. In beiden Fällen gründete der Erfolg der Anfechtungsklagen auf formellen Mängeln, weil die entscheiden- den Hochschulgremien falsch besetzt waren.
14 VGH BW, Urt. v. 18.11.1980, IX 1302/78, ESVGH 31, 54 (57); VGH BW, Urt. v. 19.4.2000, 9 S 2435/99, juris Rn. 25; VG Düsseldorf, Urt. v. 20.03.2014, 15 K 2271/13, ZUM 2014, 602, juris Rn. 149.
stand15 sowie ein 2020 ergangener Nichtannahmebe- schluss des Bundesverfassungsgerichts zum Regelungs- verbund zwischen Landesgesetzgebung und Satzungsau- tonomie der Hochschulen16 erfahren. Nach der Analyse der Entscheidungsgründe und den sich aus ihnen erge- benden Folgerungen (dazu IV.) schließt die Untersu- chung mit einem rechtspolitischen Ausblick (dazu VI.).
II. Grundrechtliche Einordnung
Aus grundrechtlicher Perspektive bewegt sich der Ent- zug eines Doktorgrades in einem komplexen Span- nungsfeld.17 Vorsätzliches ebenso wie grob fahrlässiges wissenschaftliches Fehlverhalten steht außerhalb des Schutzbereichs der Wissenschaftsfreiheit.18 Solange ein entsprechender Nachweis nicht erbracht ist, müssen sich aber die von einem Plagiatsverdacht Betroffenen zunächst auf die Wissenschaftsfreiheit berufen kön- nen.19 Unabhängig vom Ausgang des Verfahrens ist zugunsten der Betroffenen die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) zu berücksichtigen. Da im Fall der Aberkennung regelmäßig mit Nachteilen im beruflichen Werdegang zu rechnen ist, wird dies zumindest ein Ein- griff in die Freiheit der Berufsausübung sein (Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG).20 Sofern die Promotion, wie insbesondere im Bereich der Hochschullehre, Voraussetzung für die Aus- übung eines Berufs ist, berührt ein Entzug darüber hin- aus sogar die Freiheit der Berufswahl (Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG).21 Vor dem mit der Aberkennung verbundenen sozialen und gesellschaftlichen Ansehens- verlust schützt das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG).
Gegenläufiger grundrechtlich geschützter Belang ist die den Hochschulen und ihren Fakultäten anvertraute Pflege der Wissenschaft (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG).22 Dass ein systematisches Plagiieren der Wissenschaft schweren Schaden zufügt, versteht sich von selbst. Plagiatoren bauen wissenschaftliche Reputation auf Kosten Dritter auf, enthalten den wahren Autoren die verdiente wissen- schaftliche Anerkennung vor und untergraben so die In- tegrität und das Vertrauen in die Wissenschaft insge-
15 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerwGE 159, 148.
16 BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 25.05.2020, 1 BvR 2103/17,
WissR 2020, 385.
17 Vgl. etwa Zenthöfer, Plagiate in der Wissenschaft, 2022, S. 108 ff. 18 Vgl. Fehling, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 5 Abs. 3 (Wissen-
schaftsfreiheit) Rn. 167.
19 Schulze-Fielitz, Reaktionsmöglichkeiten des Rechts auf wissen-
schaftliches Fehlverhalten, WissR 2012, 1 (51); Gärditz (Fußn. 13)
(154).
20 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerwGE 159, 148 Rn. 16.
samt. Zu Recht geht das Bundesverwaltungsgericht des- halb davon aus, dass die Universitäten nicht nur berech- tigt, sondern sogar verpflichtet sind, wissenschaftliches Fehlverhalten zu sanktionieren.23
Auch im Hochschulbereich wirkt sich die Grund- rechtsrelevanz einer Maßnahme auf das “Ob” und das “Wie” einer gegebenenfalls notwendigen Ermächti- gungsgrundlage aus. Allerdings muss die tradierte We- sentlichkeitslehre, die den Vorbehalt des Gesetzes kon- kretisiert, hier modifiziert werden. Üblicherweise stei- gen die Anforderungen an die Regelungsdichte, je inten- siver staatliches Handeln Grundrechte berührt.24 Angesichts der oben skizzierten Grundrechtsbezüge würde dies auf den ersten Blick für eine hohe Regelungs- dichte mittels parlamentsgesetzlicher Ermächtigungs- grundlage sprechen. Ein derartiger Schluss ist aber zu- mindest voreilig und verkennt die institutionelle Bedeutung der Wissenschaftsfreiheit und die Rolle der Hochschulen. Diese verfügen als Selbstverwaltungskör- perschaften über Satzungsautonomie.25 Durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG ist ihnen das Recht verliehen, ihren Wissenschaftsbetrieb, d. h. Angelegenheiten von For- schung und Lehre, eigenverantwortlich zu regeln. Die- sem geschützten Bereich ist nach einhellig vertretener Auffassung auch das Promotionswesen zuzuordnen, das innerhalb der Hochschule den Fakultäten anvertraut ist.
Was dies speziell für den Regelungsverbund von Lan- desgesetzgebung und Promotionsordnungen im Fall der Aberkennung akademischer Grade bedeutet, war Ge- genstand jüngerer Entscheidungen sowohl des Bundes- verwaltungsgerichts als auch des Bundesverfassungsge- richts. Hierauf wird noch im Einzelnen im Teil IV 2 nä- her einzugehen sein.
III. Überblick über die geltenden Rechtsgrundlagen
Die Rechtsgrundlagen für den Entzug eines Doktorgra- des finden sich im Hochschulrecht der Länder sowie in den Promotionsordnungen der Fakultäten. Die folgende Analyse muss sich auf anfängliche Mängel beschränken.
Schenke · Promotion und Wissenschaftsplagiate 2 1 1
21 22 23
24 25
BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerwGE 159, 148 Rn. 16. BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerwGE 159, 148 Rn. 23. BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerwGE 159, 148 Rn. 40;
s. auch Hebeler, Entziehung des Doktorgrades wegen Plagiats, JA 2018, 399 (400).
Zur Wesentlichkeitslehre nur Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 33. Aufl. 2018, § 12 Rn. 43 ff.
Allgemein zu den Grenzen der Satzungsautonomie Zippelius/Wür- tenberger (Fußn. 24), § 45 Rn. 135 ff.
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1. Hochschulgesetze der Länder
Auf einfachgesetzlicher Ebene war die Materie lange Zeit bundeseinheitlich durch § 4 Abs. 1 Buchst. a GFaG (Gesetz über die Führung akademischer Grade)26 gere- gelt, auf den auch vielfach in früheren Promotionsord- nungen verwiesen wurde. Nach dieser vorkonstitutio- nellen Norm konnte der von einer deutschen staatlichen Hochschule verliehene akademische Grad wieder entzo- gen werden, „wenn sich nachträglich herausstellt, dass er durch Täuschung erworben worden ist, oder wenn wesentliche Voraussetzung für die Verleihung irriger- weise als gegeben angenommen worden sind.“ Weitere Entziehungstatbestände waren die „Unwürdigkeit“ ent- weder bereits bei Verleihung des akademischen Grades (§ 4 Abs. 1 Buchst. b GFaG) oder durch späteres Verhal- ten nach der Verleihung (§ 4 Abs. 1 Buchst. c GFaG). Das GFaG ist über Art. 123 Abs. 1 GG in die bundesdeutsche Rechtsordnung überführt worden. Da sein Regelungsge- genstand zum maßgeblichen Zeitpunkt des Inkrafttre- tens des Grundgesetzes kompetenzrechtlich der Gesetz- gebungshoheit der Länder zuzuordnen war, galt das GFaG als Landesrecht fort.27 Einzige Ausnahme war die auf Ebene des Bundesrechts einzuordnende Strafrechts- norm des § 5 GFaG, die erst 2010 aufgehoben worden ist. Hinsichtlich des Titelentzugs stand es den Ländern hin- gegen von Anfang an frei, das GFaG durch eigenständi- ge Regelungen zu ersetzen.
Von dieser Möglichkeit ist mittlerweile durchgehend Gebrauch gemacht worden.28 Gegenwärtig können auf Ebene des förmlichen Landesrechts drei Regelungskon- zeptionen unterschieden werden, die sich nach dem Grad der Bindung der Satzungsautonomie durch den Landesgesetzgeber ausdifferenzieren. Sämtlichen Lan- deshochschulgesetzen ist gemein, dass sie die Universi- täten zum Erlass von Promotionsordnungen ermächti- gen. Das erste Regelungsmodell, wie es in Brandenburg,
26 G. v. 07.06.1939 RGBl. I S. 985; aufgehoben durch Artikel 9 Abs. 2 G. v. 23.11.2007 BGBl. I S. 2614.
27 BVerwG, Urt. v. 31.07.2013, 6 C 9.12, BVerwGE 147, 292. Abwei- chendes gilt allein für die Strafrechtsnorm des § 5 GFaG. In dieser war das Angebot, gegen Vergütung den Erwerb eines ausländi- schen akademischen Grades zu vermitteln, mit Freiheitsstrafe
bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bewährt. Diese Norm galt im Rang von Bundesrecht und ist erst durch Art. 9 Abs. 2 des Zweiten Gesetzes über die Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums der Justiz (G. v. 23.11.2007 BGBl. I S. 261) aufgehoben worden.
28 Die einschlägigen Landeshochschulgesetze werden wie folgt zitiert: Baden-Württemberg: BW LHG; Bayern: BayHIG; Berlin: BerlHG; Brandenburg: BbgHG; Bremen: BremHG; Hamburg: HmbHG; Hessen: HessHG; Mecklenburg-Vorpommern: LHG M‑V; Niedersachen: NHG; Nordrhein-Westfalen: HG-NRW; Rheinland-Pfalz: HochSchG; Saarland: SHSG; Sachsen: SächsHSG;
Bremen, Hamburg, Niedersachen, Rheinland-Pfalz so- wie Schleswig-Holstein umgesetzt worden ist, lässt es dabei bewenden.29 In Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland sind die ein- schlägigen Bestimmungen in den Promotionsordnun- gen zum Titelentzug noch zusätzlich durch Satzungser- mächtigungen abgesichert, die die Hochschulen zum Er- lass von Prüfungsordnungen einschließlich der Folgen von Verstößen gegen Prüfungsvorschriften ermächti- gen.30 Deutlich stärkeren Bindungen unterliegt die Sat- zungsautonomie im zweiten Regelungsmodell, das sich in Berlin, Hessen, Sachsen, Sachsen-Anhalt sowie Thü- ringen durchgesetzt hat. Dort sieht das Landeshoch- schulgesetz Sondertatbestände für den Titelentzug vor, die an eine Täuschung31 anknüpfen. Der Entzug steht dann entweder im Ermessen (Sachsen, Sachsen-An- halt)32 oder ist als Sollvorschrift33 ausgestaltet. Das dritte Regelungsmodell liegt den baden-württembergischen und den bayerischen Vorschriften zugrunde. Beide Län- der verweisen in ihren Landeshochschulgesetzen für Entzug eines Hochschulgrades auf die Parallelvorschrif- ten im Landesrecht zur Rücknahme von Verwaltungsak- ten.34 Ergänzt wird der Verweis durch die Generaler- mächtigung zum Erlass von Promotionsordnungen so- wie durch eine weitere Ermächtigung, im Falle von Ver- stößen gegen die Prüfungsordnung auch Sanktionen zu regeln.35
Im ersten und zweiten Regelungsmodell, d.h. außer- halb von Baden-Württemberg und Bayern, stellt sich die Frage, ob und inwieweit ein Titelentzug neben den spe- zialgesetzlichen Vorschriften in den Landeshochschul- gesetzen bzw. den Promotionsordnungen auch auf die Parallelvorschriften zu § 48 VwVfG im Landesrecht ge- stützt werden kann. Tatbestandlich setzt § 48 VwVfG zu- nächst nicht mehr, aber auch nicht weniger als die schlichte Rechtswidrigkeit voraus.36 Wären die Parallel- vorschriften zu § 48 VwVfG generell neben den spezial-
Sachen-Anhalt: HSG LSA; Schleswig-Holstein: HSG SH; Thüring-
en: ThürHG.
29 § 32 Abs. 3 S. 2 BbgHG; § 65 Abs. 4 BremHG; § 70 Abs. 6 HmbHG;
§ 43 Abs. 3 S. 1 LHG M‑V; § 9 Abs. 3 NHG; § 67 Abs. 3 S. 3 HG- NRW; § 34 Abs. 8 S. 2 HochSchG; §§ 69 Abs. 3 S. 1 i.V.m. 64 SHSG; § 54 Abs. 3 S. 1 HSG SH.
30 § 38 Abs. 2 Nr. 12 LHG M‑V; § 64 Abs. 2 Nr. 9 HG-NRW; § 69 Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 64 Abs. 3 Nr. 10 SHSG.
31 § 34 Abs. 7 Nr. 1 BerlHG; § 32 S. 1 Alt. 1 HessHG;
§ 40 Abs. 4 Nr. 1 SächsHSG; § 21 Abs. 1 Nr. 1 HSG LSA; § 58 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ThürHG.
32 § 40 Abs. 4 SächsHSG; § 21 Abs. 1 HSG LSA.
33 § 34 Abs. 7 BerlHG; § 32 HessHG; § 58 Abs. 7 S. 1 ThürHG.
34 Siehe § 36 Abs. 7 S. 1 BW LHG; Art. 101 S. 1 BayHIG.
35 Art. 84 Abs. 3 Nr. 9 BayHIG.
36 Suerbaum, in: Mann/Sennekamp/Uetrichtz, VwVfG, 2. Aufl. 2019,
§ 48 VwVfG Rn. 252.
gesetzlichen Regelungen anwendbar, könnten so die spe- ziellen Entzugstatbestände ausgehebelt werden, die den Entzug an qualifizierte Voraussetzungen binden.37 Dies spricht dafür, dass die allgemeinen Vorschriften im Lan- desrecht zur Rücknahme von Verwaltungsakten durch die spezielleren Regelungen im Landeshochschulrecht verdrängt werden.38
2. Promotionsordnungen
An dieser Stelle kann kein umfassender und fakultäten- übergreifender Überblick über die Regelungen für den Titelentzug in den Promotionsordnungen gegeben wer- den. Vielmehr wird sich folgende Auswertung von vorn- herein auf Promotionsordnungen juristischer Fakultäten beschränken und je Bundesland jeweils auch nur eine Promotionsordnung berücksichtigen. Ausgewählt wur- den die Promotionsordnungen der juristischen Fakultä- ten in Tübingen, München, Berlin (FU), Potsdam, Bre- men, Hamburg (Landesuniversität), Frankfurt am Main, Greifswald, Hannover, Düsseldorf, Mainz, Saarbrücken, Leipzig, Halle, Kiel und Jena.39 Aus Gründen der Ein- fachheit wird auf die exakte Bezeichnung der Ordnun- gen verzichtet und abkürzend allein die jeweilige Uni- versitätsstadt benannt.
Auffällig ist, dass sich die unterschiedlichen Rege- lungskonzeptionen in den Landeshochschulgesetzen
37 OVG-NRW, Urt. v. 10.12.2015, 19 A 2820/11, juris Rn. 47.
38 S. auch OVG-NRW, Urt. v. 10.12.2015, 19 A 254/13, BeckRS 2016,
40861 Rn. 52 sowie Hebeler (Fußn. 23) (400), allerdings mit problematischem Rückgriff auf § 1 Abs. 1 LVwVfG; differenzierend Löwer, Aus der Welt der Plagiate, RW 2012, 116 (133), der von einem Vorrang der Rücknahmevorschriften ausgeht, sofern im Landeshochschulrecht nicht zumindest eine Ermächtigung an den Satzungsgesetzgeber enthalten ist, Rechtsfolgen für die Verstöße gegen Prüfungsnormen in der Prüfungsordnung zu regeln.
39 Im Einzelnen wurden ausgewählt: für Baden-Württemberg die Promotionsordnung der Eberhard-Karls-Universität Tübingen (amtl. Bek. der zentralen Verwaltung, Jahrgang 41 – Nr. 12 – 30.07.2015), für Bayern die Promotionsordnung der Ludwig-Maxi- milians-Universität München (Bekanntmachung durch Anschlag in der Ludwig-Maximilians-Universität München am 03.11.2017), für Berlin die Promotionsordnung der Freien Universität Berlin (Amtsblatt der Freien Universität Berlin 13/2017, 251, 24. Mai 2017), für Brandenburg die Promotionsordnung der Universität Potsdam (amtl. Bek., 1998, Nr. 1, I. Rechts- und Verwaltungsvorschriften), für Bremen die Promotionsordnung der Universität Bremen (bekanntgemacht am 13.11.2017), für Hamburg die Promotionsord- nung der Universität Hamburg (amtl. Anz. Nr. 100 vom 21.12.2010, S. 2634), für Hessen die Promotionsordnung der Goethe-Univer- sität Frankfurt am Main (UniReport Satzungen und Ordnungen vom 23.07.2015), für Mecklenburg-Vorpommern die Promo- tionsordnung der Universität Greifswald (Hochschulöffentlich be- kanntgemacht am 25.08.2021), für Niedersachen die Promotions- ordnung der Leibniz Universität Hannover (Verkündungsblatt 20/2017 der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover vom 07.09.2017), für Nordrhein-Westfalen die Promotionsordnung der
nur sehr bedingt in den Promotionsordnungen wider- spiegeln. Grund- bzw. Zentraltatbestand der Aberken- nung wegen anfänglicher Mängel ist durchgehend die Täuschung. Dies gilt auch für Tübingen40 und Mün- chen41. An die Stelle der Täuschung treten in Düsseldorf42„ein nicht nur geringfügiges wissenschaftli- ches Fehlverhalten“ und in Kiel43 der Erwerb durch „gro- be Verstöße gegen die gute wissenschaftliche Praxis“. Diese Auslegung dieser unbestimmten Rechtsbegriffe im Lichte des Kodex der DFG-Leitlinien zur Sicherung gu- ter wissenschaftlicher Praxis44 führt dann aber über das dort genannte „Plagiat“ im Ergebnis doch wieder auf die Täuschung zurück.
Wenn der Täuschungstatbestand erfüllt ist, verfügen die Fakultäten im Regelfall über ein nicht näher konkre- tisiertes Entziehungsermessen.44 Den zwingenden Ent- zug sehen allein Potsdam45, Kiel46 sowie Jena47 vor, der dann an qualifizierte Voraussetzungen gebunden ist. In Einklang mit den landesgesetzlichen Vorgaben ist der Entzug in Berlin (FU)48 und Frankfurt49 bei Täuschung als Sollbestimmung ausgestaltet. Selten differenzieren die Promotionsordnungen bei der Ermessenausübung danach, in welchen Teilen der Arbeit getäuscht wurde. Dies ist lediglich in Düsseldorf50 und in Hamburg51 vor- gesehen. Insoweit kommt in Düsseldorf als Alternative zum Entzug eine Rüge insbesondere in Betracht, wenn
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (amtl. Bek. Nr. 35/2022 vom 30.06.2022), für Rheinland-Pfalz die Promotionsordnung der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz (bekanntgemacht am 28.03.2023), für das Saarland die Promotionsordnung der Univer- sität des Saarlandes (Dienstblatt der Hochschulen des Saarlandes, Nr. 26, ausgegeben zu Saarbrücken, 06.07.2020), für Sachsen
die Promotionsordnung der Universität Leipzig (amtl. Bek.
Nr. 32/2020, 11.09.2021), für Sachsen-Anhalt die Promotionsord- nung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Amtsblatt der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 22. Jahrgang,
Nr. 1 vom 30.01.2012, S. 3), für Schleswig-Holstein die Promotions- ordnung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (bekanntge- macht am 27. März 2017), für Thüringen die Promotionsordnung der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Verkündungsblatt der Friedrich-Schiller-Universität Jena Nr. 1/2019 S. 2, 16.10.2018).
40 § 22 Abs. 1 der PromO Tübingen. 41 § 23 Abs. 1 der PromO München. 42 § 13 Abs. 1 der PromO Düsseldorf. 43 § 40 Abs. 2 der PromO Kiel.
44 DFG-Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis, Kodex, Stand April 2022, S. 25, (https://is.gd/PEqmdL, zuletzt abgerufen am 20.07.2023).
45 § 25 Abs. 1 PromO Potsdam.
46 § 40 Abs. 2 PromO Kiel.
47 § 20 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz PromO Jena.
48 § 32 PromO FU Berlin i.V.m. § 34 Abs. 7 BerlHG. 49 § 19 Abs. 2 lit. a) PromO Frankfurt.
50 § 13 Abs. 1 Satz 2, 3 und 4 PromO Düsseldorf.
51 § 18 Abs. 2 Satz 2 PromO Hamburg.
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„Falschangaben in einem untergeordneten Teil der Ar- beit nicht deren Hauptaussagen betreffen und wenn die wissenschaftliche Leistung insgesamt durch diese Män- gel ausnahmsweise nicht gänzlich entwertet wird und deshalb der Entzug des Doktorgrades unverhältnismä- ßig wäre“.52 Ähnlich bestimmt Hamburg, dass die Aber- kennung insbesondere dann zu erfolgen hat, „wenn die Täuschung Leistungen in solchen Teilen der Promotion betrifft, die für die Bewertung der Dissertation oder Dis- putation oder die Gesamtnote einen wichtigen Stellen- wert hat“.53
Als Rechtsfolge sehen die Promotionsordnungen mit einer Ausnahme allein den Entzug vor und widersetzen sich damit dem Trend anderer Fachbereiche, alternative Reaktionsmöglichkeiten vorzusehen.54 In Düsseldorf kann hingegen in nicht schwerwiegenden Fällen wissen- schaftlichen Fehlverhaltens statt der Entziehung des Doktorgrades auch eine Rüge erteilt werden.
Im Verhältnis der Promotionsordnungen zu den lan- desgesetzlichen Vorgaben stellt sich eine vergleichbare Frage, wie sie schon oben zum Verhältnis spezieller lan- desgesetzlicher Regelungen zu den allgemeinen Vor- schriften zur Rücknahme von Verwaltungsakten disku- tiert worden ist. Vielfach sind die Entzugstatbestände in den Promotionsordnungen enger als im Landesrecht ge- fasst. Vordergründig könnte ein entsprechendes Kon- kurrenzverhältnis im Einklang mit allgemeinen Grund- sätzen der Rechtsquellenlehre durch den Vorrang der höherrangigen Norm aufzulösen sein. Damit wäre ein Entzug unter Rückgriff auf die einschlägigen Bestim- mungen des Landeshochschulrechts auch dann möglich, wenn ein Entzug auf Ebene der Promotionsordnungen an dort vorgesehenen qualifizierten Tatbeständen schei- tern würde.55
Mit Rücksicht auf die Wissenschaftsfreiheit und Au- tonomie der Hochschulen ist aber eine andere Auflösung des (scheinbaren) Konkurrenzverhältnisses vorzugswür- dig. Soweit der Entzug auf Ebene des Landesrechts in das Ermessen der zuständigen Gremien gestellt wird, sind entsprechende Vorschriften als Ermessensdirektiven zu interpretieren.56 Dies ist so lange unkritisch, wie die Selbstprogrammierung der Ermessensausübung nicht
- 52 § 13 Abs. 1 Satz 4 PromO Düsseldorf.
- 53 § 18 Abs. 2 Satz 2 PromO Hamburg.
54 So etwa in der Promotionsordnung, die dem Fall Mathiopoulos
(BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerwGE 159, 148 Rn. 42) zugrundelag und die nachträgliche Änderung der Bewertung erlaubt hätte.
55 So wohl BayVGH, Urt. v. 04.04.2006, 7 BV 05.388, BayVBl. 2007, 281.
56 Vgl. auch Löwer (Fußn. 38) (133).
57 Dies rechtspolitisch befürwortend etwa auch Gärditz, Die Feststell-
die Grenzen sprengt, die sich aus den § 40 VwVfG ent- sprechenden Vorschriften des Landesrechts ergeben.
3. Zwischenbetrachtung
Bei isolierter Betrachtung der landesgesetzlichen Vorga- ben ergibt sich regelungstechnisch zunächst ein relativ buntes Bild. In der Zusammenschau mit den Promoti- onsordnungen der Fakultäten wird die Aberkennung eines Titels wegen anfänglicher Mängel im Ergebnis aber doch weiterhin ganz überwiegend von einer Täuschung abhängig gemacht, was dem Tatbestand der früher bun- deseinheitlich geltenden Regelung des § 4 GFaG ent- spricht. Die Bereitschaft, sich auf ein differenziertes Rechtsfolgenregime einzulassen,57 ist in den juristischen Fakultäten offensichtlich noch unterentwickelt. Die ein- zige Ausnahme der hier betrachteten Promotionsord- nungen stellt bislang die Universität Düsseldorf dar.
IV. Neuere Entwicklungen in der Rechtsprechung
Wie in der Einleitung schon angedeutet wurde, sollen im Folgenden jüngere Entwicklungen in der Rechtspre- chung näher beleuchtet werden, denen das Potential zukommt, die tradierten Grundsätze für die Aberken- nung in Frage zu stellen. Hier ist einmal auf die Mathiopoulos-Entscheidung des Bundesverwaltungsge- richts sowie einen Nichtannahmebeschluss des Bundes- verfassungsgerichts einzugehen, die aber zunächst in ihren jeweiligen Kontext einzuordnen sind.
1. Täuschung und „geltungserhaltende Reduktion“
Häufig wird in Plagiatsverfahren vorgetragen, die nicht- plagiierten Stellen der beanstandeten Arbeit würden ausreichen, um den in der Promotion zu erbringenden Nachweis der Befähigung zu selbstständiger wissen- schaftlicher Arbeit zu erbringen.
Dass dieser Einwand den Tatbestand der Täuschung nicht infrage zu stellen vermag, entsprach lange Zeit der ständigen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte. Maßstabbildend war hierfür die Rechtsprechung des VGH BW,58 die häufig zitiert worden ist59 und die bereits auf eine 1980 getroffene Entscheidung zurückgeht.60 Für
ung von Wissenschaftsplagiaten im Verwaltungsverfahren, WissR
2013, 3 (34).
58 VGH BW, B. v. 13.10.2008, 9 S 494/08, NVwZ-RR 2009, 285. 59 Vgl. etwa VG Hamburg, Urt. v. 06.07.2018, 2 K 2158/14; Fort-
führung Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, B. v. 09.02.2015, 9 S 327/14; Vgl. VG Darmstadt, Urt. v. 14.04.2011, 3 K 899/10.DA.
60 VGH BW, Urt. v. 19.4.2000, 9 S 2435/99, BeckRS 2000, 21248, Rn. 24 ff.; VGH BW, Urt. v. 18.11.1980, IX 1302/78, ES-VGH 31, 54 (57).
das Vorliegen eines Irrtums über die Eigenleistung des Doktoranden muss danach von der Identität der konkre- ten Arbeit ausgegangen werden, was eine hypothetische Beurteilung einer in dieser Form und mit diesem Inhalt nicht vorgelegten Arbeit verbieten muss.61 Damit wurde in die gleitende Skala zwischen einer einzelnen, ganz un- bedeutenden Plagiatsstelle und dem Vollplagiat ein har- ter Schnitt gezogen. Jenseits eines bloßen Bagatellvorbe- haltes liegt immer eine beachtliche Täuschung vor. Wel- chen wissenschaftlichen (Rest-)Wert die übrigen Teile der Arbeit hatten, war ausnahmslos irrelevant.
Umstritten ist, ob an diesen Grundsätzen nach der 2017 ergangenen Entscheidung des 6. Senats des Bundes- verwaltungsgerichts in der Rechtssache „Mathiopoulos“ festzuhalten ist.62 Die einschlägige Passage in dem Urteil wandelt zunächst auf vertrauten Pfaden. Danach ist die Verleihung durch Entziehung des Doktorgrades rück- gängig zu machen, wenn sich nach der Verleihung eine Täuschung über die grundlegende Pflicht herausstellt, mit der Arbeit die Befähigung zum selbstständigen wis- senschaftlichen Arbeiten nachgewiesen zu haben.63 Ob die Dissertation noch als Eigenleistung des Promoven- den gelten könne, soll sich dann aber einer allgemeingül- tigen Bewertung entziehen. Für die Würdigung des je- weiligen Sachverhaltes seien die Anzahl der Plagiatsstel- len, ihr quantitativer Anteil an der Dissertation sowie ihr qualitatives Gewicht, d.h. ihre Bedeutung für die wissen- schaftliche Aussagekraft, zu berücksichtigen.64 An der notwendigen Eigenleistung fehle es, wenn die Plagiats- stellen die Arbeit quantitativ, qualitativ oder in einer Ge- samtschau beider Möglichkeiten prägen würden. Von ei- ner quantitativen Prägung will der 6. Senat ausgehen, wenn „die Anzahl der Plagiatsstellen und deren Anteil an der Arbeit angesichts des Gesamtumfangs überhand- nehmen“. „[W]enn die restliche Dissertation den inhalt- lichen Anforderungen an eine beachtliche wissenschaft- liche Leistung nicht genügt“, ist die Arbeit qualitativ durch plagiierte Teile geprägt.65
Diese Ausführungen sind in der Literatur sehr unter- schiedlich gedeutet worden. So ist in einem vielbeachte- ten Beitrag die Auffassung vertreten worden, nunmehr seien Inhalt, Erkenntnisgewinn oder Originalität mit
- 61 Vgl. etwa VG Düsseldorf, Urt. v. 20.03.2014, 15 K 2271/13, ZUM 2014, 602 (615); aus der Literatur etwa Linke, Verwaltungsrecht- liche Aspekte der Entziehung akademischer Grade, WissR, 146(157 f.); Suerbaum, in: Mann/Sennekamp/Uetrichtz, VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 48 VwVfG Rn. 254; Löwer (Fußn. 38) (138).
- 62 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerwGE 159, 148 Rn. 44.
- 63 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerwGE 159, 148 Rn. 44.
64 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerwGE 159, 148 Rn. 44. 65 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerwGE 159, 148 Rn. 44. 66 Fisahn, Wahrheit und Fußnote — Wissenschaftliche Ehrlichkeit
den unkorrekten oder falschen Quellenangaben in Be- ziehung zu setzen. Nur wenn die Plagiate in der „be- rühmten Gesamtschau“ die Arbeit quantitativ und quali- tativ prägen, so dass die Eigenleistung in den Hinter- grund trete, könne man einen Titel aberkennen.66 Dieser Interpretation der Entscheidungsgründe ist nachdrück- lich zu widersprechen. Sie mag rechtspolitisch vertretbar sein. Mit den Anforderungen an eine Täuschung, wie sie der 6. Senat in der Entscheidung „Mathiopolous“ formu- liert hat, hat dies aber nichts zu tun. Der 6. Senat verlangt keine „Gesamtschau“. Vielmehr sind drei, im Ergebnis voneinander unabhängige Fallgestaltungen zu unter- scheiden, die jeweils für sich betrachtet den Täuschungs- vorwurf begründen können. Die Täuschung liegt vor, wenn in quantitativer Hinsicht von einer fehlenden Ei- genleistung auszugehen ist, kann sich aber auch aus dem qualitativen Gewicht der Plagiatsstellen ergeben. Be- gründet weder eine isolierte quantitative noch eine iso- lierte qualitative Betrachtung den Täuschungsvorwurf, kann es auch noch in einer Gesamtschau an der notwen- digen Eigenleistung fehlen.
Umgekehrt vermag es aber wohl auch nicht zu über- zeugen, die Entscheidung des 6. Senats als eine bloße Fortschreibung der früheren Bagatellrechtsprechung zu deuten.67 Dies ist kaum mit einer Passage in den Urteils- gründen zu vereinbaren, wonach es in der Verantwor- tung der Hochschulen bzw. ihrer Fakultäten liegt, ob eine Dissertation „trotz zahlreicher Plagiatsstellen noch als wissenschaftliche Eigenleistung“ gelten kann.68 Da- mit müssen auch jenseits von Bagatellen Fälle denkbar sein, in denen Plagiate noch nicht überhandnehmen. Eine derartige Interpretation würde zudem der dritten Variante einer fehlenden Eigenleistung, nämlich der Ge- samtschau der quantitativen wie qualitativen Elemente, die Berechtigung entziehen. Wenn sich die Anzahl der Plagiate noch unterhalb einer Bagatellgrenze bewegt, ist schwer einzusehen, wie trotz einer nicht qualitativen Prägung der Arbeit durch Plagiate noch von einer nicht ausreichenden Eigenleistung auszugehen ist. Richtiger- weise muss das quantitative Moment damit eine eigen- ständige Grenze jenseits bloßer Bagatellen markieren.69
und der Plagiatspranger, NJW 2020, 743 (746).
67 So aber Gärditz, Gutachterliche Stellungnahme betreffend die
Überprüfung einer Dissertation durch die Freie Universität Berlin (Fall Dr. Franziska Giffey), 27.10.2020, S. 13; Gärditz (Fußn. 13) (177).
68 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerwGE 159, 148 Rn. 39. 69 So im Ergebnis wohl auch Solte, Gutachten zu einer Reihe von
Rechtsfragen im Zusammenhang mit dem Entzug eines Doktor- titels aufgrund der Aufdeckung von Plagiaten Abgeordnetenhaus von Berlin — Wissenschaftlicher Parlamentsdienst -, 31.7.2020, S. 6.
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Zumindest unglücklich ist, dass die Konkretisierun- gen der beiden Elemente in der Entscheidung nur wenig hilfreich sind und eher mehr Fragen aufwerfen als dort beantwortet werden. Wenn „die Anzahl der Plagiatsstel- len und deren Anteil an der Arbeit angesichts des Ge- samtumfangs überhandnehmen“ dürfen, kann es für die quantitative Prägung nicht auf eine absolute Zahl der be- anstandeten Stellen ankommen. Vielmehr müssen diese in Relation zu den übrigen Teilen gesetzt werden. Eine im Sinne der Rechtssicherheit begrüßenswerte Quantifi- zierung ist der 6. Senat allerdings schuldig geblieben. Kaum vertretbar dürfte es sein, von einem Überhand- nehmen erst auszugehen, wenn die Arbeit zum überwie- genden Teil aus Plagiaten besteht. Wenn „Überhandneh- men“ in „übermächtiger Weise an Zahl, Stärke zuneh- men; stark anwachsen, sich stark vermehren“ bedeutet,70 erscheint bereits ein Anteil von 5 % plagiatsbehafteter Seiten als diskussionswürdig, um diesen Tatbestand zu erfüllen.
Von einer qualitativen Prägung soll hingegen auszu- gehen sein, „wenn die restliche Dissertation den inhaltli- chen Anforderungen an eine beachtliche wissenschaftli- che Leistung nicht genügt“.71 Hierunter dürften vor al- lem Strukturplagiate fallen, weil von einer eigenständi- gen wissenschaftlichen Leistung auch dann nicht mehr ausgegangen werden kann, wenn Fremdtexte zwar nicht wortwörtlich abgeschrieben, sondern lediglich para- phrasiert werden.
Fast sechs Jahre nach der „Mathiopoulos“-Entschei- dung ist das Urteil des 6. Senats mittlerweile in einer Vielzahl von Entscheidungen rezipiert worden.72 Auffäl- lig ist, dass es sich dabei um ziemlich eindeutige Fälle handelt, bei denen im großem Stil plagiiert worden ist.73 Über die Gründe hierfür kann nur spekuliert werden. Eine Erklärung könnte sein, dass die Fakultäten prozes- suale Risiken minimieren wollen und sich in weniger eindeutigen Fällen eher gegen einen Entzug ausspre- chen. Damit droht eine schleichende Erosion bestehen- der Standards, weil jeder Fall, der nicht sanktioniert wird, aus Gründen der Gleichbehandlung eine Unter- grenze einzieht, die in zukünftigen Fällen überschritten werden muss.
- 70 Vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/ueberhandnehmen (zuletzt abgerufen am 24.7.2023).
- 71 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerwGE 159, 148 Rn. 44.
- 72 Stand Juli 2023 enthält die Datenbank von Beck 25 Entscheidun- gen der Verwaltungsgerichte, in denen auf die Entscheidung des6. Senats Bezug genommen wird.
- 73 Vgl. exemplarisch VG Ansbach, Urt. v. 20.01.2022, AN 2 K 20.2658,BeckRS 2022, 12633.
74 Vgl. etwa zu den rechtsmethodischen Problemen, die sich bei
Schon aus Gründen der Rechtssicherheit erscheint es daher wünschenswert, das quantitative Moment auch tatsächlich zu quantifizieren. Mit Rücksicht auf die Wis- senschaftsfreiheit spricht viel dafür, dass diese Aufgabe nicht durch die Rechtsprechung, sondern in den Fakul- täten geschultert werden sollte. Das Steuerrecht bietet reichlich Anschauungsmaterial dafür, dass derartige Quantifizierungen immer angreifbar, aber letztlich der einzige Weg sind, Abgrenzungsfragen intersubjektiv vorzustrukturieren.74 Die Schwelle für ein „quantitati- ves“ Plagiat sollte dabei aus Gründen der Verhältnismä- ßigkeit nicht zu niedrig angesetzt werden. Hierfür be- steht auch keine Notwendigkeit, weil ein Plagiat auch noch unter dem qualitativen Aspekt bejaht werden kann. Wo die Grenzen im Einzelnen zu setzen ist, wird von Fach zu Fach variieren. Im Bereich der Rechtswissen- schaft könnte eine 10 %-Grenze der Seiten, die substanti- elle Plagiate enthalten, für die gebotene Rechtssicherheit sorgen.
2. Sanktionierung und Grenzen der Satzungsautonomie
Wie im Abschnitt zur grundrechtlichen Einordnung ausgeführt wurde, verfügen die Universitäten nur über eine eingeschränkte Rechtssetzungsbefugnis.75 Gegen- stand und Zweck der Satzungsautonomie hat der Gesetz- geber zu umreißen. Inwieweit es darüber hinaus noch inhaltlicher Vorgaben oder doch jedenfalls einer Rah- menvorgabe bedarf, soll dann von der Intensität des Grundrechtseingriffs abhängig sein.76 Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu dem Themenkreis war durch eine starke Betonung der (Sat- zungs-)Autonomie der Hochschulen geprägt. Dies lässt sich anhand zweier bereits 2006 und 2012 getroffener Entscheidungen zur Plagiatsproblematik verdeutlichen.
In der im Jahr 2006 getroffenen Entscheidung77 konnte sich eine bayerische Universität allein auf die ein- schlägige Bestimmung im Landeshochschulrecht stüt- zen, die für den Titelentzug auf die § 48 VwVfG entspre- chende Regelung im Landesverwaltungsverfahrensge- setz verwies. Auch in der damals geltenden Promotions- ordnung wurde diese Vorgabe nicht näher konkretisiert. Deren Regelungsgehalt erschöpfte sich in einem Verweis
dem Versuch stellen, im Einkommensteuerrecht zwischen privater Vermögensverwaltung und gewerblichem Grundstückshandeln abzugrenzen Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2008, S. 131 ff.
75 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerwGE 159, 148. Rn. 28. 76 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 3.16, BVerwGE 159, 148. Rn. 28. 77 BVerfG, B. v. 20.10.2006, 6 B 67/06, Buchholz 316 § 48 VwVfG
Nr. 116; vorgehend BayVGH, Urt. v. 04.04.2006, 7 BV 05.388, BayVBl. 2007, 281.
auf das GFaG, das in Bayern zum damaligen Zeitpunkt aber bereits außer Kraft getreten war.78 Ähnlich wie be- reits die Vorinstanz erachtete das Bundesverwaltungsge- richt den Verweis im Hochschulrecht auf Art. 48 BayV- wVfG als ausreichende Rechtsgrundlage. Bei verfas- sungskonformer Auslegung böte Art. 48 BayVwVfG hin- reichend Raum für das rechtsstaatlich gebotene Abwägungsprogramm zwischen Vertrauensschutz und Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.
Umfangreiche und aufschlussreiche Ausführungen zur Reichweite der Satzungsautonomie enthält ein weite- res im Juni 2017 gefälltes Urteil des 6. Senats.79 Der Ent- zug des Doktorgrades des Klägers gründete auf straf- rechtlich relevantem Fehlverhalten nach der Promotion. Verurteilt worden war der Beschwerdeführer, weil ein von ihm geleitetes „Institut für Wissenschaftsberatung“ gegen Honorar Promotionswillige an Hochschullehrer vermittelt hatte. Die Verurteilung wegen Bestechung nahm die beklagte Hochschule zum Anlass, ihm selbst den Doktorgrad zu entziehen. Rechtsgrundlage war eine Bestimmung in der Promotionsordnung, wonach der Doktorgrad entzogen werden konnte, wenn der Promo- vierte wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Frei- heitsstrafe von mindestens einem Jahr oder einer vor- sätzlichen Straftat verurteilt worden war, bei deren Vor- bereitung oder Begehung der Doktorgrad eingesetzt wurde. Das nordrheinwestfälische Hochschulrecht be- schränkte sich hingegen auf die Satzungsermächtigung, das Nähere des Promotionsstudiums durch eine Prü- fungsordnung (Promotionsordnung) zu regeln.
Das Bundesverwaltungsgericht sah im Landeshoch- schulrecht eine ausreichende gesetzliche Rechtsgrundla- ge und widersprach damit der Rechtsauffassung des Klä- gers, der eine Verletzung des Gesetzesvorbehalts gerügt hatte. Der Landesgesetzgeber sei zwar berechtigt, aber nicht verpflichtet, abschließend vorzugeben, welches wissenschaftliche Fehlverhalten den hochschulintern zuständigen Fakultäten Anlass zur Entziehung des Dok- torgrades geben könne. Möglich sei es, stattdessen einen gesetzlichen Rahmen vorzugeben oder den Fakultäten stattdessen auch nur einen Regelungsauftrag zu erteilen. Die Verpflichtung der Fakultäten, schwerwiegende Ver- letzungen grundlegender Gebote der wissenschaftlichen Redlichkeit zu sanktionieren, folge bereits aus ihrer grundgesetzlichen Verantwortlichkeit für eine redliche Wissenschaft. Weiterhin seien sie bereits aufgrund ihrer Grundrechtsbindung verpflichtet, durch Gestaltung und
78 Vgl. hierzu BayVGH, Urt. v. 04.04.2006, 7 BV 05.388, BayVBl. 2007, 281.
79 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 4/16, BVerwGE 159, 171.
80 BVerwG, Urt. v. 21.06.2017, 6 C 4/16, BVerwGE 159, 171 Rn. 26.
Anwendung des Satzungsrechts sicherzustellen, dass die grundrechtsrelevanten Nachteile einer Entziehung mit ihrem fallbezogenen Gewicht berücksichtigt würden.80
Gegen das letztinstanzliche Urteil des Bundesverwal- tungsgerichts ist Verfassungsbeschwerde eingelegt wor- den.81 Diese wurde durch einen Nichtannahmebeschluss zurückgewiesen, weil es der Beschwerdeführer entgegen §§ 23 Abs. 1 S. 2, 92 BVerfGG versäumt hatte, seine Be- schwerde hinreichend zu substantiieren. Umso mehr lassen die als obiter dictum formulierten Ausführungen aufhorchen. Der parlamentarische Gesetzgeber sei auch im Hochschulbereich verpflichtet, die für die Grund- rechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen und nicht anderen zu überlassen. Auch in An- sehung des vom Bundesverwaltungsgericht im Ansatz zutreffend betonten Rechts auf akademische Selbstver- waltung aus Art. 5 Abs. 3 HS. 1 GG erscheine es insoweit als zweifelhaft, ob die Entziehung des Doktorgrades we- gen eines Fehlverhaltens nach seiner Verleihung auf Grundlage einer Satzung verfassungsrechtlichen Anfor- derungen genüge. Aus dem Hochschulrecht des Landes ergebe sich lediglich, dass in der Promotionsordnung die Folgen von Verstößen gegen Prüfungsvorschriften zu re- geln sei. Das Verhalten nach der Prüfung gehöre nicht dazu.82
Auch wenn die Entscheidung unmittelbar allein die Entziehung eines Doktorgrades wegen nachträglichen Fehlverhaltens betrifft, wirft sie auch ein Schlaglicht auf die hier in Rede stehende Thematik. Sie unterstreicht, dass die Universitäten im Regelungsverbund mit Lan- desgesetzgebung nur über eine abgeleitete Satzungsauto- nomie verfügen. Was die Fakultäten in ihren Promoti- onsordnungen regeln, muss dort, wo es grundrechtsrele- vant ist, parlamentsgesetzlich vorgezeichnet sein. Für die Sanktionierung von Plagiaten stehen damit die Bundes- länder, die dem zweiten und dritten Regelungsmodell folgen, auf der sicheren Seite, weil die Sanktionierung entweder bereits im Landeshochschulrecht verankert ist oder dieses doch zumindest eine konkretisierende Spezi- alermächtigung enthält, die über die Generalermächti- gung zum Satzungserlass hinausgeht. Letztlich dürfte aber auch das erste Regelungsmodell, bei dem sich der Landesgesetzgeber auf eine Generalermächtigung be- schränkt, keinen durchgreifenden Einwänden ausgesetzt sein. Die Ermächtigung zum Erlass einer Prüfungsord- nung kann nur so verstanden werden, dass damit auch die Befugnis zum Erlass von Regelungen zur Sicherung
81 BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 25.05.2020, 1 BvR 2103/17, WissR 2020, 385.
82 BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 25.05.2020, 1 BvR 2103/17, WissR 2020, 385 Rn. 10.
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der Integrität der Promotionsprüfung eingeschlossen ist. Dazu gehören nicht nur die Regeln zum ordnungsgemä- ßen Ablauf, sondern auch die Reaktion auf prüfungsbe- zogene Verstöße. Dies muss umso mehr gelten, als der Umgang mit Wissenschaftsplagiaten kein unbeschriebe- nes Blatt ist, sondern festen Regeln folgt, die auch in der Rechtsprechung grundsätzlich anerkannt sind. Mit der Generalermächtigung zum Erlass einer Promotionsord- nung ist den Fakultäten damit kein Blankoscheck ausge- stellt, sondern kann sich eine Fakultät allein in dem Rah- men des tradierten Reaktionsrechts bewegen.
Von diesem Rahmen dürften auf Ebene der Landes- gesetzgebung auch sogenannte Minusmaßnahmen ge- deckt sein. Auf einen Prüfungsverstoß kann eine Fakul- tät deshalb grundsätzlich auch mit einer Herabsetzung der Note oder einer schlichten Rüge reagieren. Voraus- setzung hierfür muss aber sein, dass diese Option in den Promotionsordnungen eröffnet worden ist. In den hier betrachteten juristischen Fakultäten ist dies ledig- lich in Düsseldorf vorgesehen (§ 13 Abs. 1 S. 2 PromO Düsseldorf ).
Der vereinzelt unternommene Versuch, derartige Minusmaßnahmen auch ohne ausdrückliche Ermächti- gung zu legitimieren,83 erweist sich hingegen als untaug- lich. Dies gilt insbesondere für den in diesem Zusam- menhang häufig bemühten Grundsatz der Verhältnis- mäßigkeit. Dessen freiheitsschützender Gehalt wird ge- radezu in sein Gegenteil verkehrt, wenn er gegen den Bestimmtheitsgrundsatz ausgespielt wird. Wenn der Tat- bestand einer Eingriffsgrundlage nicht erfüllt ist, kann nach dem rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip eine an- dere Sanktion nicht allein deshalb zulässig sein, weil die- se milder als die gesetzlich vorgesehene Sanktionierung ist. Vielmehr bedarf es einer klaren Regelung entweder bereits durch den Landesgesetzgeber oder doch jeden- falls in der Promotionsordnung. Dies hat zur Konse- quenz, dass eine Sanktionierung wissenschaftlichen Fehlverhaltens jedenfalls dann zwingend ausgeschlossen ist, wenn der Grad des Fehlverhaltens nicht die Schwere erreicht, die auch einen Entzug rechtfertigen würde. Da- mit sind einer Fakultät etwa in Fällen grober Fahrlässig- keit die Hände gebunden sind, wenn im Gesetz oder in der eigenen Promotionsordnung die Schwelle für ein Einschreiten auf ein vorsätzliches Handeln festgeschrie- ben ist. Wer das als unbillig ansieht, ist gehalten, die ge- setzlichen Grundlagen zu ändern.
83 Battis, Gutachterliche Stellungnahme im Auftrag der Freien Universität Zur Klärung der Rechtsfrage: „Ist es rechtmäßig, auf der Grundlage von § 34 Absätze 7 und 8 Berliner Hochschulgesetz (BerIHG) eine Rüge zu erteilen, auch wenn das BerIHG dies nicht
Noch nicht beantwortet ist damit die Frage, ob Mi- nusmaßnahmen verhängt werden können, wenn die Schwelle zum Entzug erreicht ist, die Fakultät aber im Rahmen ihrer Ermessensausübung Milde walten lassen will. Wird in solchen Fällen eine Rüge ausgesprochen oder die Benotung herabgesetzt, kann dem der oben for- mulierte Einwand, durch Aufweichung des Tatbestandes den Vorrang des Gesetzes zu missachten, nicht entge- genhalten werden. Gleichwohl drängen sich andere rechtsstaatliche Bedenken auf. Der Vorbehalt des Geset- zes beruht neben dem grundrechtlichen auch auf einem objektiv-rechtsstaatlichen Fundament. Letzteres zielt da- rauf, staatliches Handeln berechen- und vorhersehbar zu machen. Dies erfordert, ein Sanktionenregime tatbe- standlich zu vertypen, um willkürlichen Entscheidungen vorzubeugen. Dies spricht dafür, die Zulässigkeit von Minusmaßnahmen von einer entsprechenden Regelung in Promotionsordnungen abhängig zu machen.
Wenn sich Fakultäten über entsprechende Bedenken hinwegsetzen wollen, sind weitere Einschränkungen zu beachten. Zulässig können nur solche Sanktionen sein, die sich tatsächlich als Minusmaßnahmen darstellen. Hierunter fällt die Absenkung der Promotionsnote. Nicht zulässig kann es dagegen sein, den Betroffenen zu einem aktiven Tun zu verpflichten, wie ihm beispielswei- se aufzugeben, sein Manuskript nach einer Überarbei- tung erneut zu veröffentlichen. Ebenso unzulässig müs- sen von der Fakultät ausgesprochene förmliche Rügen sein. Eine solche Rüge tangiert den sozialen Achtungs- anspruch und greift deshalb in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein. Auch wenn die Betroffenen kaum schutzwürdig sind, handelt es sich in beiden Fällen nicht mehr um Minusmaßnahmen zum Entzug, sondern um ein Aliud. Fakultäten, die an die Stelle des bisherigen Alles-oder-Nichts-Regimes diffe- renzierte Regelungen treten lassen wollen, sind daher ge- halten, diese Möglichkeiten explizit in ihren Promoti- onsordnungen zu verankern.
V. Fazit und rechtspolitischer Ausblick
Weder das Mathiopoulos-Urteil des Bundesverwal- tungsgerichts noch der Nichtannahmebeschluss des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts bieten Anlass, den bestehenden Umgang mit Plagiaten grundsätzlich in Frage zu stellen. Dieser Befund bedeutet aber noch lange
ausdrücklich regelt und die jeweilige Promotionsordnung zur Ent- ziehung eines Doktorgrades auf die gesetzlichen Bestimmungen bzw. das BerIHG verweist?“, 11.2020.
nicht, dass sich die gegenwärtige Praxis bewährt hat. Sofern Prominente, insbesondere Spitzenpolitiker betroffen sind, finden Plagiatsverfahren unter einem erheblichen medialen Druck statt.84 Das Ideal, unpartei- isch zu entscheiden und sich nicht von persönlichen Interessen leiten zu lassen, kommt dann einer Herkules- aufgabe gleich. Gleiches gilt aber auch, wenn Plagiatsfäl- le zügig auffallen und die betroffene Fakultät zum Rich- ter in eigener Sache wird. Die sinnvollste Strategie, die- sen Druck zu neutralisieren, besteht in der normativen Vorstrukturierung des Entscheidungsprozesses. Je offe- ner die Entscheidungsmaßstäbe hingegen formuliert sind, umso größer ist auch die Gefahr sachwidriger Ein- flussnahmen.
Noch schwer abzuschätzen ist zudem, welche Aus- wirkungen die Entwicklung der KI auf den Wettlauf zwi- schen Plagiatoren und Plagiatsjägern haben wird. Die Textproduktion mit Hilfe von KI lässt Texte entstehen, bei denen der menschliche Benutzer nur noch als Stich- wortgeber fungiert. Auch der Selbstversuch, Teile dieses Beitrages durch die KI so umformulieren zu lassen, dass die Paraphrase nicht mehr als Plagiat zu erkennen ist, lieferte durchaus vielversprechende Ergebnisse. Ein plumpes „Copy and Paste“ dürfte also zukünftig der Ver- gangenheit angehören, was zusätzliche Anreize setzt, die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis außer Acht zu las- sen. KI eröffnet aber nicht nur neue Optionen zu plagiie- ren, sondern auch neue Möglichkeiten, Strukturplagiate offenzulegen.85 Damit könnte auf die Fakultäten eine gi- gantische Welle von Plagiatsverfahren zurollen.
Hierauf sind die Fakultäten gegenwärtig nur schlecht vorbereitet. Daran hat die Aufgabe der früheren Baga-
tellgrenze durch die Rechtsprechung des 6. Senats des Bundesverwaltungsgerichts einen nicht unerheblichen Anteil. Wenn es jetzt eine zweite, noch nicht wirklich quantifizierte Grenze gibt, bei deren Unterschreitung in eine qualitative Betrachtung und zuletzt möglicherweise auch noch in eine Gesamtschau eingetreten werden muss, ist hiermit eine erhebliche Rechtsunsicherheit ver- bunden. Misslich ist dabei insbesondere, dass jeder Pla- giatsfall, der nicht zum Titelentzug geführt hat, einen neuen Benchmark setzt, der bei weiteren Fällen als Refe- renz dient. Um einer Erosion wissenschaftlicher Stan- dards entgegenzuwirken, sind unterschiedliche Strategi- en denkbar. Eine Option wäre es, für Altfälle erneut über eine Verjährungsregel nachzudenken.86 Vorzugwürdig erscheint es, den Fakultäten klare Entscheidungsmaßstä- be an die Hand zu geben. Nach der grundgesetzlichen Aufgabenverteilung sind hier aber weder die Landesge- setzgeber noch die Rechtsprechung, sondern in erster Linie die Fakultäten selbst aufgerufen, für Rechtssicher- heit zu sorgen.
Prof. Dr. Ralf P. Schenke ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Deutsches, Europäisches und Inter- nationales Steuerrecht an der Julius-Maximilians-Uni- versität Würzburg. Seine Forschungsinteressen liegen neben dem Steuerrecht vor allem im Verwaltungspro- zessrecht, im Datenschutzrecht sowie in der juristischen Methodenlehre. Von 2013 bis 2019 war er Vorsitzender der Ständigen Kommission zur Untersuchung wissen- schaftlichen Fehlverhaltens der Universität Würzburg.
84 Reiches Anschauungsmaterial hierfür bieten die Plagiatsverfahren Giffey und Schavan (s. oben die Nw. in Fn. 3 und 4).
85 Vgl. hierzu etwa Keita, Plagiarism Detection Using Transformers (https://www.pinecone.io/learn/plagiarism-detection/, zuletzt
abgerufen am 23.7.2023).
86 Löwer, Verjährungsfrist für Plagiatsvergehen?, Forschung & Lehre
2012, 550; dagegen etwa Rieble, Plagiatverjährung. Zur Ersitzung des Doktorgrades, OdW 2014, 19.
Schenke · Promotion und Wissenschaftsplagiate 2 1 9
220 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 209–220
Erneut führt eine Plagiatsaffaire aus dem politischen Raum dazu, sich mit der Frage deren Sanktionierung, aber auch der Prävention wissenschaftlichen Fehlverhal- tens auseinanderzusetzen.
I. Wissenschaftsfreiheit des Grundgesetzes
René Descartes hat als einer der ersten schon im 17. Jahr- hundert die Forderung aufgestellt, dass mit „wissen- schaftlichen Erkenntnissen das Wohl der Anderen zu fördern“ sei.1 Ein Jahrhundert später war es der deutsche Alexander von Humboldt, der mit seinen Forschungs- reisen „einen neuen Wissens- und Reflexionsstand des Wissens von der Welt“ schuf.2
Die jetzt vom Grundgesetz in Art. 5 Abs. 3 GG garan- tierte Wissenschaftsfreiheit basiert ihrerseits auf Art. 142 WRV. Die Vorschrift übernimmt eine zentrale Rolle im System der grundgesetzlichen Kulturverfass- ung.3 Geschützt ist jede wissenschaftliche Tätigkeit un- abhängig von bestimmten Auffassungen und Wissen- schaftstheorien. Als Eingriff kann deshalb schon eine Bewertung von Forschungs- und Lehrleistungen einzu- stufen sein.4 Der Schutzbereich der Wissenschaftsfrei- heit umfasst auch die Lehre als „wissenschaftlich fun- dierte Übermittlung der durch Forschung gewonnenen Erkenntnisse“5, was ein ausreichendes Maß eigener For- schung voraussetzt.6
II. Entwicklung der Guten Wissenschaft
Welche Qualität diese eigene Forschung zu leisten hatte, ist in den verschiedenen Zeitepochen unterschiedlich betrachtet worden. Im Mittelalter ist eine „Hochschätz- ung der Wissenschaft“ (M. Fuß) zu verzeichnen. Sie zu betreiben, galt als Privileg und Gnade, sie diente, wie
- 1 Discours de la methode pour bien conduire sa raison et chercher la verité dans les sciences, 1637, in der Übersetzung von Lüder Gäbe, Hamburg 1960 , VI 4.
- 2 Dazu Otmar Ette, Alexander von Humboldt und die Globalisie- rung, 2009, S. 13.
- 3 Scholz in Maunz/Dürig, Grundgesetz, 56. ErgLfG, Art. 5 GG, Anm. 7.
4 Vgl. nur Jarass in Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 12. Aufl., Art. 5 GG, Rn. 142
5 BVerfGE 35, 79, 113
Thomas von Aquin entwickelte, einem höheren Zweck.7 Für Deutschland wird heute von Martin Fuß8 ein ge- wisser Niedergang der Wissenschaftskultur gesehen, den er zeitlich der Durchsetzung des Bologna-Prozesses zu- schreibt. Diesem Prozess sei die „Gute Wissenschaft“ entgegenzusetzen. Sie überzeuge in einer pluralen, offen- en Gesellschaft durch ihre Vernünftigkeit, d.h. jeder Wissenschaftler muss sich selbst auf das besinnen, „was das Humanum, das Vernünftige ausmacht“9. Zwar führe das zu Anforderungen an den Wissenschaftler, die „enorm hoch“ sind, aber dem gegenüber stünde vice ver- sa der „Gewinn seiner Freiheit als Wissenschaftler, wenn es ihm gelingt, diese gegenüber immer stärker werden- den äußeren Zugriffen auf die Wissenschaft zu
bewahren.10
Theorie und Praxis liegen auseinander. Die „Gute
Wissenschaft“ sieht sich damit konfrontiert, dass sich die Ansprüche an den Einzelnen und die Rahmenbeding- ungen für Wissenschaft und Forschung in den vergang- enen Jahrzehnten zum Teil stark verändert haben. Tho- mas Ott11 zufolge befinden sich die Geisteswissenschaft- en, besonders aber die Lebens‑, Natur- und Ingenieur- wissenschaften in einer „schier erbarmungslosen, vielschichtigen und vor allem Konkurrenzsituation“, in der sich gute Wissenschaft bewegen müsse, was nament- lich eine hohe Publikationsleistung des wissenschaftli- chen Nachwuchses bedinge. Gefragt sind dabei in den Lebens- und Naturwissenschaften vor allem Veröffentli- chungen mit hohem sog. Impakt-Faktor, in z.B. den Zeit- schriften Science und Nature oder, für Medizin, The Lancet oder New England Journal of Medicine. Ott zu- folge war es nur eine Frage der Zeit, bis solche Bewer- tungskriterien zu wissenschaftlichem Fehlverhalten führe.12
6 Jarass, ebda, Rn. 139
7 Summa contra Gentiles, Buch I 3. Kap.: „Quis modus sit possibilis
divinae veritatis manifestandae“, hrgg. und übersetzt von Karl
Albert/Paulus Engelhardt, 1990.
8 Fuß, Auf der Suche nach dem verlorenen Prinzip, in: Gute Wis-
senschaft, hrgg. von Spieker/Manzeschke, 2017, S. 52. 9 Ebda, S.55.
10 Ebda, S.56.
11 Ott, Publish or Perish“, in Spieker/Manzeschke, Fn. 8, S. 215 ff. 12 Ott, ebda S. 232.
Ulrich Rommelfanger
Von der Guten Wissenschaft zum wissenschaftlichen Fehlverhalten
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
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III. Unterschiedliche Formen wissenschaftlichen Fehlverhaltens
Anders als im geisteswissenschaftlichen Umfeld sind die Lebens- und Naturwissenschaften von wissenschaftli- chem Fehlverhalten regelmäßig im Zusammenhang mit gefälschten bzw. missinterpretierten Versuchsstudien betroffen. Letztere Fälle ereigneten sich – trotz der vor Veröffentlichung regelmäßig vorgenommenen anony- men, internationalen Begutachtung von Forschungser- gebnissen (sog. Peer Review Process). Beispielhaft dafür sind zwei Studien des Koreaners Woo Suk Hwong zum angeblich erfolgreichen Klonen embryonaler Stammzel- len, die in den Jahren 2004 und 2005 in Science veröf- fentlicht worden sind. Sie waren gefälscht; die Eizellen stammten dem Vernehmen nach von Laborangestellten.
Soweit in der medizinischen Forschung Fälschung und Plagiate vorkommen, werden sie teilweise dem Um- stand zugeschrieben, dass in der klinisch orientierten Forschung oftmals sowohl eine starke Konkurrenzsitua- tion bestehe, als auch die Patientenversorgung den Ärz- ten nur wenig Zeit für wissenschaftliche Arbeit lasse. Zankl13 schildert vier Fallbeispiele, von denen ein Fall den Bereich der Deutschen Krebsforschung betrifft. An- hand der Auswertung einer im Jahre 2010 bei 36 Medizi- nischen Fakultäten durchgeführten Umfrage folgert er, dass angesichts der Zahl von 7265 Promotionen und 8 Habilitationen „schwerwiegende Plagiate an medizini- schen Fachbereichen und Fakultäten nur sehr selten vor- zukommen“ scheinen. Weniger Forschungsergebnisse als vielmehr die Erkenntnis, auf Textplagiate in Veröf- fentlichungen zu stoßen, führten in der Vergangenheit im juristischen und politologischen Wissenschaftsbe- reich zu Doktorgradentziehungen bis hin zu politischen Rücktritten und Skandalen. Dies insbesondere dann, wenn sie im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Veröffentlichungen von bekannten Personen des öffent- lichen Lebens stehen. Die Plagiatsaffäre von zu Gutten- berg um die Dissertation des früheren Verteidigungsmi- nisters („Verfassung und Verfassungsvertrag – Konstitu- tionelle Entwicklungsstufen in den USA und der EU“) führte am 23.02.2011 zur Aberkennung des Dr. jur.-Gra- des durch die Universität Bayreuth und am 1.03.2011 zum Rücktritt als Bundesminister der Verteidigung.
Der Fall war der Beginn einer Reihe von Untersu-
13 Zankl, Plagiate in der Medizin, in Th. Rommel (Hrsg.), Plagiate, Gefahr für die Wissenschaft?, 2011, S. 269, 284.
14 Zur Frage, wie Plagiate rechtlich zu behandeln sind, was hier nur gestreift werden soll, siehe ausführlich Fritsche/Wankerl, Das Plagiat im Recht, in Rommel, Fn 13, S. 159 ff.
15 Kamenz, Abschaffung der Plagiate in Deutschland, in Rommel, Fn.13, S. 87 ff.
chungen auf der Grundlage meist der internetgestützten Untersuchungsplattform vroniplag.wiki.com und in der Folge Anstoß zur Aberkennung des Doktorgrades bei 13 vornehmlich Politikerinnen und Politikern, von Annette Schavan über Brijan Djir-Sarai bis Silvana Koch-Mehring.14
IV. Kontrolle der wissenschaftlichen Arbeiten und Forschungsergebnisse
Für Kamenz15 ist Kernpunkt einer effektiven Plagiatsab- schaffung die nötige Motivation der Professoren, alle Texte auf Plagiate hin zu untersuchen. Dies könne durch Hilfestellung mit einer speziellen, ihnen zur Verfügung gestellten Software geschehen.
Gegen eine flächendeckende Plagiatskontrolle spricht sich Goeckenjahn aus, die darauf hinweist, dass damit, neben einem hohen zeitlichen und finanziellen Aufwand „nur eine simple Plagiatsform entdeckt werden könnte, während Übersetzungs- und Strukturplagiate sowie Pa- raphrasen und die Übernahme aus offline-Quellen uner- kannt blieben.16
Dem widerspricht mit Verve der Rechtswissenschaft- ler Volker Rieble. In seiner Studie „Das Wissenschafts- plagiat“ aus dem Jahre 2010 entwirft er für rechtswissen- schaftliche Arbeiten vor dem Hintergrund von realen Fällen eine lesenswerte Plagiats-Phänomenologie und legt dar, dass die bislang erfolgten Abhilfeversuche letzt- lich nicht fruchteten.
Bezogen auf aufgedeckte Fälle, die in keine straf- rechtlichen Verfahren mündeten, sei es regelmäßig bei einer „wissenschaftskulturellen Zurückhaltung“ geblie- ben.17 Ihm zufolge bezwecke das regelmäßig einschlägi- ge Urheberrecht nicht den Schutz der wissenschaftlichen Redlichkeit, als vielmehr das Verwertungsrecht eines Werks. Der urheberrechtliche Verbraucherschutz be- gnüge sich also mit der durch die Urheberbenennung übernommenen „wissenschaftlichen Verantwortung“ für den Text: „ein möglicher anderer geistiger Urheber bleibe dabei außen vor“.18
Letztlich – so Riebles Einschätzung – führen die zu- vor erwähnten Spezifika einer Plagiatsahndung dazu, dass die Plagiatoren „nicht scharf angegangen werden“; er meint plakativ: „Ans Leder geht es keinem“.
16 Goeckenjahn, „Wissenschaftsbetrug“ als Straftat?“ in JZ 2014, 724, 732.
17 Rieble, Das Wissenschaftsplagiat. Vom Versagen eines Systems, 2010, S. 57 ff.
18 Rieble, ebda, S. 61 unter Rekurs auf Rehbinder in Festschrift Pedrazzim zum 65.Geburtstag, 1990, S. 651.
Rommelfanger · Von der Guten Wissenschaft zum wissenschaftlichen Fehlverhalten 2 2 3
Dies effizient zu ändern ist für Rieble das Gebot der Stunde. Denn die Plagiatsabwehr erfolgt „halbherzig oder gar nicht“. Dies selbst bei aufgedeckten Plagiaten, die in der Tagespresse thematisiert werden. Es finde kei- ne „Selbstreinigung“ statt. Nachgewiesene Plagiatoren „agieren ungehemmt weiter als Autoren und Herausge- ber, finden Mitautoren und Verlage“19.
V. Abhilfe
Zur Frage der Abhilfe reichen die Vorschläge von der Plagiatsprävention bereits in der Sekundarstufe II bei der sog. digitalen Schulgeneration mittels einer Software, die jene Textstellen einer Arbeit, die dem Internet entnom- men worden sind, identifizieren20 über pädagogische Ansätze neben didaktischen Innovationen und Weiter- bildung21 oder der Propagierung eines erfolgreichen Zusammenschlusses in Forschung und Lehre durch einen vertrauensvollen Umgang statt der Etablierung einer Kultur des Misstrauens durch die Einführung von Kontrollen22 bis zur Annahme des Ehrencodex der DFG, Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis mit insgesamt 19 Leitlinien.23
In die Hochschulorganisation selbst weist der Ruf von Thomas Ott nach Entschleunigung und Verbesse- rung der Rahmenbedingungen für den wissenschaftli- chen Nachwuchs in Deutschland durch Wiederbelebung des wissenschaftlichen Mittelbaus in einer modernen und kompetitiven Form.24
Dass diese Maßnahmen geeignet sind, die Vielzahl von wissenschaftlichem Fehlverhalten einzudämmen, darf gleichwohl bezweifelt werden. Gerhard Fröhlich, Lehrstuhl-Inhaber an der Universität Linz, der als inter- national angesehener Experte für Kommunikation und Fehlverhalten in der Wissenschaft gilt, äußert sich sehr skeptisch:
„Sanktionen erwachsen aus diesem System selten. Meist kommen überführte Fälscher mit einer Ermah- nung davon. In seltenen Ausnahmefällen dürfen sie bei der DFG für einige Jahre keinen Förderantrag mehr stel- len. Kündigung und Entzug der Lehrbefugnis oder des akademischen Grades stehen zwar in den Richtlinienpa- pieren, kommen aber fast nie zum Einsatz“.25 Für Rieble verspricht nur zweierlei Abhilfe: Ausgehend
19 Ebda, S. 109.
- 20 Dazu Ludwig, Plagiatsprävention, in: Rommel, Fn. 13, S. 73 ff.
- 21 Althaus, Disziplinierung und Teaching Moment in: Rommel,Fn. 13, S. 100 ff.
- 22 Goeckenjahn, Fn.17.
- 23 https://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/rechtliche_rah-menbedingungen/gute_wissenschaftliche_praxis/kodex_gwp.pdf,
– von einem erweiterten Plagiatsbegriff, „der – anders als das Urheberrecht – nicht das Opfer schützt“, wird der Täter rechtlich ins Visier genommen. Als Autor darf sich „nur derjenige gerieren, von dem der kon- krete wissenschaftliche Text auch stammt“. Geschul- det ist also ein Herkunftsnachweis, der durch wis- senschaftlich sauberes Zitieren erfüllt wird. Ghost- writing ist unzulässig.
– davon, dass auch eine stärkere Verrechtlichung nur dann hilft, wenn der Dienstherr bzw. Arbeitgeber der Wissenschaftler auch tatsächlich Sanktionen ergreifen, könne eine „Selbstreinigung“ der Wissen- schaft erfolgen, sei es durch die wissenschaftsöffent- liche Diskussion der Plagiate unter Nennung von Täter und Opfer neben expliziter Zitierung der betroffenen Werke.
Bei Ergreifung dieser Maßnahmen stehe in der Tat zu erwarten, dass das Wahrhaftigkeitsvertrauen in der wis- senschaftlichen Gemeinschaft wieder hergestellt wird.26 Insoweit sei auch auf das BVerwG hingewiesen, das zur Entziehung des Doktorgrades ausführte, dass zum Schutz des „…wissenschaftlichen Prozesses vor Irrefüh- rung eine Korrektur in Form der Entziehung vorgenom- men werden“ müsse.27
VI. Ausblick
Ob es, wie der Hochschulverband im Sommer des Jahres 2012 forderte, rechtspolitisch ratsam ist, einen eigenen Straftatbestand zu schaffen, darf bezweifelt werden. Es besteht keine (Strafbarkeits-)Lücke. Die Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung, man habe die Arbeit selbst verfasst, ist bereits grundsätzlich geeignet, eine tat- bestandlich falsche Versicherung an Eides Statt gem. § 156 StGB zu prüfen und zu begründen.
Demgegenüber von Wissenschaftsbetrug zu spre- chen, mag zwar einem landläufigen Sprachgebrauch ent- sprechen, verfehlt aber den jedem strafrechtlich relevan- ten Betrug wesenseigenen Vermögensschaden. Der Be- griff des „Sportbetrugs“ mag insoweit „Pate stehen“. Der Erlanger Strafrechtler Hans Kudlich, der sich intensiv mit dem „Sportbetrug“ durch Doping auseinandersetz- te, hält eine Kriminalisierung für ungeeignet angesichts der möglichen denkbaren Reaktionen der Sportverbän-
zuletzt abgerufen am 10.09.2023.
24 Ott, in: Spieker/Manzeschke, Gute Wissenschaft (Fn.7), S. 231 f. 25 Aus: Sendung „Betrug in der Wissenschaft“ von S. Billing und
Petra Geist vom 25.02.2016, Deutschlandfunk. 26 Rieble, ebda, S. 109 f.
27 BVerwG- 6 C 9.12 — vom 31.7.2013.
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de28, womöglich ein Gedanke, der sich auch im Hinblick auf die Reaktionsfähigkeit des Wissenschaftsbetriebs ak- tivieren ließe.
Da eine Evaluation der Erfahrungen mit der mittler- weile häufig erfolgten Professionalisierung des lokalen Ombudswesen ebenso noch aussteht wie mit „redlichen Whistleblowern“, spricht bei der Wissenschaft einiges für eine ihr affine spezifische Selbstkontrolle im Wege z. B. der Intensivierung und konsequenten Durchführung der internen Verfahren und einem Weniger des „Wegschauens“.
Mit dieser Zusammenstellung von Literatur und Rechtsprechung zum wissenschaftlichen Fehlverhalten soll es sein Bewenden haben. Einer gesonderten Darstel- lung könnte es vorbehalten bleiben, noch der Frage der Verschränkung von Politikberatung durch Wissenschaft
ebenso nachzugehen, wie der verstärkt auftretenden Fra- ge nach der in der Praxis bedeutsamen und zunehmen- den Verlagerung exekutiver Aufgaben auf nicht direkt demokratisch legitimierte Wissenschaftliche Beiräte (wie z.B. neben dem Gemeinsamen Bundesausschuss auch den Wissenschaftlichen Beirat für Psychotherapie gem. § 8 PsychThG im Medizin-Bereich)29.
Prof. Dr. Ulrich Rommelfanger ist in eigener Kanzlei
Fachanwalt für Verwaltungs-und Medizinrecht in Wies- baden.
28 Kudlich, in: Dreier/Ohly (Hrsg.), Plagiate, Wissenschaftsethik und Recht, 2013, S. 117 ff.
29 Zur demokratischen Legitimation des Gemeinsamen Bundesaus-
schusses ausführlich Sodan/Hadank, Demokratische Legitimation des GBA, Deutsches Institut für Gesundheitsrecht, 2017.
Am 01.01.2022 ist das Gesetz zur Gründung der Hessi- schen Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit vom 30.09.2021 in Kraft getreten.1 Dieses Gesetz bedeutet eine umfassende Reorganisation für die Polizei- und Verwaltungsausbildung im Land Hes- sen (I.). Die ehemals als Polizeibehörde2 bestehende Polizeiakademie Hessen3, das bisherige Referat Zentrale Fortbildung Hessen4 im Hessischen Ministerium des Innern und für Sport5 sowie die Hessische Hochschule für Polizei und Verwaltung6 sind in der Hochschule für öffent- liches Management und Sicherheit7 aufgegangen. Für die neue HöMS hat der Landesgesetzgeber eine Hochschul- organisation sui generis erdacht. Der Einfluss der Profes- soren auf die Zusammensetzung der sie vertretenden Statusgruppe in den Hochschulgremien unterschreitet das verfassungsrechtlich erforderliche Maß erheblich (III., 1.). Der Einfluss des HMdIS auf die Bestellung und Abberufung der Leitungspersonen der HöMS schränkt das hochschulische Selbstverwaltungsrecht über Gebühr ein (III., 2.). Das Kuratorium der HöMS ermöglicht in verfassungswidriger Weise Einflussnahme durch staats- nahe Akteure (III., 3.). In der Gesamtschau stehen zahl- reiche organisationsrechtliche Vorschriften des Gesetzes zur Gründung der HöMS im Widerspruch mit dem lan- desverfassungsrechtlich garantierten Selbstverwaltungs- recht der Hochschulen (II., 2.) sowie der Wissenschafts- freiheit (II., 3.). Es ist zu erwarten, dass der Landesge- setzgeber das Organisationsrecht der HöMS – spätestens nach einer Entscheidung des Hessischen Staatsgerichts- hofs in einem laufenden Normenkontrollverfahren8 – wird modifizieren müssen. Sinnvoll erscheint im Grund- satz eine Ausgestaltung als Hochschule für angewandte Wissenschaften i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 3 HessHG (IV.).
- 1 GVBl. 2021, S. 622; berichtigt durch GVBl. 2021, S. 675; abwei- chend sind Art. 1 und 4 Nr. 2 des Gesetzes gemäß Art. 10 Satz 2 des Gesetzes bereits am Tag nach der Verkündung – dem 12.10.2021 – in Kraft getreten; siehe außerdem das Gesetz zur Neuregelung und Änderung hochschulrechtlicher Vorschriften und zur Anpassung weiterer Rechtsvorschriften vom 14.12.2021, GVBl. 2021, S. 931.
- 2 § 91 Abs. 2 Nr. 2 lit. e HSOG i.d.F. vom 23.08.2018.
- 3 Im Folgenden: HPA.
4 Im Folgenden: ZFH.
5 Im Folgenden: HMdIS.
6 Im Folgenden HfPV.
7 Im Folgenden: HöMS.
I. Gründungsgeschichte der HöMS
1. Organisation der Polizei- und Verwaltungsausbildung bis zum 31.12.2021
Bis zum 31.12.2021 war die akademische und praktische Ausbildung, insbesondere der Anwärter für den Polizei- vollzugsdienst, nahezu vollständig an der HfPV als nicht-rechtsfähiger Anstalt des Landes Hessen angesie- delt.9 Die Anwärter erlangten etwa „unter Beachtung der einschlägigen Dienstvorschriften praktische Kenntnisse über Waffen, Gerät und das Schießen“10. Sie sollten „die dienstlich zugelassenen Schusswaffen sicher und schnell handhaben, treffsicher schießen sowie auftretende Stö- rungen erkennen und folgerichtig handeln können“11. In akademischer Hinsicht beinhaltete die Ausbildung z.B. das Modul S 1.2 „Polizei in Staat und Gesellschaft“, des- sen Inhalte die Verfassung und der Rechtsstaat sowie das Beamtenverhältnis waren.12 Die HPA fungierte – im Gegensatz zur HfPV als Stätte erstmaliger Ausbildung – vor allem als Fort- und Weiterbildungsstätte für die Poli- zei des Landes Hessen. Ferner war der Zentrale Polizei- psychologische Dienst an der HPA angesiedelt. Anwär- ter begegneten der HPA als Einstellungsbehörde sowie, für den Zeitraum ihrer Ausbildung, als Dienstherrin i.S.v. § 2 HBG, § 2 BeamtStG. Die ZFH war, wie die HPA, in der Fort- und Weiterbildung aktiv. Allerdings richte- ten sich die Angebote der ZFH nicht ausschließlich an die Polizei, sondern an alle Landesbediensteten. Zum Beispiel konzipierte und organisierte die ZFH die Füh- rungsfortbildung.13
Nicht nur organisatorisch, sondern auch hinsichtlich der Rechtssetzung waren die hochschulischen und poli- zeilichen Aufgaben der Aus- und Fortbildungsstätten
8 HessStGH, P.St. 2891.
9 §§ 1 Abs. 3, 2 Abs. 1 Satz 1 VerwFHG a.F. vom 28.09.2015.
10 Modulbuch für den Studiengang Bachelor of Arts „Schutzpolizei“
der HfPV vom 20.09.2016, S. 30.
11 Modulbuch für den Studiengang Bachelor of Arts „Schutzpolizei“
der HfPV vom 20.09.2016, S. 30.
12 Modulbuch für den Studiengang Bachelor of Arts „Schutzpolizei“
der HfPV vom 20.09.2016, S. 15.
13 Fortbildungskonzept 2018 für die Hessische Landesverwaltung,
Erlass vom 25.08.2017 (StAnz. 37/2017, S. 876); berichtigt durch Fortbildungskonzept 2018 für die Hessische Landesverwaltung, Erlass vom 15.09.2017 (StAnz. 40/2017, S. 951).
Samuel Weitz
Die neue Hessische Hochschule für öffentliches Ma- nagement und Sicherheit: Hochschulorganisation sui generis – auf Kosten der Wissenschaftsfreiheit
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
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von Polizei und Verwaltung im Land Hessen bis zum 31.12.2021 klar getrennt: Die Bestimmungen über die HfPV waren im VerwFHG normiert, die der HPA im HSOG und die der ZFH u.a. in einem ministeriellen Erlass14.
2. Reformbestrebungen und Gesetzentwürfe
Der politische Wille, die drei Aus- und Fortbildungsstät- ten HfPV, HPA und ZFH zusammenzuführen, wurzelt im Koalitionsvertrag zwischen der CDU Hessen und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hessen vom 23.12.2013 für die 19. Wahlperiode des Hessischen Landtags. Die Koali- tionspartner hatten vereinbart, „die Einbindung der Ver- waltungsfachhochschulen des Landes in das Wissen- schaftssystem [zu] stärken“15. Konkreter fassten die glei- chenKoalitionspartnerihrVorhabenimnächstenKoali- tionsvertrag vom 23.12.2018 für die 20. Wahlperiode des Hessischen Landtags: Sie „wollen […] eine[r] Verwal- tungsfachhochschule schaffen, in der auch HfPV, HPA und die Zentrale Fortbildung aufgehen“16. Mehr als sie- ben Jahre nach der erstmaligen Erwähnung in einem Koalitionsvertrag legte die hessische Landesregierung am 10.05.2021 schließlich den ersten Gesetzentwurf zur Gründung der HöMS vor.17
Mit der Gründung der HöMS hat die hessische Lan- desregierung im Wesentlichen drei Ziele verfolgt: Ers- tens sollte die Nachwuchsgewinnung für Polizei und Verwaltung gefördert werden.18 Zweitens sollten Syner- gien zwischen akademischen und praktischen Aspekten der Polizeiausbildung gehoben werden.19 Drittens beab- sichtigte die Landesregierung die Stärkung des Wissen-
14 Fortbildungskonzept 2018 für die Hessische Landesverwaltung, Erlass vom 25.08.2017 (StAnz. 37/2017, S. 876); berichtigt durch Fortbildungskonzept 2018 für die Hessische Landesverwaltung, Erlass vom 15.09.2017 (StAnz. 40/2017, S. 951).
15 Koalitionsvertrag zwischen der CDU Hessen und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Hessen für die 19. Wahlperiode des Hessischen Landtags vom 23.12.2013, S. 72, Rn. 3377 f.
16 Koalitionsvertrag zwischen der CDU Hessen und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Hessen für die 20. Wahlperiode des Hessischen Landtags vom 23.12.2018, S. 135.
17 LT-Drs. 20/5722.
18 LT-Drs. 20/5722, S. 19. 19 LT-Drs. 20/5722, S. 19.
- 20 LT-Drs. 20/5722, S. 19.
- 21 v. Bebenburg, Gießener Allgemeine, Sorge um Freiheit der Wissen-schaft, 04.08.2021, https://www.giessener-allgemeine.de/hessen/ sorge-um- freiheit-der-wissenschaft-90902481.html [zuletzt abgerufen am 14.08.2023]; Ogorek, Legal Tribune Online, Reform der Hessischen Polizeihochschule: Mehr Wissenschaft wagen, 20.08.2021, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/reform- hochschule-fuer-polizei-und-verwaltung-hessen-gesetzentwurf- verfassungsrecht-trennung-rechtsaufsicht-fachaufsicht-selbstver- waltung/ [zuletzt abgerufen am 14.08.2023].
- 22 Ausschussvorlage INA 20/35, WKA 20/25, Stellungnahmen der Anzuhörenden zur gemeinsamen mündlichen Anhörung des
schaftssystems in Hessen.20 Dass diese hehren Ziele durch das Gesetz zur Gründung der HöMS nicht zu er- reichen sein werden, ist mehr Politikum als Rechtsfrage. Verfassungsrechtlich virulent ist vielmehr das hoch- schulorganisatorische Gefüge der HöMS.
Sowohl in den Medien21 als auch in den Stellungnahmen der Sachverständigen im Rahmen der gemeinsamen Anhörung von Innenausschuss und Ausschuss für Wis- senschaft und Kunst des Hessischen Landtags22 wurde der Gesetzentwurf vom 10.05.2021 deutlich kritisiert und vielfach als verfassungswidrig bezeichnet. Zu diesem Urteil kamen die Sachverständigen insbesondere, weil sie das hochschulische Selbstverwaltungsrecht und die Wissenschaftsfreiheit verletzt sahen.23 Infolgedessen haben die Regierungsfraktionen von CDU und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN den Gesetzentwurf vom 10.05.2021 geringfügig modifiziert und am 15.09.2021 einen entsprechenden Änderungsantrag im Hessischen Landtag eingebracht.24 Dort wurde das Gesetz zur Grün- dung der HöMS schließlich am 30.09.2021 beschlos- sen.25 Die wesentlichen Vorschriften dieses Gesetzes sind am 01.01.2022 in Kraft getreten und haben die – auch nach dem Nachjustieren qua Änderungsantrag – fundamentaler Kritik26 ausgesetzte Gründung der HöMS besiegelt.
3. Status quo
Die HöMS ist eine Hybride. Sie ist eine rechtsfähige Kör- perschaft des öffentlichen Rechts (§ 1 HessHG) und zugleich – bei Erfüllung ihrer polizeilichen Aufgaben – eine Polizeibehörde (§ 91 Abs. 2 Nr. 2 lit. e HSOG). Zum
Innenausschusses und des Ausschusses für Wissenschaft und Kunst zum Entwurf der hessischen Landesregierung für ein Ge- setz zur Gründung der HöMS (LT-Drs. 20/5722), 08.07.2021 und 14.07.2021; Stenografischer Bericht INA 20/46, WKA 20/29, Öf- fentliche Anhörung des Innenausschusses und des Ausschusses für Wissenschaft und Kunst zum Entwurf der hessischen Landesregie- rung für ein Gesetz zur Gründung der HöMS (LT-Drs. 20/5722), 15.07.2021.
23 Z.B. Fehling, in: Stenografischer Bericht INA 20/46, WKA 20/29, Öffentliche Anhörung des Innenausschusses und des Ausschus- ses für Wissenschaft und Kunst zum Entwurf der hessischen Landesregierung für ein Gesetz zur Gründung der HöMS (LT-Drs. 20/5722), 15.07.2021, S. 13.
24 LT-Drs. 20/6389.
25 GVBl. 2021, S. 622; berichtigt durch GVBl. 2021, S. 675; siehe auch
das Gesetz zur Neuregelung und Änderung hochschulrechtlicher Vorschriften und zur Anpassung weiterer Rechtsvorschriften vom 14.12.2021, GVBl. 2021, S. 931.
26 Z.B. Ogorek, Hessische Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit: Verpasste Chancen, geschwächte Wissenschaft, DP 2022, 89; v. Bebenburg, Frankfurter Rundschau, Neue hessische Hochschule stößt auf massive Kritik, 01.10.2021, https://www.fr.de/ rhein-main/landespolitik/neue-hessische-hochschule-stoesst-auf- massive-kritik-91027133.html [zuletzt abgerufen am 14.08.2023].
Weitz · Die neue Hessische Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit 2 2 7
einen ist die HöMS in den Fachbereichen Polizei und Verwaltung zuständig für die Aus- und Fortbildung des Nachwuchses des gehobenen allgemeinen Verwaltungs- dienstes und des gehobenen Polizeivollzugsdienstes sowie der zur Ausbildung für den gehobenen allgemei- nen Verwaltungsdienst zugelassenen Tarifbeschäftigten des Landes, der Gemeinden, Gemeindeverbände und sonstigen der Aufsicht des Landes unterstehenden Kör- perschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts (§ 4 Abs. 5 Satz 1 HessHG). Zum anderen über- nimmt die HöMS als Auftragsangelegenheit die Zentrale Fortbildung der Beschäftigten der hessischen Landes- verwaltung (§ 101 Abs. 2 HessHG). Zu den polizeilichen Aufgaben der HöMS gemäß § 95 Abs. 2 HSOG zählen wiederum z.B. die polizeiliche Aus- und Fortbildung aller Polizeibediensteten des Landes bis auf die berufli- che Grundqualifizierung des gehobenen Dienstes sowie – ab dem 01.11.2023 – die Aus- und Fortbildung der Spe- zialeinheiten (Nr. 1). Ferner leistet die HöMS gemäß § 95 Abs. 2 HSOG polizeipsychologische Dienste (Nr. 4) und ist verantwortlich für das Nachwuchsmanagement sowie die Einstellung von Polizeianwärterinnen und ‑anwärtern (Nr. 2).
NachdemschonimGesetzgebungsverfahrenZweifel an der Vereinbarkeit des Gesetzes mit Art. 60 Abs. 1 Satz 2 und Art. 10 HessVerf aufgekommen waren, initi- ierten die Oppositionsfraktionen von SPD und FDP im Hessischen Landtag nach Inkrafttreten des Geset- zes ein abstraktes Normenkontrollverfahren gemäß Art. 132 HessVerf i.V.m. §§ 39, 40 StGHG. Sie beantrag- ten die Feststellung, dass einzelne Vorschriften, die die Organisation der HöMS betreffen, mit der HessVerf im Widerspruch stehen und nichtig sind.27 Mit einer Ent- scheidung des Hessischen Staatsgerichtshofs ist im Laufe der kommenden Monate zu rechnen.
II. Verfassungsrechtliche Grundlagen
1. Verfassung des Landes Hessen als Prüfungsmaßstab
a) Relevantes Landesverfassungsrecht
Gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 2 HessVerf haben die Univer- sitäten und staatlichen Hochschulen das Recht der Selbstverwaltung, an der die Studierenden zu beteiligen
27 HessStGH, P.St. 2891.
28 Rupp, in: Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft (FS
Unruh), 1983, S. 919, 920; Hillermann, Die Durchsetzung des Hochschulselbstverwaltungsrechts vor dem Bundesverfassungsge- richt und den Landesverfassungsgerichten, 2000, S. 57, 70.
29 Siehe Art. 28 Abs. 1 ThürVerf, Art. 107 Abs. 2 Satz 2 SächsVerf, Art. 39 Abs. 1 Satz 2 RhPfVerf, Art. 33 Abs. 2 Satz 2 SaarlVerf, Art. 138 Abs. 2 Satz 2 BayVerf, Art. 32 Abs. 1 BdbgVerf.
sind. Art. 10 HessVerf garantiert die Wissenschaftsfrei- heit: Niemand darf in seinem wissenschaftlichen Schaf- fen und in der Verbreitung seiner Werke gehindert wer- den. Art. 10 HessVerf und Art. 60 Abs. 1 Satz 2 HessVerf stehen in einem engen inhaltlichen Zusammenhang: Das hochschulische Selbstverwaltungsrecht ist eine spe- zielle Ausprägung der Freiheit von Wissenschaft, For- schung und Lehre. Das Selbstverwaltungsrecht soll die- sen Freiheiten zur Entfaltung verhelfen und dient den Hochschulen zur Wahrung ihrer Autonomie.28
Dass das hochschulische Selbstverwaltungsrecht nicht als Teil der Wissenschaftsfreiheit verstanden, son- dern eigenständig im Wortlaut der Verfassung garantiert wird, ist kein hessisches Spezifikum. Mit Ausnahme der Bundesländer Berlin, Hamburg, Bremen und Schleswig- Holstein enthalten alle Landesverfassungen eine Norm, die – wie Art. 60 HessVerf – grundlegend die verfas- sungsrechtliche Stellung von Hochschulen regelt. Kon- kret das hochschulische Selbstverwaltungsrecht hat in zwölf Bundesländern ausdrücklich Verfassungsrang, z.B. gemäß Art. 20 BWVerf, Art. 138 BayVerf, Art. 5 Abs. 3 NdsVerf sowie Art. 16 NRWVerf. Die Betei- ligung der Studierenden an der hochschulischen Selbst- verwaltung schreiben neben dem Land Hessen (Art. 60 Abs. 1 Satz 2 Hs. 2 HessVerf) sechs weitere Bun- desländer in unterschiedlichem Umfang fest.29
b) Verhältnis von HessVerf und GG
Auf Bundesebene ist die verfassungsrechtliche Stellung von Hochschulen – anders als die Wissenschaftsfreiheit i.S.v. Art. 10 HessVerf – im Wortlaut der Verfassung nicht ausdrücklich festgeschrieben. Es existiert keine Art. 60 HessVerf unmittelbar entsprechende Norm im GG.30 Die Freiheit von Kunst und Wissenschaft sowie Forschung und Lehre ist in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nor- miert – ohne die hochschulische Perspektive auf Wissen- schaft gesondert zu adressieren. Art. 5 Abs. 3 GG enthält neben dem individuellen Wissenschaftsfreiheitsrecht allerdings auch eine objektive Wertordnung: Es handelt sich um eine „das Verhältnis von Wissenschaft, For- schung und Lehre zum Staat regelnde wertentscheiden- de Grundsatznorm“31, die somit auch die hochschulische Selbstverwaltung betrifft.32
30 Meister, in: PdK – Hessen, Verfassung des Landes Hessen, 7. Fas- sung 2020, Art. 60 Rn. 1.
31 BVerwG 25.11.1977 – VII C 25.76 – BVerwGE 55, 73, Rn. 11 ff.; vgl. auch BVerfG 29.05.1973 – 1 BvR 424/71 – BVerfGE 35, 79, Ls. 2.
32 Kempen, in: BeckOK GG, 55. Edition vom 15.05.2023, Art. 5 Rn. 188; Hillermann, Die Durchsetzung des Hochschulselbstverwal- tungsrechts vor dem Bundesverfassungsgericht und den Landes- verfassungsgerichten, 2000, S. 107 ff. m.w.N.
228 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 225–234
Grundsätzlich wird Landesrecht gemäß Art. 31 GG durch Bundesrecht gebrochen. Ausnahmsweise bleiben gemäß Art. 142 GG Bestimmungen der Landesverfas- sungen insoweit in Kraft, als sie in Übereinstimmung mit Art. 1–18 GG Grundrechte gewährleisten.33 Zwar er- scheint die Gewährleistung des hochschulischen Selbst- verwaltungsrechts in den Landesverfassungen dem Bun- desverfassungsgericht „dort neben der Garantie der Wissenschaftsfreiheit als etwas Zusätzliches“34. Gleich- wohl folgert das Bundesverfassungsgericht aus Art. 5 Abs. 3 GG das verfassungsrechtliche Gebot mög- lichst freiheitlicher Strukturen an Hochschulen35 und hält für verfassungsrechtlich erforderlich, dass der Ge- setzgeber ein „hinreichendes Maß an organisatorischer Selbstbestimmung der Grundrechtsträger sicherstellt“.36 Die bundesverfassungsgerichtliche Interpretation der grundgesetzlichen Wissenschaftsfreiheit lässt den Schluss zu, dass das hochschulische Selbstverwaltungs- recht aus Art. 60 Abs. 1 Satz 2 HessVerf sämtlich Art. 5 Abs. 3 GG implizit zu entnehmen ist.37 Zwischen Art. 60 Abs. 1 Satz 2 HessVerf einerseits sowie Art. 5 Abs. 3 GG andererseits besteht folglich zwar keine Textidentität, aber das erforderliche „Mindestmaß an Homogenität“38, also Übereinstimmung i.S.v. Art. 142 GG. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 HessVerf ist vom Gel- tungsvorrang des Bundesrechts unberührt und in Kraft.39 Gleiches gilt für Art. 10 HessVerf, der in Über- stimmung mit Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG die Wissenschafts- freiheit gewährleistet.40
2. Art. 60 Abs. 1 HessVerf
a) Institutionelle Garantie der Hochschulen
Art. 60 Abs. 1 HessVerf stellt die Universitäten und staat- lichen Hochschulen unter den Schutz, aber auch unter die Aufsicht des Staates und räumt ihnen das Recht der
33 Zu Art. 142 GG im Kontext der HessVerf HessStGH 30.12.1981 – P.St. 880 – NJW 1982, 1381; Schrodt, Die Rechtsprechung des Hes- sischen Staatsgerichtshofs zu den Grundrechten der Hessischen Verfassung, 1984, S. 9.
34 BVerfG 29.05.1973 – 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 – BVerfGE 35, 79, 120.
35 BVerfG 29.05.1973 – 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 – BVerfGE 35, 79, 123 f.
36 BVerfG 20.07.2010 – 1 BvR 748/06 – BVerfGE 127, 87, 116.
37 So allgemein in Bezug auf die Landesverfassungen auch Kempen,
in: BeckOK GG, 55. Edition vom 15.05.2023, Art. 5 Rn. 192; zurückhaltender in Bezug auf NRWVerf Günther, in: Heusch/ Schönenbroicher (Hrsg.) NRWVerf, 2. Auflage 2019, Art. 16 Rn. 6; differenziert Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Bd. I, 100. EL Januar 2023, Art. 5 Abs. 3 Rn. 274; a.A. wohl Hillermann, Die Durchsetzung des Hochschulselbstverwaltungsrechts vor dem
Selbstverwaltung unter Beteiligung der Studierenden ein. Art. 60 Abs. 1 Satz 1 HessVerf beinhaltet eine institu- tionelle Gewährleistung von staatlichen Hochschulen.41 Der Verfassungsgesetzgeber garantiert ihr Fortbestehen als organisatorische Institution – ohne das Fortbestehen einzelner Hochschulen individuell zuzusichern. Aus dieser institutionellen Garantie folgt ein Abwehr- recht der Hochschulen bei ungerechtfertigten Ein- griffen in ihren Rechtsbestand.42 Andererseits gibt Art. 60 Abs. 1 Satz 1 HessVerf dem Landesgesetzgeber gerade auf, wissenschaftsrelevante Gemeinwohlbelange im Hochschulsystem einer sich wandelnden Gesellschaft fortwährend neu zu definieren und in Gestalt von Orga- nisations- und Verfahrensregelungen abwägend zur Gel- tung zu bringen.43 Der Landesgesetzgeber muss die Hochschulen also – auch hinsichtlich ihrer Binnenstruk- tur – regelmäßig den Zeitbedürfnissen anpassen. Hier- bei hat der Landesgesetzgeber grundsätzlich einen gro- ßen hochschulorganisatorischen Spielraum:
„Solange der Gesetzgeber ein […] hinreichendes Maß an organisatorischer Selbstbestimmung der Grund- rechtsträger sicherstellt, ist er frei, den Wissenschafts- betrieb nach seinem Ermessen zu regeln, um die unter- schiedlichen Aufgaben der Wissenschaftseinrichtungen und die Interessen aller daran Beteiligten in Wahrneh- mung seiner gesamtgesellschaftlichen Verantwortung in angemessenen Ausgleich zu bringen […]. Er ist dabei nicht an überkommene hochschulorganisatorische Strukturen gebunden. Er darf neue Modelle und Steu- erungstechniken entwickeln und erproben und ist so- gar verpflichtet, bisherige Organisationsformen zu be- obachten und zeitgemäß zu reformieren […]. Ihm ste- hen dabei gerade hinsichtlich der Eignung neuer Orga- nisationsformen ein Einschätzungs- und Prognosespielraum zu.“44
Bundesverfassungsgericht und den Landesverfassungsgerichten,
2000, S. 131 f.
38 BVerfG 29.01.1974 – 2 BvN 1/69 – BVerfGE 36, 342, 361.
39 Germann, in: BeckOK GG, 55. Edition vom 15.05.2023, Art. 142 Rn.
15–24.
40 Stein, in: Zinn/Stein (Begr.), Verfassung des Landes Hessen, 16.
EGL, 1999, Bd. I, Art. 10 Anm. 1; Kallert, in: PdK – Hessen, Verfas-
sung des Landes Hessen, 7. Fassung 2020, Art. 10 Rn. 1.
41 Stein, in: Zinn/Stein (Begr.), Verfassung des Landes Hessen, 16.
EGL, 1999, Bd. I, Art. 60 Anm. 2.
42 In Bezug auf die parallele Vorschrift in der NRWVerf Löwer, in:
Löwer/Tettinger (Hrsg.) NRWVerf, Art. 16 Rn. 21.
43 Fehling, Neuorganisation der Polizeihochschulen und Wissen-
schaftsfreiheit, OdW 2014, 113, 117.
44 BVerfG 20.07.2010 – 1 BvR 748/06 – BVerfGE 127, 87, Rn. 116
m.w.N.
Weitz · Die neue Hessische Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit 2 2 9
b) Hochschulisches Selbstverwaltungsrecht
Das Recht des Gesetzgebers, die Hochschul- organisation auszugestalten, endet dort, wo das hochschulische Selbstverwaltungsrecht gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 2 HessVerf beginnt. Der Begriff Selbst- verwaltungsrecht ist verfassungsrechtlich nicht allge- meingültig zu definieren.45 Selbstverwaltung im Recht ist vielmehr kontextabhängig und im Lichte des jeweili- gen Regelungszusammenhangs zu interpretieren.46 Bei Art. 60 Abs. 1 Satz 2 HessVerf handelt es sich – wegen der funktionalen Bezüge zu Forschung und Lehre – um ein auf die akademischen Angelegenheiten beschränktes Selbstverwaltungsrecht.47 Akademische Angelegenhei- ten sind solche, die zum „Kernbereich“48 des Unerlässli- chen für eine freie wissenschaftliche Betätigung der Hochschulen zählen. Hierzu zählt insbesondere das Organisationsrecht der Hochschulen. Indem der Verfas- sungsgesetzgeber den Hochschulen ihre Selbstverwal- tung zugesteht, verzichtet er auf staatseigene Wissen- schaftsverwaltung.49 Die Schwelle zur verfassungswidri- gen Wissenschaftsverwaltung ist überschritten, wenn die freie wissenschaftliche Betätigung strukturell durch das hochschulorganisatorische Gesamtgefüge gefährdet ist.50 Wegen des sensiblen Regelungsgegenstands der Wissenschaftsorganisation hat der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Hochschulorganisationsrechts bereits grundrechtliche Gefährdungslagen zu vermeiden.51 Eine bloß hypothetische strukturelle Gefährdung der freien wissenschaftlichen Betätigung reicht gleichwohl nicht aus, um einen Verfassungsverstoß zu begründen – schließlich wirken sich die meisten hochschulorganisa- torischen Entscheidungen zumindest mittelbar auf das wissenschaftliche Wirken aus.52
Art. 60 Abs. 1 Satz 2 HessVerf schützt alles, was aus organisatorischer Sicht unerlässlich ist, um die Wissen- schaftsfreiheit im hochschulischen Rahmen aufrechtzu- erhalten: „Die Sicherung der Wissenschaftsfreiheit durch organisatorische Regelungen verlangt […], dass die Trä- ger der Wissenschaftsfreiheit durch ihre Vertreter in
45 Im Kontext von Art. 28 Abs. 2 GG BVerwG 27.08.1976 – IV C 97.74 – BVerwGE 51, 115.
46 Gärditz, Hochschulorganisation und verwaltungsrechtliche Sys- tembildung, 2009, S. 392.
47 Stein, in: Zinn/Stein (Begr.), Verfassung des Landes Hessen, 16. EGL, 1999, Bd. I, Art. 60 Anm. 2; Meister, in: PdK – Hessen, Ver- fassung des Landes Hessen, 7. Fassung 2020, Art. 60 Rn. 1.
48 Statt vieler BVerfG 29.05.1973 – 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 – BVerfGE 35, 79.
49 Stein, in: Zinn/Stein (Begr.), Verfassung des Landes Hessen, 16. EGL, 1999, Bd. I, Art. 60, Anm. 3.
50 Fehling, Neuorganisation der Polizeihochschulen und Wissen- schaftsfreiheit, OdW 2014, 113, 117.
Hochschulorganen Gefährdungen der Wissenschafts- freiheit abwehren und ihre fachliche Kompetenz zur Verwirklichung der Wissenschaftsfreiheit in die Univer- sitäteinbringenkönnen.DerGesetzgebermussdaher ein hinreichendes Niveau der Partizipation der Grund- rechtsträger gewährleisten.“53 Ergänzend schreibt Art. 60 Abs. 2 Satz 2 Hs. 2 HessVerf die Beteilung der Studie- renden an der hochschulischen Selbstverwaltung vor.
3. Art. 10 HessVerf
Gemäß Art. 10 HessVerf darf niemand in seinem wissen- schaftlichen oder künstlerischen Schaffen und in der Verbreitung seiner Werke gehindert werden. Angesichts der Pluralität und Revidierbarkeit der Ergebnisse wis- senschaftlicher Bemühungen sowie der Prozesshaftigkeit der individuellen und kollektiven Anstrengungen der Erkenntnisgewinnung und ‑vermittlung sperrt sich der Begriff der Wissenschaft gegen eine einfache Definiti- on.54
Obwohl es sich bei Art. 10 HessVerf – ebenso wie bei Art. 60 Abs. 1 Satz 2 HessVerf – um eigenständige lan- desverfassungsrechtliche Gewährleistungen handelt, die einer autonomen Interpretation durch den Hessischen Staatsgerichtshof unterliegen, können für die Kon- kretisierung der verbürgten Rechte die zu Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG entwickelten bundesverfassungs- gerichtlichen Grundsätze zumindest als Auslegungshil- fen herangezogen werden.55 Somit ist Wissenschaft jede Tätigkeit, die nach Inhalt und Form als ernsthafter plan- mäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzuse- hen ist.56 Im Freiraum der Wissenschaft
„herrscht absolute Freiheit von jeder Ingerenz öffentli- cher Gewalt. In diesen Freiheitsraum fallen vor allem die auf wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit beruhen- den Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen bei dem Auffinden von Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe. Jeder, der in Wissenschaft, Forschung und Lehre tätig ist, hat […] ein Recht auf Abwehr jeder staatlichen Einwirkung auf den Prozeß der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Da-
51 BVerfG 26.10.2004 – 1 BvR 927/00 – BVerfGE 111, 333.
52 BVerfG 26.10.2004 – 1 BvR 927/00 – BVerfGE 111, 333; BVerfG
29.05.1973 – 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 – BVerfGE 35, 79.
53 BVerfG 20.07.2010 – 1 BvR 748/06 – BVerfGE 127, 87.
54 Kallert, in: PdK – Hessen, Verfassung des Landes Hessen, 7. Fas-
sung 2020, Art. 10 Rn. 1 f.
55 In diese Richtung Schmidt, in: Meyer/Stolleis (Hrsg.), Hessisches
Staats- und Verwaltungsrecht, 2. Auflage 1986, S. 20, S. 46 f.; Schrodt, Die Rechtsprechung des Hessischen Staatsgerichtshofs zu den Grundrechten der Hessischen Verfassung, 1984, S. 7.
56 BVerfG 29.05.1973 – 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 – BVerfGE 35, 79, 113.
230 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 225–234
mit sich Forschung und Lehre ungehindert an dem Be- mühen um Wahrheit als ‚etwas noch nicht ganz Ge- fundenes und nie ganz Aufzufindendes‘ (Wilhelm von Humboldt) ausrichten können, ist die Wissenschaft zu einem von staatlicher Fremdbestimmung freien Be- reich persönlicher und autonomer Verantwortung des einzelnen Wissenschaftlers erklärt worden. Damit ist zugleich gesagt, daß [die Wissenschaftsfreiheit] nicht eine bestimmte Auffassung von der Wissenschaft oder eine bestimmte Wissenschaftstheorie schützen will.“57
III. Hochschulorganisation der HöMS
Die Zusammenlegung von HfPV, HPA und ZFH zur HöMS vermengt hochschulische und polizeibehördliche Organisationsstrukturen in verfassungswidriger Weise. Mit der Einrichtung der HöMS als besonderer Hochschule für angewandte Wissenschaften (§ 2 Abs. 1 Nr. 5 HessHG) hat der Gesetzgeber einen Fremdkörper im HessHG geschaffen. Im Einzelnen stehen einige Vorschriften über die organisatori- sche Ausgestaltung der HöMS im Widerspruch zum hochschulischen Selbstverwaltungsrecht (Art. 60 Abs. 1 S. 2 HessVerf) und zur Wissenschaftsfrei- heit (Art. 10 HessVerf). Im Folgenden werden exempla- risch drei Verfassungsverstöße des Gesetzes zur Grün- dung der HöMS untersucht.
1. Zusammensetzung der Statusgruppe der Professoren
Für die Zusammensetzung der hochschulischen Status- gruppen für die Wahl ihrer Vertretung in den Selbstver- waltungsgremien hat das Bundesverfassungsgericht einen spezifischen Maßstab entwickelt: „Soweit grup- penmäßig zusammengesetzte Kollegialorgane über Angelegenheiten zu befinden haben, die Forschung und Lehre unmittelbar betreffen, müssen folgende Grundsät- ze beachtet werden: a) Die Gruppe der Hochschullehrer muss homogen, d.h. nach Unterscheidungsmerkmalen zusammengesetzt sein, die sie gegen andere Gruppen eindeutig abgrenzen […].“58
An der HöMS gilt gemäß § 104 Abs. 2 HessHG für die Wahl ihrer Vertretung in den Gremien § 37 Abs. 3 HessHG entsprechend mit der Maßgabe, dass die Gruppe nach § 37 Abs. 3 Nr. 1 HessHG (Profes- sorengruppe) von den Professoren und Hochschuldo- zenten gebildet wird. Die Anforderungen an die akade-
57 BVerfG 29.05.1973 – 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 – BVerfGE 35, 79, 113.
58 BVerfG 29.05.1973 – 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 – BVerfGE 35, 79, Ls. 8; grundlegend zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsge- richts zu den Maßstäben einer grundgesetzkonformen Hoch-
mische Qualifikation von Hochschuldozenten sind in § 111 Abs. 6 Satz 1–2 HessHG normiert: „Hochschuldo- zentinnen und Hochschuldozenten müssen neben den beamtenrechtlichen Voraussetzungen grundsätzlich ein ihren Lehraufgaben entsprechendes Hochschulstudium, pädagogische Eignung und eine einschlägige berufs- praktische Tätigkeit nachweisen. An die Stelle des abge- schlossenen Hochschulstudiums können berufsprakti- sche Tätigkeiten treten, wenn sie Kenntnisse und Erfah- rungen vermittelt haben, die die Bewerber auf ihrem Fachgebiet befähigen, eine Lehrtätigkeit auszuüben, die derjenigen von Lehrkräften mit abgeschlossenem Hoch- schulstudium entspricht.“ Die Mindestvoraussetzungen für die Einstellung als Professor sind gemäß § 68 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 HessHG „ein abgeschlosse- nes Hochschulstudium, die für die Erfüllung der Aufga- ben nach § 67 Abs. 1 [HessHG] erforderliche Befähigung zu wissenschaftlicher oder künstlerischer Arbeit und die dafür erforderliche pädagogische Eignung. Als Nachweis der Befähigung zu wissenschaftlicher Arbeit gilt in der Regel die Qualität der Promotion; darüber hinaus wer- den nach den Anforderungen der Stelle verlangt: 1. zu- sätzliche wissenschaftliche Leistungen oder 2. besondere Leistungen bei der Anwendung oder Entwicklung wis- senschaftlicher Erkenntnisse und Methoden in einer mindestens fünfjährigen beruflichen Praxis, von der mindestens drei Jahre außerhalb des Hochschulbereichs ausgeübt worden sein müssen.“
Die Gegenüberstellung von Hochschuldozenten und Professoren zeigt, dass das HessHG signifikant niedrige- re Anforderungen an die akademische Qualifikation von Hochschuldozenten stellt. Insbesondere müssen Hoch- schuldozenten nicht über einen Nachweis der wissen- schaftlichen Befähigung verfügen und können sogar ein Hochschulstudium durch Praxiserfahrung ersetzen. Ne- ben den Einstellungsvoraussetzungen unterscheiden sich auch die hochschulpolitischen Interessen von Pro- fessoren einerseits und Hochschuldozenten andererseits erheblich. § 104 Abs. 2 HessHG bildet somit eine äußerst heterogene Statusgruppe der Professoren, die den verfas- sungsrechtlichen Anforderungen59 nicht genügt.
Besonders problematisch ist die Vertretung der Professorengruppe i.S.v. § 37 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 104 Abs. 2 HessHG im Senat, dem Herzstück der akademischen Selbstverwaltung. Gemäß § 42 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 HessHG sind neun Mitglieder der
schulorganisation Würtenberger, Zur Verfassungsmäßigkeit der Regelungen der Hochschulleitung im Landeshochschulgesetz von Baden-Württemberg, OdW 2016, 1, 2 ff.
59 BVerfG 29.05.1973 – 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 – BVerfGE 35, 79, Ls. 8.
Weitz · Die neue Hessische Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit 2 3 1
Professorengruppe im Senat vertreten, die dort die Mehrheit bilden. Der Senat nimmt wichtige Aufgaben der hochschulischen Selbstverwaltung wahr: Er berät in Angelegenheiten von Forschung, Lehre und Studium, die die gesamte Hochschule betreffen und von grund- sätzlicher Bedeutung sind (§ 42 Abs. 1 Satz 1 HessHG). Ferner überwacht der Senat die Geschäftsführung des Präsidiums (§ 42 Abs. 1 Satz 2 HessHG) und ist zuständig für die Beschlussfassung über die Grundord- nung im Einvernehmen mit dem Präsidium (§ 42 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Var. 1 HessHG). Dass die Profes- soren – gegenüber den Hochschuldozenten in Unterzahl – bei der Vertretung im Senat benachteiligt werden, war durch die Rechtssetzung des Gesetzes zur Gründung der HöMS vorgezeichnet. § 104 Abs. 2 HessHG verhindert, dass die Professoren der HöMS autonom an Entschei- dungen über Forschungs- und Lehrfragen in verfas- sungsrechtlich gebotener Weise partizipieren können. Die Gefahr der Unterrepräsentation hat sich im Senat der HöMS längst realisiert: Die neunköpfige Professo- rengruppe im Senat besteht gegenwärtig aus sieben Hochschuldozenten und zwei Professoren im engeren Sinne.
Zweifelsohne sollte die verfassungswidrige Status- gruppenbildung nicht schlicht durch höhere Anforde- rungen an die Qualifikationen von Hochschuldozenten aufgelöst werden. Wer Anwärtern für den gehobenen Polizeivollzugsdienst einen adäquaten Schusswaffenge- brauch beibringt, muss keine Habilitation über Waffen oder Schusstechnik verfasst haben. Die Anwärterausbil- dung darf nicht ohne Ansehen der Praxiserfordernisse verwissenschaftlicht werden. In Einklang mit der Verfas- sung müssen die Statusgruppen von Professoren und Hochschuldozenten aber unbedingt getrennt voneinan- der gebildet werden.
2. Ministerieller Einfluss auf die Bestellung und Abbe- rufung der Leitungspersonen
Zur Mitwirkung der hochschulischen Selbstverwal- tungsorgane an der Bestellung und Abberufung von Lei- tungspersonenhatdasBundesverfassungsgerichtausge- führt: „[Das] Recht eines plural zusammengesetzten Vertretungsorgans zur Bestellung und auch zur Abberu- fung von Leitungspersonen [ist] ein zentrales und effek- tives Einfluss- und Kontrollinstrument der wissenschaft- lich Tätigen auf die Organisation. Je höher Ausmaß und Gewicht der den Leitungspersonen zustehenden Befug- nisse sind, desto eher muss die Möglichkeit gegeben
60 BVerfG 24.06.2014 – 1 BvR 3217/07 – BVerfGE 136, 338, 365.
sein, sich selbstbestimmt von diesen zu trennen. Je mehr, je grundlegender und je substantieller wissenschaftsrele- vante personelle und sachliche Entscheidungsbefugnisse dem kollegialen Selbstverwaltungsorgan entzogen und einem Leitungsorgan zugewiesen werden, desto stärker muss im Gegenzug die Mitwirkung des Selbstverwal- tungsorgans an der Bestellung und Abberufung dieses Leitungsorgans und an dessen Entscheidungen ausge- staltet sein. Der Gesetzgeber muss diesen Zusammen- hang durchgängig berücksichtigen.“60
a) Präsident
Gemäß § 45 Abs. 2 Satz 2 HessHG wird ein Hochschul- präsident grundsätzlich durch den Senat gewählt. Für den Präsidenten der HöMS hat der Gesetzgeber hinge- gen ein eigenes Verfahren erdacht: Der Präsident der HöMS wird nach öffentlicher Ausschreibung der Stelle durch das HMdIS aufgrund einer Vorschlagsliste bestellt (§ 107 Abs. 2 Satz 1 HessHG). Die Vorschlagsliste soll drei Namen enthalten (§ 107 Abs. 2 Satz 4 HessHG) und wird von Senat und Kuratorium gemeinsam erstellt (§ 107 Abs. 2 Satz 3 HessHG). Angelehnt an § 48 Abs. 5 HessHG bilden Senat und Kuratorium eine paritätisch besetzte Findungskommission.61 Die von der Findungskommission erstellte Vorschlagsliste bedarf der Zustimmung von Senat und Kuratorium. Das HMdIS kann bei der Bestellung des Präsidenten von der vorgeschlagenen Reihenfolge abweichen (§ 107 Abs. 2 Satz 5 HessHG) – Leitlinien für diese Ermes- sensentscheidung enthält die Norm nicht. § 107 Abs. 2 Satz 6–7 HessHG legt nahe, dass das HMdIS die Vorschlagsliste sogar in Gänze abweisen kann: Kommt es aufgrund der Vorschlagsliste nicht zu einer Bestellung durch das HMdIS, so ist eine neue Vor- schlagsliste vorzulegen. Wird in angemessener Frist kei- ne neue Vorschlagsliste vorgelegt oder kommt es auf- grund der zweiten Vorschlagsliste nicht zu einer Bestel- lung, wird der Präsident nach Anhörung des Senats einseitig vom HMdIS bestellt (§ 107 Abs. 2 Satz 7 HessHG). Auch die Abberufung des Präsidenten „aus wichtigem Grund“ (§ 107 Abs. 4 Satz 1 HessHG) erfolgt ausschließlich durch das HMdIS sowie lediglich im Benehmen mit dem Senat (§ 107 Abs. 4 Satz 2 HessHG). Eine Abberufung auf einen Antrag aus der Mitte des Senats hin ist nur möglich, wenn das Kuratorium diesem Antrag vor Durchführung der Beschlussfassung über die Abberufung zugestimmt hat (§ 107 Abs. 4 Satz 3 HessHG). In der Gesamtschau
61 LT-Drs. 20/5722, S. 27.
232 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 225–234
sind die Hochschulorgane in die Bestellung und Abberu- fung des Präsidenten nur marginal eingebunden. Die Position des HMdIS ist wesentlich machtvoller als die des Senats.
Vor dem Hintergrund des bundesverfassungsgericht- lichen Prüfungsmaßstabs62 werden die geringen Mitwir- kungsmöglichkeiten des kollegialen Selbstverwaltungs- organs virulent, weil der Präsident in der Organisation der HöMS eine elementare Rolle innehat. Er ist gemäß § 42 Abs. 7 HessHG Vorsitzender des Senats, verfügt über die Richtlinienkompetenz (§ 43 Abs. 3 Satz 1 HessHG) und hat das Vorschlagsrecht für die Vizepräsidenten (§ 46 Abs. 1 HessHG). Darüber hinaus ist der Präsident Dienstvorgesetzter des Hoch- schulpersonals (§ 44 Abs. 1 Satz 2 HessHG) und hat er- heblichen Einfluss auf die Wahl und Abwahl der Dekane (§ 51 Abs. 3 Satz 2 und 5 HessHG). In der Gesamt- schau wird der Präsident unter lediglich marginaler Be- teiligung der hochschulischen Selbstverwaltungs- organe bestellt und abberufen, obwohl er substantielle wissenschaftsrelevante personelle und sachliche Entscheidungsbefugnisse innehat. Folglich ist § 107 Abs. 2 und 4 HessHG mit dem hochschulischen Selbstverwaltungsrecht gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 2 HessVerf nicht vereinbar.
b) Kanzler
Gemäß § 109 Satz 2 HessHG wird der Kanzler der HöMS, ein Beamter auf Lebenszeit, im Benehmen mit dem Senat auf Vorschlag des Präsidenten der HöMS von dem für das Dienstrecht zuständigen Ministerium, dem HMdIS, bestellt. Beim Benehmenserfordernis handelt es sich lediglich um eine geringfügige Beteiligung des Senats. Statt einer Willensübereinstimmung wird ledig- lich eine Anhörung gefordert, die dem Senat die Gele- genheit gibt, seine Vorstellungen in das Verfahren einzu- bringen.63 Die geringe Mitwirkung des Senats bei der Bestellung des Kanzlers kann auch der in § 109 Satz 2 HessHG vorgeschriebene „Vorschlag […] des Präsidenten“ als Ausgangspunkt der Kanzlerbestellung nicht ausgleichen – schließlich wird auch der Präsident unter maßgeblichem Einfluss des HMdIS bestellt. Fraglich ist, ob § 109 Satz 2 HessHG wegen des überpro- portionalen Einflusses des HMdIS auf die Bestellung des Kanzlers verfassungswidrig ist. Zentrale Aufgabe des Kanzlers ist die Leitung der Hochschul- verwaltung nach den Richtlinien des Präsidiums (§ 47 Abs. 1 Satz 1 HessHG). Ferner ist der Kanzler gemäß
- 62 BVerfG 24.06.2014 – 1 BvR 3217/07 – BVerfGE 136, 338, 365.
- 63 In einem anderen Kontext zum Benehmenserfordernis BVerwG
§ 47 Abs. 1 Satz 2 HessHG Beauftragter für den Haushalt, gehört dem Präsidium an (§ 43 Abs. 2 HessHG) und ist insoweit für alle Angelegenheiten zuständig, die nicht durch das Gesetz einem anderen Organ übertragen sind. Die Aufgaben des Kanzlers sind zwar sehr bedeutsam, betreffen jedoch tendenziell wissenschaftsferne Hoch- schulbereiche. Im Ergebnis verschafft § 109 Satz 2 HessHG dem HMdIS in bedenklicher Weise Einfluss auf die Besetzung einer wichtigen Position. Den verfassungs- rechtlichen Anforderungen dürfte die Norm jedoch – isoliert vom hochschulorganisatorischen Gesamtgefüge betrachtet – noch genügen.
3. Zusammensetzung des Kuratoriums
Üblicherweise wird an staatlichen Hochschulen im Land Hessen ein Hochschulrat i.S.v. § 48 HessHG gebildet. Er hat die Aufgabe, die Hochschule bei ihrer Entwicklung zu begleiten, die in der Berufswelt an die Hochschule bestehenden Erwartungen zu artikulieren und die Nut- zung wissenschaftlicher Erkenntnisse und künstleri- scher Leistungen zu fördern (§ 48 Abs. 1 Satz 1 HessHG). Konkret gibt der Hochschulrat etwa Empfehlungen zur Studiengangsplanung (§ 48 Abs. 2 Nr. 1 HessHG) und zu den Evaluationsverfahren (§ 48 Abs. 2 Nr. 2 HessHG). Er nimmt z.B. Stellung zum Entwurf der Grundordnung (§ 48 Abs. 3 Nr. 1 HessHG) sowie zum Rechenschaftsbe- richt des Präsidiums und zu den Lehr- und Forschungs- berichten (§ 48 Abs. 3 Nr. 2 HessHG). Einem Hochschul- rat gehören gemäß § 48 Abs. 6 Satz 1 HessHG bis zu zehn Persönlichkeiten aus dem Bereich der Wirtschaft, der beruflichen Praxis und dem Bereich der Wissenschaft oder Kunst an. Die Mitglieder werden jeweils zur Hälfte vom Präsidium im Benehmen mit dem Senat und vom Ministerium im Benehmen mit der Hochschule benannt (§ 48 Abs. 7 Satz 2 HessHG).
An der HöMS hingegen wird gemäß § 110 Abs. 1 HessHG ein Kuratorium gebildet, das zu al- len wichtigen und grundsätzlichen Angelegenheiten zu hören ist. Zentrale Aufgabe des Kuratoriums ist die Überwachung der Geschäftsführung des Präsidiums un- ter Einbeziehung der Stellungnahme des Senats (§ 110 Abs. 5 Nr. 1 HessHG). Darüber hinaus begleitet das Kuratorium die HöMS bei ihrer Entwicklung und gibt Empfehlungen zu den Evaluationsverfahren und Ziel- vereinbarungen ab (§ 110 Abs. 5 Nr. 3 und 5 HessHG). Das Kuratorium der HöMS hat 16 Mitglieder (§ 110 Abs. 2 HessHG): Unmittelbar vonseiten des Lan- des werden zwei Vertreter des HMdIS, ein Vertreter des
29.04.1993 – 7 A 2/92 – NVwZ 1993, 890, 891.
Weitz · Die neue Hessische Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit 2 3 3
Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst, drei Vertreter der übrigen Ministerien und ein Vertreter des Hessischen Bereitschaftspolizeipräsidiums in das Kuratorium entsandt. Dem stehen gegenüber: Je ein Ver- treter der drei kommunalen Spitzenverbände, des Lan- deswohlfahrtsverbands, des Hessischen Verwaltungs- schulverbands, des Landesbezirks Hessen des Deutschen Gewerkschaftsbunds sowie des Landesverbands Hessen des Deutschen Beamtenbunds und zwei Vertreter aus dem Bereich der Wissenschaft. Mithin sind sieben der 16 Kuratoriumsmitglieder der unmittelbaren Staatsverwal- tung zuzurechnen und einem Weisungsrecht des Landes Hessen unterworfen. Die Mitwirkung des Senats der HöMS an der Bestellung und Abberufung der Kuratori- umsmitglieder ist demgegenüber sehr schwach ausge- prägt. Besonders virulent wird diese staatsnahe Zusam- mensetzung des Kuratoriums wegen seiner Stellung als Überwachungsgremium der Geschäftsführung des Prä- sidiums. Anders als ein Hochschulrat i.S.v. § 48 HessHG hat das Kuratorium der HöMS nicht in erster Linie bera- tende Funktion: Der Hochschulrat „gibt Empfehlungen“ (§ 48 Abs. 2 HessHG) und „nimmt Stellung“ (§ 48 Abs. 3 HessHG); das Kuratorium überwacht. In der Gesamtschau der systemwidrigen Kompetenzen des Ku- ratoriums und seiner staatsnahen personellen Aufstel- lung, wird die teilweise Verfassungswidrigkeit von § 110 HessHG deutlich.
IV. Ausblick
Mit der Gründung der HöMS wollte der Landesgesetz- geber „etwas Besonderes schaffen“64 – das ist ihm zwei- fellos gelungen. Eine „Hochschule aus einem ‚Guss‘“65 sollte es sein, „Aus‑, Fort- und Weiterbildung ‚aus einer Hand‘“66. Dass bei einem derartigen Vermengen polizei- licher und hochschulischer Strukturen das Wissen- schaftsfreiheitsrecht und das hochschulische Selbstver- waltungsrecht strukturell gefährdet sind, dürfte im Gesetzgebungsverfahren auf der Hand gelegen haben. Bei der Rechtssetzung, insbesondere der §§ 99–114 HessHG, hat die hessische Landesregierung die skizzierten Risiken nicht hinreichend abgefedert. Das Gesetz zur Gründung der HöMS verschafft dem HMdIS zahlreiche unmittelbare und mittelbare Ein- griffsbefugnisse in die Hochschulorganisation, die mit den landesverfassungsrechtlichen Leitlinien im Wider- spruch stehen.
Nicht zuletzt wegen der nahenden Landtagswahl in
64 Beuth im Rahmen seiner zusammenfassenden mündlichen Dar- stellung des Vortrags der Landesregierung als Verfahrensbeteiligte am 12.07.2023 in HessStGH, P.St. 2891.
Hessen am 08.10.2023 ist nicht damit zu rechnen, dass der Gesetzgeber das Organisationsrecht der HöMS als- bald novellieren wird. Wahrscheinlich wird der Gesetz- geber die Entscheidung des Hessischen Staatsgerichts- hofs im laufenden Normenkontrollverfahren67 abwar- ten. Der Verlauf der mündlichen Verhandlung dieses Normenkontrollverfahrens am 12.07.2023 bietet Grund zur Annahme, dass der Hessische Staatsgerichtshof die Verfassungsmäßigkeit einiger Vorschriften zur Hoch- schulorganisation der HöMS zumindest bezweifelt. Es ist zu erwarten, dass der Gesetzgeber die Organisation seiner Polizei- und Verwaltungsausbildung abermals wird reformieren müssen.
Der Gesetzgeber täte gut daran, die Entscheidung für eine Hochschulorganisation sui generis zu revidieren. Zweifelsohne handelt es sich bei einer Hochschule des Landes, die u.a. den Nachwuchs des gehobenen allge- meinen Verwaltungsdienstes und des gehobenen Poli- zeivollzugsdienstes ausbildet, um eine Hochschule mit speziellen Anforderungen. Die gegenwärtige Organisati- onsform sui generis rechtfertigen diese speziellen Anfor- derungen jedoch nicht. Vielmehr gewähren die herge- brachten Hochschulformen (§ 2 Abs. 1 Nr. 1–3 HessHG) ein stabiles wie geeignetes Fundament für eine verfas- sungskonforme Ausgestaltung der HöMS, die ausrei- chenden Nährboden für eine autonome Fortentwick- lung der Polizei- und Verwaltungsausbildung in Hessen bietet.
Konkret sollte die HöMS als Hochschule für ange- wandte Wissenschaften i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 3 HessHG ausgestaltet werden. Die entsprechende Hochschulorga- nisation würde das Selbstverwaltungsrecht der HöMS garantieren und die Wissenschaftsfreiheit wahren. Das nachvollziehbare Bedürfnis des HMdIS, im Einzelnen bestimmte Inhalte der Modulbücher der Studiengänge für Polizei und Verwaltung zu beeinflussen, könnte ebenso befriedigt werden. Hierfür bedarf es keiner grundlegenden Reorganisation der Hochschule. Es ge- nügen vielmehr einzelne, wenige Sondervorschriften, die für Entscheidungen über bestimmte Inhalte der Mo- dulbücher der Studiengänge für Polizei und Verwaltung ein Einvernehmen mit dem HMdIS voraussetzen. Statt der gegenwärtigen §§ 99–114 HessHG würden deutlich weniger Sondervorschriften genügen, deren inhaltliche Abweichung vom Leitbild des § 2 Abs. 1 Nr. 3 HessHG in der Gesamtschau so gering wäre, dass die HöMS als Hochschule für angewandte Wissenschaft klassifiziert werden könnte. So würden sowohl die verfassungsrecht-
65 LT-Drs. 20/5722, S. 19. 66 LT-Drs. 20/5722, S. 19. 67 HessStGH, P.St. 2891.
234 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 225–234
lichen Vorgaben gewahrt als auch berechtigte ministeri- elle Interessen verwirklicht.
Im Übrigen würde eine solche Organisation der HöMS – im Sinne der Gesetzbegründung vom 10.05.202168 – das Wissenschaftssystem in Hessen stär- ken. Eine Abkehr von den zahlreichen strukturellen Ausnahmeregelungen in §§ 99–114 HessHG würde die Wissenschaftlichkeit der HöMS grundlegend fördern. Ergänzend sollte der Gesetzgeber das akademische Per- sonal der HöMS quantitativ und qualitativ aufwerten. Wenn der Gesetzgeber das Wissenschaftssystem wirk- lich stärken möchte, braucht es nicht zuletzt einen leis- tungsstarken akademischen Mittelbau. Um dem speziel- len Ausbildungsauftrag einer Hochschule für Polizei und Verwaltung gerecht zu werden, könnte der Mittelbau – mehr als anderswo – mit ergänzenden Lehrverpflichtun- gen betraut werden. Neben der Autonomie des Lehrkör- pers würde dies auch die Nachwuchsausbildung des ge-
hobenen allgemeinen Verwaltungsdienstes und des ge- hobenen Polizeivollzugsdienstes stärken. Die Aus- und Fortbildung von Polizei und Verwaltung ist der Schlüssel für eine anpassungsfähige und leistungsstarke Organisa- tion – deshalb hat sie eine echte Aufwertung verdient.
Samuel Weitz ist Doktorand an der Universität zu Köln. Von Juli 2021 bis März 2023 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Öffentliches Recht und Ver- waltungslehre der Universität zu Köln. Er ist Lehrbe- auftragter für Staatsorganisationsrecht mit Verfas- sungsprozessrecht. Seine Forschungsschwerpunkte sind das Verfassungsrecht, das Hochschulrecht sowie das Sportverbandsrecht.
68 LT-Drs. 20/5722, S. 19.
Seit Beginn der Covid-19-Pandemie veranstaltete der Verein zur Förderung des deutschen und internationa- len Wissenschaftsrechts bereits drei Online-Tagungen am 30.10.2020, 15.1.2021 und 4.2.2022 mit Überlegungen zum Prüfungsrecht in der Corona-Zeit und den damit verbundenen rechtlichen Fragestellungen.1 Nach dem Ende der Pandemie sind die Hochschulen zwar überwie- gend zu Präsenzveranstaltungen zurückgekehrt, jedoch werden auch in Zukunft digitale Lehre und Prüfungsfor- men eine nicht unerhebliche Bedeutung haben.
Aus diesem Grund beleuchtete der Verein zur För- derung des deutschen und internationalen Wissen- schaftsrechts am 12.5.2023 abermals aktuelle rechtliche Fragestellungen in Bezug auf digitale Prüfungen, welche aus Pandemiezeiten mitgenommen werden. Die Vor- standsmitglieder des Vereins zur Förderung des deut- schen und internationalen Wissenschaftsrechts Prof. Dr. Volker Epping und Dr. Michael Stückradt betonten in ih- rer Begrüßung, dass die erneut 160 Teilnehmenden un- ter Beweis stellten, dass seit der Pandemie entstandene Fragen rund um digitale Prüfungen die Hochschulen weiterhin vor Herausforderungen stellen. Die Veranstal- tung solle insbesondere eine Analyse mittlerweile ergan- gener gerichtlicher Entscheidungen sowie die Diskussi- on über neue Herausforderungen wie Künstliche Intelli- genz in Prüfungen bieten.
I. Prüfungsrecht im digitalen Zeitalter
Im ersten Impulsvortrag stellten Edgar Fischer (Vorsit- zender Richter am Verwaltungsgericht Berlin) und Dr.
- 1 Berichte dieser Tagungen sind veröffentlicht in OdW 2021, 59 ff. und 201 ff. sowie OdW 2022, 215 ff.
- 2 Beide sind Autoren der 2022 erschienenen 8. Auflage des Stan- dardwerks Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht.
- 3 Dies bestätigen auch VG Frankfurt (Oder), Beschluss v. 11.5.2021
– 1 L 124/21; VG München, Urteil v. 25.2.2021 – M 3 K 20.4723;
a.A. VG Freiburg, Urteil v. 15.2.2022 – 8 K 183/21, welches eine gesonderte Rechtsgrundlage für erforderlich ansieht, da andere Rechtspositionen betroffen seien. Ggf. sei eine Anpassung der Prüfungsordnung dennoch notwendig, wenn diese z.B. explizit die Öffentlichkeit einer mündlichen Prüfung vorschreibe, vgl. bereits OdW 2021, 201 (202). Möglich sei auch, dass der Prüfling der
Peter Dieterich, LL.M. (Richter am Verwaltungsgericht Berlin)2 aktuelle Entscheidungen im Hinblick auf digita- le Prüfungen vor. Diesen sei zu entnehmen, dass die all- gemeinen Grundsätze des Prüfungsrechts auch auf Online-Prüfungen anwendbar seien.
Rekurrierend auf die letzten Veranstaltungen wurde die Online-Prüfung in den Kanon der Prüfungsarten eingeordnet. Da zwischen den Prüfungsarten kompe- tenzbasiert abgegrenzt werde, sei die Online-Prüfung keine eigene Prüfungsart, sondern nur eine andere Mo- dalität bzw. Durchführungsvariante der klassischen Prü- fungsarten, namentlich der mündlichen oder schriftli- chen Prüfungen. Aus diesem Grund sei aus prüfungs- rechtlicher Sicht nicht stets eine gesonderte Rechts- grundlage für die Durchführung der Prüfung als Online-Prüfung und daher auch keine Änderung der Prüfungsordnung angezeigt.3 Im Gegensatz dazu sei eine elektronische Prüfung eine andere Prüfungsart, bei der die Prüfungsantwort am Computer unmittelbar in ein Datenverarbeitungssystem der Prüfungsbehörde eingegeben wird.4 Da Klausuren grundsätzlich als Auf- sichtsarbeiten zu verstehen seien, sei für die Durchfüh- rung einer Online-Klausur eine Form der Aufsicht erfor- derlich, nicht zuletzt auch um Chancengleichheit und Aussagekraft der Prüfung zu gewährleisten.5
Aufgrund der Entspannung der pandemischen Lage und der weitgehenden Rückkehr zu Präsenzprüfungen, welche nicht mehr unter Sonderbedingungen durchge- führt werden müssen, finde eine Funktionsverschieb- ung der Online-Prüfungen statt: Zu Beginn der Covid-19-Pandemie seien diese notwendig gewesen, um
Abweichung der Prüfungsordnung zustimme. Auf einen Verstoß gegen die Prüfungsordnung könne er sich dann im Anschluss nach dem Grundsatz von Treu und Glauben nicht mehr berufen, vgl. zuletzt VG Berlin, Urteil v. 19.4.2022 – 12 K 20/21.
4 Schließlich könnten in elektronischen Prüfungen auch Audio- und Videosequenzen abgespielt werden, das Zurückklicken verhindert, und unterschiedliche Fragen angezeigt werden, sodass sich das Format wesentlich von einer herkömmlichen schriftlichen Prüfung unterscheide. S. dazu auch bereits Haake, OdW 2021, 59 (60).
5 So auch OVG NRW, Beschluss v. 4.3.2021 – 14 B 278/21.NE, ähnlich VG Frankfurt (Oder), Beschluss v. 11.5.2021 – 1 L 124/21.
Karoline Haake
Prüfungen im digitalen Zeitalter – aktuelle rechtli- che Fragestellungen
Bericht über die Tagung des Vereins zur Förde- rung des deutschen und internationalen Wissen- schaftsrechts e.V. am 12.5.2023
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
236 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 235–242
den verfassungsrechtlichen Anspruch der Prüflinge6 auf Durchführung der Prüfungen aus Art. 12 Abs. 1 GG durchzusetzen, da Präsenzprüfungen nicht möglich wa- ren.7 Da die Durchführung der Online-Prüfungen – auch mithilfe von Videoaufsicht bei Online-Klausuren – zur Erfüllung dieses Prüfungsanspruches erforderlich gewesen sei, sei die Datenverarbeitung durch die Prü- fung auch in datenschutzrechtlicher Hinsicht nach Art. 6 Abs. 1 lit e) DS-GVO gerechtfertigt gewesen.8
Dies sei nach dem Ende der Pandemie nicht mehr der Fall. Online-Prüfungen könnten daher vor dem Hin- tergrund des Datenschutzrechtes weiterhin als Instru- ment genutzt werden, wenn Prüflinge nach Art. 6 Abs. 1 lit a) DS-GVO in diese einwilligten. Dies sei jedoch mit Folgefragen der Einwilligung verbunden: Diese müsse einerseits freiwillig sein. Dies sei grundsätz- lich auch im Über- und Unterordnungsverhältnis zwi- schen Prüfungsbehörde und Prüfling möglich. Ein (zeit- naher) alternativer Prüfungstermin in Präsenz spreche zudem ebenfalls für die Freiwilligkeit der Einwilligung in die Online-Prüfung. Andererseits müsse die Einwilli- gung nach Art. 7 Abs. 3 DS-GVO auch frei widerruflich sein. Aus Sicht des Prüfungsrechts wäre dies in den Au- gen von Fischer und Dieterich jedoch als – in der Regel nicht gerechtfertigter – Rücktritt zu werten, so dass die Einwilligung in die Datenverarbeitung zwar jederzeit wi- derrufen, prüfungsrechtlich jedoch aus Gründen der Chancengleichheit nicht folgenlos bleiben könne.9
Im Falle von Störungen bei Online-Prüfungen hin- gen die Folgen der Störungen – wie bei Präsenzprüfun- gen – davon ab, in wessen Verantwortungssphäre diese fallen. Die Hochschule trage die Beweislast, dass der Fehler nicht in ihrer Verantwortungssphäre liege.10 Liege der Fehler bei der Hochschule, so sei die Prüfung zu un- terbrechen, die Störung zu beheben und die Prüfung an- schließend fortzusetzen, wobei ggf. ein Ausgleich für die Störung gewährt werden müsse. Sei Abhilfe nicht oder nicht rechtzeitig möglich, sei die Prüfung abzubrechen und zu wiederholen. Fiktive Leistungen dürften bei Stö- rungen nicht bewertet werden.
Für technische Störungen wie auch für andere Stö- rungen im Prüfungsverfahren gelte die unverzügliche Rügeobliegenheit für den Prüfling, ansonsten könne sich
- 6 Soweit im Folgenden allein aus Gründen besserer Lesbarkeit die Form des generischen Maskulinums verwendet wird, sind stets alle Geschlechter mitumfasst.
- 7 Ausführlich Haake, OdW 2021, 59 (59).
- 8 Haake, OdW 2021, 201 (204) und OdW 2022, 215 (216 ff.).
- 9 Vgl. Dieterich, NVwZ 2021, 511 (519).
- 10 So zuletzt VG Köln, Beschluss v. 15.7.2022 – 6 L 651/22, welches beieiner Störung beim Zugang zur Online-Klausur eine Würdigung der Gesamtumstände vornahm und zum Ergebnis kam, dass die
dieser nicht mehr auf die Beachtlichkeit des Fehlers be- rufen. Bei Verdacht einer „Flucht in die technische Stö- rung“ liege es im Ermessen der Prüfungsbehörde, für die Wiederholungsprüfung eine Einzelprüfung in den Räu- men der Hochschule durchzuführen, um eine solche er- neute Möglichkeit auszuschließen, welche dafür keine gesonderte Rechtsgrundlage benötige.11 Um Störungen und Fehler im Prüfungsverfahren von Anfang an zu ver- meiden, rieten Fischer und Dieterich dazu, klare techni- sche Vorgaben zu machen12 und ggf. Tutorials oder ei- nen Probedurchgang anzubieten.
Zahlreiche gerichtliche Entscheidungen zu Online- Prüfungen befassten sich mit der Frage der Täuschung bei der Erbringung der Prüfungsleistung. Dies zeige, dass die Täuschungsanfälligkeit bei Online-Prüfungen groß sei, insbesondere vor dem Hintergrund erschwerter Aufsichtsmöglichkeiten. Die Täuschung habe dabei so- wohl eine objektive als auch subjektive Komponente. Objektiv sei eine Täuschungshandlung erforderlich, also die Vorspiegelung einer selbstständigen und regulären Prüfungsleistung, obwohl in Wahrheit unerlaubte bzw. nicht offen gelegte Hilfen genutzt werden. Dies sei etwa bei unerlaubter Zusammenarbeit oder Verwendung nicht freigegebener Hilfsmittel, insbesondere auch bei der (nicht zugelassenen) Nutzung von Künstlicher Intel- ligenz wie ChatGPT der Fall. Die Grenze zwischen einer zulässigen Vorbereitung13 und einer sanktionswürdigen Täuschungshandlung werde übertreten, wenn der Prüf- ling bei Beginn der Prüfung das unzulässige Hilfsmittel bei sich führe, nicht erst, wenn auf das Hilfsmittel zu- rückgegriffen werde. Es reiche für eine objektive Täu- schungshandlung daher beispielsweise aus, das Smart- phone mit zum Prüfungsplatz zu nehmen, obwohl dies nicht zulässig sei. Zudem müsse in subjektiver Hinsicht noch der zumindest bedingte Vorsatz zur Täuschung hinzukommen.
Bereits aus Art. 12 Abs. 1 GG ergebe sich, dass die Rechtsfolgen der Täuschung in der jeweiligen Prü- fungsordnung geregelt sein müssten. Da die Sanktion re- gelmäßig im Nichtbestehen bis hin zur Exmatrikulation liege, seien dies schwerwiegende Rechtsfolgen, die un- mittelbar die Grundrechte des Prüflings berühren. Die Prüfungsordnung solle deshalb unterschiedliche Sankti-
Hochschule hierfür verantwortlich (und die Prüfung somit zu wie- derholen) sei, da nicht auf das Erfordernis der aktuellsten Version des Browsers Google Chrome hingewiesen worden sei.
11 Vgl. auch VG Düsseldorf, Urteil v. 26.4.2021 – 6 K 957/20.
12 VG Köln, Beschluss v. 15.7.2022 – 6 L 651/22.
13 Sächs. OVG, Beschluss v. 16.2.2022 – 2 B 274/21 zur gemeinsamen
Erstellung von Lernmaterialien, Besprechung bei Morgenroth, OdW 2022, 273 ff.
onsregelungen je nach Schwere des Verstoßes treffen, vom Nichtbestehen der Prüfung bis zu einer Versagung weiterer Prüfungschancen.14 Bei der Entscheidung über die konkrete Sanktionierung sei dann insbesondere die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zu beachten, indem die Rechte des Prüflings aus Art. 12 Abs. 1 GG mit dem Interesse der Hochschule an der Redlichkeit der Wissen- schaft sowie der Gewährleistung der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG) abgewogen werden.
Die Prüfungsbehörde treffe die Beweislast im Hin- blick auf die objektive Täuschungshandlung und den Täuschungsvorsatz. Allerdings könne die Beweisfüh- rung durch das Führen eines Anscheinsbeweises erleich- tert werden.15 Im Rahmen der freien Beweiswürdigung werde hierbei die allgemeine Lebenserfahrung berück- sichtigt, wenn nach dieser ein typischer Geschehensab- lauf auf eine bestimmte Ursache oder Folge hindeute. Dies sei z.B. bei deckungsgleichen Arbeiten, insbesonde- re bei Fehleridentität der Fall: die unerlaubte Zusam- menarbeit erscheine dann nach der allgemeinen Lebens- erfahrung naheliegend.16 Es bleibe dem Prüfling aller- dings unbenommen, den Anscheinsbeweis zu erschüt- tern und einen atypischen Geschehensablauf nachzuweisen.
Der Anscheinsbeweis könne sowohl für die objekti- ve als auch die subjektive Komponente der Täuschung geführt werden, z.B. auch für das bewusste Mitführen ei- nes Smartphones als unerlaubtes Hilfsmittel.17
Fischer und Dieterich warnten vor einer „Flucht in die prüfungsrechtliche Ohnmacht“: Um die Zweckmä- ßigkeit der Prüfung für die Berufsqualifikation und die Chancengleichheit i.S.d. Art. 3 Abs. 1 GG aufrechtzuer- halten, seien die Prüfungsbehörden zudem zu einem Mindestmaß an Täuschungsabwehrmaßnahmen ver- pflichtet. Schließlich komme auch die Allgemeinheit später mit der beruflichen Leistungserbringung in Be- rührung und habe ein Recht darauf, dass die Eignung für den Beruf durch eine zweckmäßige, insbesondere hin- reichend aussagekräftige, Prüfung nachgewiesen wurde, z.B. im Anwendungsbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG für die Tätigkeit eines Arztes. Überdies sei die Chancen- gleichheit aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG im Hinblick auf diejenigen Prüflinge verletzt, die nur mit zugelassenen Hilfsmitteln arbeiten. Weitreichende Täu-
14 So z.B. VG Berlin, Urteil v. 6.2.2023 – 12 K 52/22.
15 So für das Prüfungsrecht schon vor der Covid-19-Pandemie das
BVerwG, Beschluss v. 23.1.2018 – 6 B 67.17.
16 S. z.B. VG Berlin, Beschluss v. 28.1.2022 – 12 K 65/21; Urteil v.
6.2.2023 – 12 K 52/22.
schungen können zudem auch die relative Bewertungs- ebene der Korrektoren verschieben.18
Nach Fischer und Dieterich sollten daher sowohl „sanfte“ Gegenmaßnahmen zur Täuschungsprävention ergriffen werden, um Täuschungshandlungen von Vorn- herein zu erschweren, z.B. ein hoher Zeitdruck, das Er- fordernis handschriftlicher Ausarbeitungen, die Umstel- lung auf Hausarbeiten oder die Auswahl randomisierter Fragen und Fragereihenfolgen. Diese „sanften Maßnah- men“ zur Täuschungsabwehr könnten jedoch keinen Er- satz für eine Aufsicht bei Aufsichtsarbeiten (Klausuren) darstellen, sondern nur zusätzlich ergriffen werden. „Harte“ Gegenmaßnahmen, die daten- und persönlich- keitsrechtliche Fragen aufwerfen, könnten zudem die Authentifizierung mittels Ausweises bzw. Lichtbildes vor der Prüfung bzw. die Videoaufsicht oder Nutzung eines Lockdown-Browsers während der Prüfung sein. Zur rechtssicheren Täuschungsprävention sei zu beachten, dass insbesondere bei Open-Book-Prüfungen nicht ohne weiteres von einer Zitierpflicht bzgl. verwendeter Quellen ausgegangen werden könne.19 Hier seien des- halb eindeutige Hinweise der Prüfungsbehörde erfor- derlich, welche Anforderungen bei den unterschiedli- chen Prüfungsformaten gestellt werden.
Überdies stelle die Nutzung künstlicher Intelligenz das Prüfungsrecht vor große Herausforderungen. Die unerlaubte oder (erlaubte, aber) ungekennzeichnete Verwendung von Ergebnissen, die mittels ChatGPT er- zeugt worden sind, stelle nach prüfungsrechtlichen Grundsätzen eine Täuschung dar, da eine selbstständige Prüfungsleistung vorgespiegelt werde, jedoch mangels eigener Formulierung keine eigenständige Leistung vor- liege. Ein Plagiat dürfte hingegen mangels zitierfähiger Quelle nicht vorliegen. Zur Inspiration dürfe KI aller- dings genutzt werden, wenn dies einem wissenschaftli- chen Austausch gleiche, nur die Antworten dürften nicht in die Arbeit kopiert werden. Eine Sanktionierung der unerlaubten bzw. nicht offen gelegten Nutzung von ChatGPT sei meist bereits durch die bestehenden Prü- fungsordnungen rechtlich möglich. Problematisch sei vielmehr die Nachweisbarkeit solcher unter Einsatz von KI erfolgter Täuschungen.
Es seien zwei verschiedene prüfungsrechtliche Reak- tionsmöglichkeiten gegeben: Es könne versucht werden, die Nutzung von KI zu verhindern, indem hauptsächlich
17 OVG NRW, Beschluss v. 16.2.2021 – 6 B 1868/20.
18 So im Zusammenhang mit Täuschungen bei Online-Prüfungen
VG Frankfurt/Oder, Beschluss v. 11.5.2021 – VG 1 L 124/21. 19 So VG Dresden, Beschluss v. 16.2.2021 – 5 L 5/21.
Haake · Prüfungen im digitalen Zeitalter 2 3 7
238 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 235–242
Präsenzprüfungen durchgeführt würden. Zur Unterbin- dung der Nutzung in Hausarbeiten schlugen Fischer und Dieterich die Kombination der Prüfungsleistung aus der Hausarbeit und einer anschließenden Disputatio vor, um zu überprüfen, ob der Prüfling die Leistung tatsäch- lich durchdrungen habe. Zudem könne der Leistungs- prozess in die Bewertung eingehen, indem z.B. mit den Prüflingen im Laufe des Prozesses über die Zwischener- gebnisse diskutiert werde. Ferner könnten die Aufgaben- stellungen geändert werden, sodass keine reine Wissens- abfrage stattfinde. Es könne z.B. die Verwendung be- stimmter Quellen oder Aufbautechniken in der Hausar- beit vorausgesetzt werden, welche in der Lehrveranstaltung behandelt wurden. Dies erschwere, eine Lösung mit Hilfe der KI zu erarbeiten.
Als weitere Reaktionsmöglichkeit sei auch die aus- drückliche Zulassung der Nutzung von KI denkbar: Wäre dies für alle Prüflinge möglich, bleibe deren Chan- cengleichheit gewahrt. Hier müsse dann aber gewähr- leistet sein, dass der Zweck der Prüfung, namentlich die Abfrage von Kompetenzen, die für den späteren Beruf erforderlich sind, erhalten bleibt.
II. Datenschutz im digitalen Zeitalter
Daraufhin setzte sich Prof. Dr. Rolf Schwartmann (Tech- nische Hochschule Köln und Leiter der Kölner For- schungsstelle für Medienrecht) mit aktuellen daten- schutzrechtlichen Fragestellungen rund um Online- Prüfungen auseinander.20
Zunächst ging Schwartmann ausführlich auf Her- ausforderungen im Zusammenhang mit dem Einsatz von Large Language Models (LLM) wie ChatGPT und anderen Bots in Prüfungen ein, welche Texte, Bilder oder ähnliches generieren. In LLM wie ChatGPT basiert die Auswahl der Ergebnisse von Anfragen („prompts“) auf einer Wahrscheinlichkeitsverteilung, die sich sto- chastisch aus dem Kontext der vorhergehenden Wörter ergibt. Es handele sich somit um eine Simulation auf Grundlage des vorherigen Trainings der Datenbasis des Sprachmodells. Da diese offenkundig auch aus falschen Tatsachen bestehen, seien Chat Bots wie ChatGPT problematisch.21
Bei der Verwendung solcher generativer KI sei zwi- schen Lehre und Prüfungen zu differenzieren: Es sei möglich, diese bewusst in der Lehre einzusetzen. Eine Verwendung in Prüfungen sei jedoch auszuschließen.
20 Schwartmann ist zudem Sachverständiger des Deutschen Hoch- schulverbandes für IT- und Datenrecht und Vorsitzender der Ge- sellschaft für Datenschutz und Datensicherheit (GDD) e.V. sowie Herausgeber der datenschutzrechtlichen Kommentare Schwart-
Dies sei allein schon der Vielzahl von Unsicherheiten und Unterschiedlichkeiten bzgl. der Datenbasis der Bots, welche auch von den genutzten Standorten abhängig sei, sowie der stochastischen Programmierung geschuldet. Aufgrund dieser technischen Bedingungen wiederholen sich die Antworten nicht, der Nutzer erhalte keine repro- duzierbaren Ergebnisse, weshalb Schwartmann auch die Zitierfähigkeit von ChatGPT als Quelle entschieden ab- lehnte. Mangels Reproduzierbarkeit seien die Antworten nicht wissenschaftlich überprüfbar.
In Prüfungen müsse die Verwendung durch die Prüf- linge deshalb unterbunden werden. Es sei lediglich vor- stellbar, dass die Prüfungsbehörde durch die KI einen Text generierte, welche die Prüflinge bewerten müssten. Die Prüflinge jedoch als Prüfungsleistung selbst etwas generieren zu lassen, führe aufgrund der technischen Besonderheiten immer zu anderen Ergebnisse und ver- stoße daher gegen die prüfungsrechtliche Chancen- gleichheit des Art. 3 Abs. 1 GG.
Zum Ausschluss der Nutzung von Bots durch Prüf- linge könne daher in die Prüfungsordnung aufgenom- men werden, dass KI-basierte Systeme (z.B. LLM wie ChatGPT) grundsätzlich keine zulässigen Hilfs- mittel seien. Über Ausnahmen entscheide der Prüfungsausschuss.
In Klausuren und mündlichen Prüfungen sowie Prä- sentationen sei die Nutzung von LLM auch zu verhin- dern. Schwierigkeiten bereiten hingegen Hausarbeiten: Die Überprüfung der selbstständigen Erstellung der Prüfungsleistung sei nicht möglich. Anders als bei Plagi- aten könne keine Software die Nutzung eines Bots wie ChatGPT nachweisen. Für den Nachweis der Täuschung trage aber die Prüfungsbehörde die Beweislast. Insbe- sondere angesichts der schnellen Entwicklung der KI sei es nicht möglich, mithilfe eines Programms einen siche- ren Nachweis einer Nutzung zu führen.
Schwartmann plädierte daher ähnlich wie Fischer und Dieterich dafür, reine Hausarbeiten durch eine Prü- fungsleistung, welche aus der Kombination aus einer Hausarbeit sowie einer mündlichen Prüfung bestehe, zu ersetzen. Nach der Anfertigung der Hausarbeit könne so in einer mündlichen Prüfung abgeprüft werden, ob der Prüfling das in der Vorlesung behandelte Wissen tat- sächlich durchdrungen habe. Bei einer reinen Verteidi- gung der Arbeit könne dies jedoch nicht nachgewiesen werden, sodass Schwartmann eine ggf. von dem Stoff der Hausarbeit losgelöste mündliche Prüfung favorisierte.
mann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann, Heidelberger Kommentar zu DS-GVO/BDSG und Schwartmann/Pabst, Kommentar zum LDG NRW.
21 Dazu Schwartmann, Forschung & Lehre 2023, 414 f.
Bei einfachen Hausarbeiten sei diese Änderung „im lau- fenden Geschäft“ möglich, bei Abschlussarbeiten wie Master- und Bachelorarbeiten müsse die Prüfungsbe- hörde dazu jedoch die Formulierung ihrer Prüfungsord- nung überprüfen und diese ggf. geändert werden. Dies könne auch bei der Akkreditierung und Re-Akkreditie- rungen zu berücksichtigen sein.
Die Durchführung von Fernklausuren sieht Schwart- mann weiterhin als schwierig an.22 Da sich unter Klausu- ren Aufsichtsarbeiten verstehen lassen, werden diese mittels Videoaufsicht beaufsichtigt. Da jedoch die Open Book-Arbeit ohne Aufsicht als schriftliche Arbeit ein milderes Mittel darstelle, seien Fernklausuren unter Vi- deoaufsicht meist nicht zur Durchführung einer schrift- lichen Online-Prüfung erforderlich. Zwar handele es sich um eine andere Prüfungsform, namentlich eine Hausarbeit anstelle einer Klausur, es können aber oft trotzdem ähnliche Kompetenzen wie in einer Klausur abgefragt werden. In vielen Fällen seien daher weniger eingriffsintensive Alternativen vorhanden. Eine Recht- fertigung der Videoüberwachung nach Art.6Abs.1lit.e)DS-GVOgelingedaherinvielenFäl- len nicht. Zudem bezweifelt Schwartmann weiterhin die Eignung der Videoaufsicht zur Täuschungsprävention, da diese außerhalb des Erfassungsbereichs der Kamera weiterhin problemlos möglich seien.
Die Durchführung einer Videoaufsicht sei auch nicht durch Einholen einer Einwilligung der Prüflinge nach Art. 6 Abs. 1 lit. a) DS-GVO zu rechtfertigen. Denn für eine wirksame Einwilligung fehle es an deren Freiwillig- keit i.S.d. Art. 7 Abs. 4 DS-GVO. Selbst beim Angebot ei- ner alternativen Präsenzprüfung habe zumindest zu Zei- ten der Covid-19-Pandemie wegen der Gefahr der Infek- tion keine Freiwilligkeit vorgelegen.
Über datenschutzrechtliche Probleme helfe auch kei- ne Erlaubnis zur Videoaufsicht durch den Landesgesetz- oder ‑verordnungsgeber hinweg: Auch diese müssen sich an der höherrangigen DS-GVO messen lassen.
Anders als ein Verstoß gegen das Prüfungsrecht möge eine datenschutzrechtliche Verletzung nicht zu Fehlern im Verfahren oder der Bewertung der Prüfung führen. Dies könne nach § 46 VwVfG (ggf. analog) nur der Fall sein, wenn sich der datenschutzrechtliche Ver- stoß auf das Ergebnis der Prüfung auswirke.23 Allerdings
- 22 S. Haake, OdW 2022, 215 (219). Insbesondere sei weiterhin das Proctoring, also die Videoaufsicht mittels einer dafür vorge- sehenen Software abzulehnen, da darin ein Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integ- rität informationstechnischer Systeme aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG liege.
- 23 Dies lehnten sowohl Schwartmann als auch Fischer und Dieterich bereits in vorherigen Diskussionen ab, Haake,
wies Schwartmann erneut darauf hin, dass ein Verstoß die Sanktionsmöglichkeiten der DS-GVO auslöse. Ein Bußgeld nach Art. 83 DS-GVO sei gem. § 43 Abs. 3 BDSG zwar für öffentliche Stellen wie staatliche Hochschulen ausgeschlossen. In Betracht kämen allerdings Schadens- ersatzansprüche gegen die Hochschule nach Art. 82 DS- GVO. Demnach kann der Ersatz eines materiellen oder immateriellen Schadens aufgrund einer Datenschutzver- letzung verlangt werden. Die DS-GVO kenne daher auch anders als das deutsche Recht keine Bagatellgrenze, wel- che für die Geltendmachung eines Schmerzensgeldan- spruchs überschritten werden müsse. Der Schaden kön- ne bereits im Unwohlsein der Betroffenen über den Kon- trollverlust ihrer rechtswidrigen Datenverarbeitung lie- gen.24 Insbesondere vor diesem Hintergrund warnte Schwartmann vor datenschutzrechtlichen Rechtsstreitig- keiten mit Schadensersatzforderungen der Studierenden.
III. Fragerunde / Diskussion
Anschließend beantworteten die drei Referenten zunächst im Vorfeld eingereichte Fragen der Tagungs- teilnehmenden. Diese Fragerunde und die anschließen- de Diskussion wurden von Prof. Ulf Pallme König25 und Prof. Dr. Volker Epping moderiert.
Zum Führen eines Anscheinsbeweises über die un- zulässige Zusammenarbeit während einer Online-Prü- fung sei laut Fischer und Dieterich nicht allein das gleich- zeitige Absenden der Antworten geeignet, welches am elektronischen Zeitstempel erkennbar sei. Es müssen weitere Anhaltspunkte wie beispielsweise Fehleridentität hinzukommen.
Fehleridentität oder eine Vielzahl gleichlautender Lösungen müsse nicht zwingend das Ergebnis einer un- erlaubten Zusammenarbeit von Prüflingen sein, sondern könne auch darauf zurückzuführen sein, dass von einem Prüfling abgeschrieben wurde. Der Urheber der Lösung begehe dabei keinen Täuschungsversuch durch das Ab- schreibenlassen. Für eine Sanktionierung dieser – von der Prüfungsbehörde nachzuweisenden – unzulässigen Beeinflussung der Prüfung sei wegen des Gesetzesvorbe- halts daher eine eigene Rechtsgrundlage in der Prü- fungsordnung erforderlich.26
OdW 2021, 201 (205).
24 EuGH, Urteil v. 4.5.2023 – C‑300/21.
25 Pallme König ist Kanzler der Universität Düsseldorf a.D. und
Vorstandsmitglied des Vereins zur Förderung des deutschen und
internationalen Wissenschaftrechts.
26 Dieses Verhalten sei in vielen Prüfungsordnungen als „unzulässige
Beeinflussung der Prüfung“ oder „Störung des ordnungsgemäßen Prüfungsablaufs“ sanktioniert.
Haake · Prüfungen im digitalen Zeitalter 2 3 9
240 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 235–242
Was die Mitnahme von eigenen Geräten wie Lap- tops angeht, so treffe die Prüflinge aus dem Grundsatz von Treu und Glauben eine Mitwirkungspflicht dahinge- hend, dass die Prüfungsbehörden eine heutzutage übli- che technische Ausstattung grundsätzlich voraussetzen können. Ähnlich wie zum Gebrauch eines eigenen Ta- schenrechners oder Buches könnten diese deshalb aus prüfungsrechtlicher Sicht auch zur Verwendung eines eigenenLaptopsverpflichten.MachederPrüflingaller- dings im Einzelfall glaubhaft, dass er über keinen Laptop verfüge, müsse die Hochschule Abhilfe schaffen. Trete am (eigenen) Gerät in der Prüfung ein Defekt auf, liege das grundsätzlich in der Verantwortungssphäre des Prüflings. Die Hochschule sei nicht verpflichtet, ein Er- satzgerät während der Prüfung bereit zu stellen. Aus Ku- lanz sei jedoch zu empfehlen, einige Ersatzstücke vorzuhalten.
Dagegen sah Schwartmann das Mitbringen des eige- nen Laptops zu Prüfungszwecken kritisch: Denn wie an- dere private Hilfsmittel müssten diese zur Täuschungs- prävention im Vorfeld oder während der Prüfung kont- rolliert werden. Dies sei bei einem Laptop jedoch nicht das gleiche wie bei einem Taschenrechner: Bei der Kon- trolle des Inhalts eines privaten Laptops gerate die Prü- fungsbehörde in Kollision mit dem Grundrecht auf Ge- währleistung und Integrität informationstechnischer Systeme des Prüflings und verarbeite dessen personen- bezogene Daten, ohne dass dies erforderlich sei. Auch eine Einwilligung des Prüflings helfe darüber nicht hin- weg, da diese nicht freiwillig sein könne, wenn der Prüf- ling auf andere Weise nicht an der Prüfung teilnehmen könne. Es handele sich daher um einen datenschutz- rechtlichen Verstoß, der vermieden werden sollte, indem die Hochschule eigene Geräte bereitstelle.
Fischer und Dieterich stimmten Schwartmann in der Hinsicht zu, dass ein Verstoß gegen das Datenschutz- recht grundsätzlich nicht auf das Prüfungsrecht durch- schlage und zur Fehlerhaftigkeit der Prüfung führe. Sie wiesen jedoch darauf hin, dass ein Datenschutzverstoß ggf. Probleme beim Nachweis einer Täuschung bereiten könne: Solle dieser mittels einer datenschutzrechtswidri- gen Proctoring-Software geführt werden, möge diese für die Beweisführung ungeeignet sein. Der Beweis wäre dann auf rechtswidrige Weise erlangt, sodass ggf. an ein Beweisverwertungsverbot ähnlich wie im Strafprozess zu denken sei.
In Zusammenhang mit der erlaubten Nutzung von ChatGPT durch Studierende in Lehre und Prüfungen warf Schwartmann die Frage auf, wie es mit der Haftung für Rechtsverstöße aussehe, entweder bei Datenschutz-
oder Urheberrechtsverstößen der KI, indem diese bei- spielsweise Interviews mit realen Personen erfinde. Un- geklärt bleibe, wem solche Verstöße zuzurechnen seien. Zudem sei undurchsichtig, welche Daten ihrer Nutzer die KI selbst zu welchen Zwecken verarbeite und spei- chere. Bevor Bots wie ChatGPT als „general purpose“ Anwendungen in Lehre und Prüfungen verwendet werden, seien diese Fragen dringend zu klären. Die sei allein schon der Pflichten der Hochschule aus Art. 32 ff. DS-GVO, insbesondere der Pflicht zur Daten- schutz-Folgenabschätzung des Art. 35 geschuldet, welche ohne Klarheit über diese Fragen nicht möglich sei.
Was den Ausschluss von ChatGPT von der Liste zu- lässiger Hilfsmittel angeht, so stellten die Referenten klar, dass die Schwierigkeit der Überprüfung und des Nachweises nicht die rechtliche Option des Ausschlusses verschließe. Nur, wenn nicht mehr überprüfbar sei, ob eine eigenständige Leistung vorliege, habe die Prüfung keinen Aussagegehalt mehr, sodass deren Zweck vor dem Hintergrund des Art. 12 Abs. 1 GG nicht mehr er- füllt werden könne.
Fischer und Dieterich stellten klar, dass das Führen ei- nes Anscheinsbeweises für die Nutzung von ChatGPT vom Einzelfall abhängig bleibe: Brüche in der Formulie- rung oder Argumentation reichten dafür regelmäßig nicht allein aus, da dies insbesondere bei längeren Arbei- ten auch mit der gleichen Wahrscheinlichkeit aus ande- ren Umständen herrühren könne. Ferner gebe es auch manche Programme, die ggf. Hinweise auf die Nutzung von ChatGPT lieferten. Manche Hochschulen wählten z.B. auch versteckte Werte und Begriffe, welche erst beim Einkopieren der Prüfungsaufgabe in ein Programm sichtbar würden und dazu führten, die unerlaubte Ver- wendung von Hilfsmitteln aufzudecken. Darüber hinaus plädierten Fischer und Dieterich insbesondere auch für eine Anpassung der Aufgabenstellungen, um die Nut- zung von Bots zu vermeiden (z.B. die Einbeziehung von Methoden und Quellen aus der Lehrveranstaltung).
Will die Hochschule die Nutzung von KI in Prüfun- gen dagegen zulassen, so herrschte unter den Referenten Uneinigkeit hinsichtlich der Zitierfähigkeit von Bots wie ChatGPT.
Es handele sich nach Fischer und Dieterich zwar nicht um eine zitierfähige Quelle im klassischen Sinne, da kei- ne geistige Eigenleistung vorliege, die einer Person zuzu- ordnen sei, sodass es an einem identifizierbaren Urheber fehle. Ein Verweis auf den jeweiligen „Prompt“ sei auch nicht als Beleg geeignet, da sich die KI-basierte Antwort hierauf jederzeit ändern könne. Es sei aber denkbar, die Antworten von ChatGPT als Anlage einer Hausarbeit
beizufügen, wenn dies von der Prüfungsbehörde vorge- geben werde, etwa als Screenshot einer Kommunikation mit ChatGPT. In prüfungsrechtlicher Hinsicht könne auf diese Weise zumindest das Maß an Eigenständigkeit, mit welcher der Prüfling die Leistung erbracht habe, nachge- wiesen werden. Dagegen hielt Schwartmann ChatGPT auch auf diese Weise nicht für zitierfähig. Auch die An- lagen seien nicht reproduzier- und damit nicht über- prüfbar, sodass die Prüfungsbehörde nicht kontrollieren könne, ob es sich um ein Fehlzitat handele.
IV. Resümee und Ausblick
Nach der Rückkehr in den „Normalbetrieb“ der Hoch- schulen mit dem Ende der Covid-19-Pandemie werden digitale Formate da bestehen bleiben, wo sie einen Mehr- wert für Lehre und Prüfungen bieten. Zumindest in prü- fungsrechtlicher Hinsicht bestehen drei Jahre nach Beginn der Pandemie genug Judikate, um rechtssicher digitale Prüfungen durchzuführen. In datenschutzrecht- licher Hinsicht ist dagegen bisher keine richtungswei- sende gerichtliche Entscheidung erfolgt. Dies mag auch der Zuständigkeit des EuGH für die Auslegung der DS- GVO geschuldet sein und hat zur Folge, dass die Hoch-
schulen eigene datenschutzrechtliche Risikoabwägungen vornehmen müssen.
Seit Ende letzten Jahres beschäftigt die Prüfungsbe- hörden zunehmend die Nutzung von Bots wie ChatGPT durch die Prüflinge. Dazu bestehen viele ungeklärte Fra- gen, insbesondere auf praktischer Ebene: Dass die uner- laubte Nutzung eine Täuschung darstellt, mag festste- hen, diese nachzuweisen, fällt dagegen jedoch erheblich schwerer.
Epping betonte allerdings, dass die Hochschulen In- novationen wie ChatGPT nicht ignorieren dürften: Statt- dessen solle der Entwicklung Rechnung getragen wer- den und die Hochschulen müssen ggf. andere Prüfungs- formen entwickeln, um eigenständige Leistungen durch die Prüflinge sicherzustellen.
Stückradt resümierte, dass die Nutzung künstlicher Intelligenz durch Studierende und Prüflinge in Zukunft ein Schwerpunktthema sein könnte. Deshalb bestehe ggf. in Zukunft das Bedürfnis, sich mit dieser in einer ge- sonderten Veranstaltung auseinanderzusetzen.
Karoline Haake ist Rechtsreferendarin am Oberlan- desgericht Celle und Doktorandin an der Leibniz Uni- versität Hannover.
Haake · Prüfungen im digitalen Zeitalter 2 4 1
242 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 235–242
Wissenschaftsgovernance ist ein hochaktuelles Thema: Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung kündigt die Förderung moderner Führungs‑, Personal- und Organi- sationsstrukturen und Standards für Führungs- und Compliance-Prozesse im Wissenschaftssystem an.2 Zugleich findet ein intensiver öffentlicher Diskurs über Machtmissbrauch, Arbeitsbedingungen, Führung und Zusammenarbeit in der Wissenschaft statt, in dem der Umgang mit Konflikten zwischen Organisationsmitglie- dern thematisiert wird. Vor diesem Hintergrund trafen sich am 13. und 14. März 2023 Governance-Fachleute aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft, Verantwortliche in Führungspositionen in der Wissenschaft und For- schende auf allen Karrierestufen zu Vorträgen, Debatten und Austausch. Eingeladen hatten die Bergische Univer- sität Wuppertal (BUW) gemeinsam mit dem Bayeri- schen Staatsinstitut für Hochschulforschung und Hoch- schulplanung (IHF), der Universität Passau, der Hoch- schulrektorenkonferenz (HRK) und dem Deutschen Hochschulverband (DHV).
Zunächst begrüßte Professor Dr. Birgitta Wolff als Rektorin der BUW die ca. 120 Teilnehmenden. Sie be- tonte, dass die Wissenschaft vor großen Herausforder- ungen in Bezug auf Governance und Konfliktbearbei- tung stünde, dass aber die Forschung bereits in der Lage sei, empirisch fundierte, praxistaugliche Lösungsansätze anzubieten und weiterzuentwickeln. Die aktuelle Konfe- renz verstehe sich als Einladung, die Herausforderungen frühzeitig und aktiv gemeinsam anzugehen. DHV-Präsi- dent Professor Dr. Bernhard Kempen und Professor Dr. Oliver Günther, HRK-Vizepräsident für Governance, Lehre und Studium, stellten in ihrer Begrüßung heraus, dass Konflikte überall dort, wo Menschen zusammenar- beiteten, unvermeidbar seien. Auch und gerade im Wis- senschaftssystem habe es Machtmissbrauch und Fehl-
1 Auf der Basis der Tagungsvorträge und ‑diskussionen wurde von den Veranstaltenden die „Wuppertaler Erklärung zur vertrau- enswürdigen Wissenschaftsgovernance“ verabschiedet, in der
elf Grundsätze für einen konstruktiven und im Einklang mit rechtsstaatlichen Prinzipien befindlichen Umgang mit Konflik- ten aufgestellt werden (https://www.ihf.bayern.de/fileadmin/ user_upload/IHF/Veranstaltungen/Tagung_Governance_2023/
verhalten schon immer gegeben; neu sei allerdings, dass der dadurch entstehende Schaden sowohl für Individuen als auch für das diverser gewordene Wissenschaftssys- tem als Problem erkannt und thematisiert werde. Das Ziel von Veränderungen müsste sein, die Häufigkeit von Konflikten und Fehlverhalten zu reduzieren und den Umgang mit ihnen bewusster zu gestalten.
I. Die Herausforderungen verstehen
In ihrem Einführungsvortrag knüpfte die ehemalige Prä- sidentin der Universität Passau und Professorin für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Governance, Professor Dr. Claudia Jungwirth, zunächst an die Einsich- ten aus der Vorläufertagung „Absender unbekannt. Ver- fahren der Wissenschaft zum Umgang mit anonymen Anschuldigungen“3 im Jahr 2020 an. Hier sei ausgehend von der Herausforderung des Umgangs mit anonymen Meldungen von Fehlverhalten — insbesondere von Füh- rungsfehlverhalten — klar geworden, dass in der Wissen- schaft spezielle Bedingungen für professionelle Führung und den Umgang mit Konflikten herrschten, und dass Wissenschaftseinrichtungen anfällig für besonders pro- blematische Konfliktkonstellationen und ‑entwicklun- gen seien. Insbesondere seien hierfür die unklaren Regelsysteme verantwortlich, eine mangelnde Qualitäts- sicherung in der Nachwuchsförderung sowie die unzu- reichende Ausbildung von Leitungspersonen in Füh- rungs- und Managementfähigkeit. Neben dem potenti- ellen Schaden für die Personen sei auch der Schaden für die Wissenschaft als Institution zu bedenken, für deren Leistungsfähigkeit und Legitimation das Vertrauen der Akteure in allen Bereichen der Gesellschaft unverzicht- bar sei. Als Arbeitsgrundlage für die Tagung seien unter dem Begriff „Governance“ die Prozesse, Regeln und Ver-
Wuppertaler_Erkl%C3%A4rung_29032023.pdf [zuletzt abgerufen
15.08.2023]).
2 https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/koalitionsver-
trag-2021–1990800 [zuletzt abgerufen 14.08.2023].
3 https://www.digital.uni-passau.de/beitraege/2020/tagung-absen-
der-unbekannt [zuletzt abgerufen 14.05.2023].
Maike Reimer
Governance in Wissenschaftsorganisationen — Konstruktiver Umgang mit Konflikten und Vorwür-fen. Bericht über die Tagung am 16. und 17.3.2023 an der Bergischen Universität Wuppertal1
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
244 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 243–250
fahren zu verstehen, die eine Wissenschaftsorganisation leiten und sicherstellen, dass das Organisationsziel effek- tiv und transparent erreicht wird.
Professor Dr. Isabell Welpe, Leiterin des IHF, setzte den Einführungsvortrag mit einer Analyse der Heraus- forderungen von Governance in der Wissenschaft im Hinblick auf Kontroll- und Qualitätssicherungsansätze in Forschungsorganisationen fort. Sie stellte heraus, dass Ergebnisse und Erfolge wissenschaftlichen Arbeitens nur schwer direkt und zweifelsfrei zu messen, zu bewer- ten und zuzurechnen seien. Daher erhielten die Mecha- nismen der Prozess- und Inputkontrolle eine zentrale Bedeutung, die die Ausgestaltung von Prozessen, Regeln und Verfahren der Personalführung sowie der Auswahl und Sozialisation von Personal betreffen. Hier gebe es in der Wissenschaft deutlichen Optimierungsbedarf. Zwar gälten allgemeine Rechts‑, Verwaltungs- und Personal- führungsstandards sowie in zunehmendem Maße auch wissenschaftsspezifische Richtlinien (z.B. von Fachge- sellschaften, der DFG oder in den Statuten einzelner Wissenschaftsorganisationen). Allerdings seien sowohl internealsauchexterneLeitungs-undAufsichtsebenen in Hochschulen und Forschungsorganisationen häufig unzureichend getrennt, so dass unklare Zuständigkeiten sowie Interessen- und Rollenkonflikte die Umsetzung professioneller und leitliniengerechter Verfahren der Personalrekrutierung und ‑führung beeinträchtigen. Insbesondere sei problematisch, dass dies systematisch diejenigen Mitarbeitenden benachteilige, die nicht in al- len Merkmalen der Norm der jeweiligen Einrichtung entsprächen. Professor Dr. Welpe wies darauf hin, dass Fehlverhalten und Machtmissbrauch sich sowohl gegen jüngere als auch gegen etablierte Personen richten könne und empfahl, den Fokus von den individuellen Personen zu nehmen und auf das System der Akteure zu richten, um sinnvolle und wissenschaftsadäquate Ansätze für die Lösung der skizzierten Probleme zu entwickeln.
Im anschließenden Beitrag „Governance, gender and conflict in research organisations: A case study“ von Pro- fessor Dr. Nicole Boivin beschrieb die ehemalige Direkto- rin am MPI für Menschheitsgeschichte detailliert den mehrjährigen Auseinandersetzungsprozess mit ihrem Arbeitgeber, der MPG, der zu ihrer Entlassung als Direk- torin aufgrund von Vorwürfen des wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Fehlverhaltens geführt hat- te. Dabei habe es zahlreiche Mängel in den Verfahren ge- geben, die allerdings aufgrund der hochproblematischen Governancestrukturen der MPG und der fehlenden ex-
4 https://www.dfg.de/foerderung/grundlagen_rahmenbedingungen/ gwp/ [zuletzt abgerufen am 14.08.2023].
ternen Aufsicht keine Konsequenzen gehabt hätten. Sie thematisierte auch die Tatsache, dass ähnliche Entlas- sungen bzw. Rückstufungen in der MPG vor allem Frau- en betroffen haben und dies auf einen im System inhä- renten Bias hinweise.
In der Diskussion wurde die Etablierung einer offe- nen Fehlerkultur, in der Konfliktthematisierung und ‑bearbeitung als Stärke einer Organisation wahrgenom- men würde, als wichtige Aufgabe der Führung angespro- chen. Auch falle es in die Verantwortung der organisati- onalen Führungspersonen und ‑gremien, Fairness und Transparenz in internen Verfahren zu wahren und ihre Mitarbeitenden vor Mobbing und Belästigung zu schüt- zen. Ansprechpartner wie Ombudsstellen oder Gleich- stellungsbeauftragte seien in der Regel mit geringen Res- sourcen ausgestattet und ohne reale Durchsetzungs- macht. Weiterhin wurde der Umstand, dass bisher vor allem Frauen aus Leitungspositionen der MPG entfernt worden seien, in Zusammenhang mit den auf intranspa- renten Netzwerken basierenden Machtstrukturen der Wissenschaft gebracht, die männerdominiert seien und daher den Status Quo gegen Veränderungen verteidigten.
II. Perspektiven auf die Herausforderungen
Im ersten von drei Impulsvorträge legte Dr. Heide Ahrens, Generalsekretärin der Deutschen Forschungsge- meinschaft (DFG), „Die Rolle der DFG bei Hinweisen auf Fehlverhalten aus der Wissenschaft“ dar. Hier seien zum einen die „Leitlinien zur Sicherung guter wissen- schaftlicher Praxis“4 der DFG zu nennen, deren Umset- zung durch Forschungsorganisationen ab August 2023 Voraussetzung für eine Antragstellung bei er DFG sei, zum anderen die Etablierung des Gremiums „Ombuds- man für die Wissenschaft“5, das allen Wissenschaftlerin- nen und Wissenschaftlern auch ohne Bezug zur DFG zur Beratung und Unterstützung in Fragen guter wissen- schaftlicher Praxis zur Verfügung stehe. Sie betonte auch, dass sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft- lern stärker als Führungskräfte in ihren Forschungsteams und verantwortliche Vorgesetzte ihrer Mitarbeitenden begreifen müssten, und dass der Aspekt der Führungs- kompetenz auch bei der Auswahl von Personal ein höhe- res Gewicht bekommen sollten. Danach sprach Professor Dr. Thomas Krieg als Vizepräsident der Deutschen Aka- demie der Naturforscher Leopoldina zu „Governance- Regeln für Akademien – Orientierungspunkte aus der
5 https://www.dfg.de/foerderung/grundlagen_rahmenbedingungen/ gwp/ombudsman/index.html [zuletzt abgerufen am 14.08.2023].
Reimer · Governance in Wissenschaftsorganisationen 2 4 5
Praxis der Leopoldina“. Diese sei als Gelehrtengesell- schaft in mehrfacher Hinsicht aufgefordert, die Frage von Konfliktbearbeitung und Fehlverhalten zu adressie- ren: zum einen bei Fehlverhalten der Akademiemitglie- der selbst oder in ihren Forschungsteams, zum anderen in der Politikberatung. Hierzu seien Strukturen und Ver- fahrensregelungen geschaffen worden6.
Der grundlegenden Frage, ob aus dem Compliance- Anspruch heraus die Notwendigkeit einer externen Auf- sicht über Wissenschaftsorganisationen folge, oder ob dies der akademischen Selbstverwaltung widerspräche, widmete sich Professor Dr. Sascha Herms, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Professor an der Hochschule für Tech- nik und Wirtschaft Berlin (HTW), unter dem Titel „An- merkungen und Beobachtungen zur Governance aus rechtlicher Sicht“ ausgehend von der Wissenschaftsfrei- heit nach Artikel 5 des Grundgesetzes7. Diese bedeute sowohl eine individuelle Gewährleistung und den Schutz des wissenschaftlichen Personals, als auch einen institu- tionellen Schutzrahmen für Forschungseinrichtungen. Er gelangte zu der Schlussfolgerung, dass Compliance im Wissenschaftssystem ohne externe Aufsicht nicht zu verwirklichen sei und dass die staatlichen Finanzgeber (d.h. das BMBF bzw. die zuständigen Landesmi- nisterien) zur Wahrung der Wissenschaftsfreiheit ver- pflichtet seien, die Aufsicht selbst zu führen oder an geeignete Dritte zu übertragen. Dies gelte sowohl für Universitäten als auch für ausseruniversitäre Forschungsorganisationen.
Daran an schloss sich eine Paneldiskussion mit Inge Bell, Journalistin und Gründerin von Bell Consulting; Elizaveta Bobkova, der Sprecherin von N2 — Netzwerk von Promovierendennetzwerken und Doktorandin am MPI für terrestrische Mikrobiologie; Professor Dr. Dr. h. c. Ursula Keller vom Institut für Quantenelektro- nik an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich sowie Professor Dr. Eric Steinhauer, dem Sprecher von „Ombudsman für die Wissenschaft“ und Honorarprofessor für Urheberrecht und Bibliotheks- recht an der Humboldt-Universität Berlin. Zunächst be- nannten die Panelisten die aus ihren jeweiligen Perspek- tiven besonders starken Spannungsverhältnisse und He- rausforderungen. Hier wurden die geringe Handlungs- macht von Ombudsstellen genannt, der hohe Erwartungs- und Publikationsdruck auf Nachwuchswis- senschaftlerinnen und ‑wissenschaftler, die vielfach un- eingeschränkte Autonomie von hochrangigen Wissen- schaftlern und Wissenschaftlerinnen, denen keine unab-
6 z.B. https://www.leopoldina.org/ueber-uns/ueber-die-leopoldina/ praesidium-und-gremien/regeln-fuer-den-umgang-mit-interes-
hängige und professionelle wissenschaftsadäquate Ad- ministration gegenüber stehe, sowie der Widerspruch zwischen der stark hierarchischen, teilweise an feudale Systeme erinnernden Machtstrukturen, die institutio- nelles Mobbing begünstigen, und den Erwartungen ins- besondere von jüngeren Akademikerinnen und Akade- mikern an Gleichberechtigung und Wertschätzung.
In der Diskussion möglicher Lösungsansätze wurden zunächst die Risiken und Chancen anonymer Hinweise auf Konflikte oder Fehlverhalten diskutiert. Die Mög- lichkeit, Konflikte oder Fehlverhalten anonym anzuspre- chen, wurde teilweise für sinnvoll befunden, wenn dies in objektiv nachweisbaren Fällen — etwa bei eindeutigem wissenschaftlichem Fehlverhalten — einer Konfliktbear- beitung nicht im Wege stünde. Auch im Rahmen einer niedrigschwelligen Beratung könne Vertraulichkeit zu- gesichert werden, ebenso im Rahmen repräsentativer Surveys, die im Sinne eines Stimmungsbildes Anhalts- punkte für allgemeine Probleme geben können. Weiter- hin sei es zwar möglich, dass Anonymität gezielt ausge- nutzt würde, um anderen zu schaden, in der Realität komme dies aber ausgesprochen selten vor. Dennoch seien viele Konflikte aus dem Schutz der Anonymität he- raus nicht angemessen zu bearbeiten, so dass eine offene und transparente Konfliktbearbeitung selbstverständlich möglich sein müsse, ohne dass die Beteiligten Nachteile für ihre Karriere befürchten müssten. Hiervon könne im Rahmen der hierarchischen, intransparenten und auf in- formellen Netzwerken beruhenden Wissenschaft derzeit nicht ausgegangen werden.
Als ein wichtiger Ansatzpunkt für Verbesserungen wurde eine Optimierung der Governanceverfahren ge- nannt, die klar die Regeln und Erwartungen für die Zu- sammenarbeit in der Wissenschaft benennen und deren Einhaltung überwachen bzw. die Nichteinhaltung sank- tionieren müsse. Diese Regeln müssten von allen leiten- den Personen verinnerlicht und aktiv gelebt werden, um der Vielfalt von möglichen Problemkonstellationen ge- recht werden zu können. Besonders hervorgehoben wurde, dass häufig eine Aufklärung nicht primär am Fehlen von Meldestrukturen und ‑verfahren scheitere, sondern vielmehr daran, dass geltende selbst auferlegte Regelungen nicht durchgesetzt werden könnten. Auch belegtes Fehlverhalten habe so keine Konsequenzen, und es gebe kaum adäquate Gremien oder Verfahren, dieses Durchsetzungsdefizit zu beanstanden. Um durch eine Veränderung der Governance „von oben“ einen grundle- genden Kulturwandel anzustoßen, sei es allerdings not-
senkonflikten/[zuletzt abgerufen am 17.08.2023]. 7 Art. 5 Abs. 3 GG.
246 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 243–250
wendig, dass durch die finanzierenden Ministerien handfeste materielle Anreize gesetzt würden, indem Zie- le zur Governance und Compliance, Diversity und Gleichstellung festgelegt und die Vergabe von Mitteln an deren nachweisbarer Umsetzung geknüpft würden. Hingewiesen wurde auch auf die ungünstigen Auswir- kungen einer nicht zeitgemässen Vorstellung, exzellente Wissenschaft beruhe vor allem auf fachlich herausragen- den, „genialen“ Einzelpersonen, denen daher in jeder Hinsicht möglichst freie Hand bei der Organisation ihrer Forschung gelassen werden müsse. Diese sowohl unter leitenden Forschenden als auch in der Administration verbreitete Ansicht führe dazu, dass letztere ihre Funkti- on nicht im Sinne eines Gegengewichts mit „Checks and Balances“ zur wissenschaftlichen Selbstverwaltung aus- übe, sondern in ihren Dienst gestellt würde. In diesem Zusammenhang wurde auch die Abhängigkeit junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von ihren Betreuenden als Problem genannt, sowie der Umstand dass diese sich durch den hohen Zeit- und Leistungs- druck der wissenschaftlichen Laufbahn keinerlei Verzö- gerung leisten könnten und daher im Konfliktfall eher klein beigäben oder aus dem Wissenschaftssystem aus- schieden. Es gebe erfolgreiche Modelle für geteilte Pro- movierendenbetreuung oder Rotationssysteme im In- und Ausland, die sich auch in Deutschland stärker ver- breiten sollen.
III. Empirische Daten
Zunächst stelle Hang Liu, Sprecher von PhDnet, der Doktorandenorganisation der MPG, sowie Doktorand am MPI für Herz- und Lungenforschung, unter dem Titel „Conflicts in Science: What we can know from doc- toral researchers?” Ergebnisse aus der aktuellen Befra- gung unter MPG-Promovierenden vor, an der sich mit ca. 2.500 Antwortenden etwa 50 Prozent der Eingelade- nen auch beteiligt hatten8. Dieser seit 2009 etablierte jährliche Survey, der seit 2019 vergleichbar auch in den Nachwuchsorganisationen der Helmholtz‑9 und Leib- niz-Gemeinschaft10 sowie an einzelnen Universitäten durchgeführt wird, betrifft unter anderem Arbeitsbedin- gungen, Zufriedenheit, Unterstützung und Betreuung, Karriereentwicklung, psychische Gesundheit, Wahrneh- mung von Machtmissbrauch sowie Gleichberechtigung. Herr Liu hob hervor, dass um die 13 Prozent der Teilneh-
8 https://www.phdnet.mpg.de/survey [zuletzt abgerufen am 14.08.2023].
9 https://www.helmholtz.de/fileadmin/user_upload/06_jobs_talen- te/Helmholtz-Juniors/Survey_Report2019.pdf [zuletzt abgerufen am 14.08.2023].
menden einen schweren Konflikt mit einem Vorgesetz- ten erlebt hatten, diesen aber nicht einmal in der Hälfte der Fälle meldeten — meist (auch) aus der Furcht vor beruflichen Nachteilen, die sich darauf ergeben könnten. Bemerkenswerterweise seien diese Meldungen deutlich häufiger erfolgt, wenn es sich um Konflikte mit einer weiblichen und/oder einer jüngeren, erst seit kurzem etablierten Führungsperson gehandelt habe.
Unter dem Titel „Impressions from the 2022 MPG Post- docNet Survey“ gab Dr. Nicholas Russell, Generalsekre- tär des PostdocNet der MPG und Postdoc am MPI für Pflanzenzüchtungsforschung, Einblicke in die Ergebnis- se einer ähnlichen Befragung, die 2022 unter allen post- gradualen Mitarbeitenden der MPG durchgeführt wur- de11. Hervozuheben sei, dass die PostDocs der MPG in noch höherem Ausmaß als die Promovierenden — näm- lich zu 75 Prozent — nicht aus Deutschland stammten, und noch häufiger als diese im Rahmen sehr kurzer Ver- tragslaufzeiten und unter hoher Unsicherheit über die nachfolgenden Karriereoptionen und teilweise Aufent- haltsgenehmigungen sowie unter hohem Leistungs- und Produktivitätsdruck arbeiteten. Insofern überrasche es nicht, dass auch hier die von um die 30 Prozent erlebten unsozialen Verhaltensweisen vor allem aus Sorge über mögliche Nachteile für die Karriere und eine Unkennt- nis der Möglichkeiten und Optionen selten angespro- chen würden.
Zuletzt behandelten Professor Dr. Isabell Welpe und Dr. Maike Reimer, Leiterin und wissenschaftliche Refe- rentin des IHf, „The senior perspective on conflict, re- porting and governance“. Sie thematisierten zunächst methodische und empirische Herausforderungen in Be- zug auf Definition und Erhebungsmethoden von zentra- len Konzepten wie „Konflikt“, „Fehlverhalten“ oder „Mobbing“. Der Fokus lag weiterhin auf den Ergebnissen eines Forschungsprojektes, in dem die Sicht leitender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Physik auf die Erfahrungen mit Konflikte und Führung in ihren im Rahmen von Interviews untersucht wurden. Als Konfliktthemen seien zum einen wissenschaftliche Aspekte (z.B. Autorschaftskonflikte oder Plagiate) ge- nannt worden, zum anderen Aspekte des Arbeitsverhal- tens von Promovierenden oder Postdocs, etwa Arbeits- qualität, Unabhängigkeit in der wissenschaftlichen Ar- beit sowie Arbeitshaltung und ‑einstellung. Unter- stützung innerhalb der Universität oder Forschungsein-
10 https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/69403 [zuletzt abgerufen am 14.08.2023].
11 https://www.postdocnet.mpg.de/134932/survey-2022; [zuletzt abgerufen am 14.08.2023].
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richtungen sei in den seltensten Fällen gesucht worden, zum Teil, weil vorhandene Anlaufstellen sich als nicht zuständig betrachteten, zum Teil aus dem Eindruck her- aus, dass es keine Unterstützungsmöglichkeiten für Pro- fessorinnen und Professoren gebe. Die Interviewten hät- ten häufig auch den eigenen Führungsstil reflektiert und auf den Umstand verwiesen, dass die Führung eines Teams nicht Bestandteil ihrer eigenen Ausbildung gewe- sen sei.
IV. Perspektiven der Politik, des Journalismus‘ und der Wirtschaft
In seinem Impulsvortrag „Warum das deutsche Wissen- schaftssystem eine so miserable Governance betreibt – und was zu tun ist!“ empfahl Dr. h. c. Thomas Sattelber- ger, parlamentarischer Staatssekretär a.D., aus der Pers- pektive der Wissenschaftspolitik dem deutschen Wissenschaftssystem einen unabhängigen System Review, um die Personal- und Organisationsführung wissenschaftsadäquat zu modernisieren. Dabei sei von allen Akteuren anzuerkennen, dass hervorragende Wis- senschaftlerinnen bzw. Wissenschaftler in der Regel nicht auch professionell und kompetent in der Führung von Organisationen und Mitarbeitenden seien, und hierzu auch keinerlei Ausbildung erführen. Wichtig sei dabei, die Spielräume für opportunistisches Verhalten einzuschränken und die Wissenschaftsadministration personell und professionell aufzuwerten.
Kristin Haug, Journalistin beim SPIEGEL, erläuterte in ihrem Beitrag „Berichterstattung über Machtmiss- brauch an Hochschulen und Forschungseinrichtungen“, dass von Machtmissbrauch betroffene Nachwuchswis- senschaftlerinnen und ‑wissenschaftler häufig von sich aus Kontakt mit Journalistinnen oder Journalisten auf- nähmen, da sie in einer aus ihrer Sicht ausweglosen Situ- ation keine andere Unterstützung finden könnten. Dies geschehe auch häufig in Reaktion auf eine bereits erfolg- te Berichterstattung zum Thema. Während der Recher- che würden diese meist psychisch stark belasteten Perso- nen grundsätzlich ernst genommen, ihre Aussagen aber auch hinterfragt und vor einer Veröffentlichung durch weitere Recherchen gestützt. Hier sei allerdings anzu- merken, dass sich mögliche Zeugen, betroffene Organi- sationen und Professorinnen bzw. Professoren der Pres- se gegenüber häufig nicht äußern möchten, so dass er- gänzende oder kontrastierende Perspektiven denen der
Hinweisgebenden nicht immer im wünschenswerten Maß gegenübergestellt werden könnten.
Hauke Paasch, Mitglied im Vorstand der Firma Vor- werk, beschrieb aus der Perspektive der Wirtschaft unter dem Titel „Governance @ Vorwerk — Governance in ei- nem Familienunternehmen“, wie sich ähnliche Heraus- forderungen in seinem Unternehmen darstellten und welche Ansätze hier zur Lösung eingesetzt würden. Bei der Verfahrensgestaltung und ‑optimierung müsse stets zunächst die Leitfrage „Wo liegen (aktuell) die größten Compliance-Risiken für meine Organisation?“ geklärt und dann geeignete Maßnahmen umgesetzt werden. Im Bereich der Unternehmenskultur und des Umgangs mit- einander sei stets der bzw. die jeweilige Vorgesetzte für das Arbeitsklima in seinem Team verantwortlich, und bezüglich Fehlverhaltens gelte eine klare Linie der „Null- Toleranz“. Idealerweise sei Anonymität in der Konflikt- bearbeitung nicht nötig; das Unternehmen kooperiere aber mit einer externen unabhängigen Meldestelle, an die sich Mitarbeitende auch anonym mit Hinweisen auf problematische Vorgänge wenden könnten.
In der anschließenden Diskussion wurde die Frage nach dem Zusammenhang von Governance und wissen- schaftlicher Qualität bzw. Exzellenz aufgeworfen. Zu Unrecht werde häufig argumentiert, dass Maßnahmen zur Förderung eines besseren Umgangs mit Mitarbeiten- den, zur Gleichstellung von Frauen und Männern oder zu einer stärkeren Kontrolle von Forschungsorganisatio- nen die wissenschaftliche Exzellenz gefährdeten. Im Ge- genteil seien es vielmehr die intransparenten und diskri- minierenden Führungssysteme, die herausragende junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt abschreckten und so selbst Innovationskraft und Er- kenntnisgewinn der deutschen Wissenschaft beeinträch- tigen. Erforderlich sei auch ein höheres Maß an Selbstre- flektion leitender Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftler, damit sich diese der Diskrepanz zwischen ihrer Eigenwahrnehmung als „Leben für die Forschung“ und der Fremdwahrnehmung „Ausbeutung und schlechte Arbeitsbedingungen“ bewusst würden. Als wichtig für den Erfolg aller Lösungsansätze wurde auch hervorge- hoben, dass jeweils klar zu definieren sei, welche Heraus- forderungen Priorität hätten und welcher Ansatz bzw. welches Instrument für ein konkretes Problem sinnvoll sei. Etwa kämen mangelnde Diversität einerseits und Machtmissbrauch andererseits auf unterschiedlichen Wegen zustande und müssten durch unterschiedliche,
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wenn auch abgestimmte, Maßnahmen adressiert werden.
V. Lösungsansätze
Kerstin Dübner-Gee, Leiterin der Abteilung Personalent- wicklung & Chancen der MPG, stellte in ihrem Vortrag „Verantwortliche Führung in Hochleistungsorganisatio- nen“ die seit 2019 neu entwickelten Programme und Maßnahmen für Führungskräfte in der MPG vor. Zum einen seien dies strukturelle Maßnahmen, die auf eine nachhaltige Verbesserung der Arbeitskultur durch ein regelmäßiges Feedback und Monitoring abzielen, so dass die einzelnen Institute ihre jeweilig wichtigsten Hand- lungsfelder identifizieren können. Weitere Maßnahmen beträfen die bessere Sichtbarkeit und Vernetzung kon- fliktpräventiver und ‑bearbeitender Stellen sowie die Einführung speziell geschulter Konfliktlotsen, die nied- rigschwellig und bereits im Vorfeld einer Eskalation eine kollegiale Lösung von Konflikten unterstützten. Parallel dazu werde die Professionalisierung der Führungskräfte (Direktorinnen und Direktoren sowie Forschungsgrup- penleitungen) durch einen Code of Conduct und dessen verbindliche Implementierung im Arbeitsalltag ange- strebt, inklusive der obligatorischen Schulung und Men- toring neu eintretender Führungskräfte, damit diese ihre wissenschaftlichen Exzellenzansprüche mit verantwor- tungsvollem und professionellem Führungsverhalten in Einklang bringen können. Zuletzt sei eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und eine institutionalisierte Karriereförderung von Promovierenden und PostDocs in Anpassung an internationale Standards eingeführt worden.
Komplementär dazu stellte Katharina Kleinlein, eine frühere Mitarbeiterin an einem Max-Planck-Institut, in ihrem Vortrag „Case study on scientific governance: What (not) to do“ Erfahrungen aus ihrer einige Jahre zu- rückliegenden Promotionszeit vor. Sie und mehrere an- dere von Konflikten und Fehlverhalten Betroffene hätten unter 30 möglichen Anlaufstellen des Forschungsinsti- tuts, der Forschungsgesellschaft, der Universität oder dem Cluster auswählen können; darunter Konfliktbera- ter, Gleichstellungsbeauftrage, Ombudspersonen, An- waltskanzleien und Diversitätsbeauftragte, teilweise auch auf Leitungsebene. Einige Stellen seien sehr ver- ständnisvoll gewesen, hätten aber keine wirkungsvollen Unterstützung anbieten können; hingegen habe das Ge- spräch mit Leitungspersonen dazu geführt, dass zuge- sagte Vertraulichkeiten nicht eingehalten worden seien und der Rat erfolgt sei, die Zustände zu akzeptieren und
nichts weiter zu unternehmen, um die eigene Karriere nicht zu gefährden. Als Lösungsansätze forderte sie, ne- ben der Reduktion von Abhängigkeiten des wissen- schaftlichen Nachwuchses von ihren unmittelbaren Vor- gesetzten, auch verbesserte externe Regulationsmecha- nismen sowie eine bessere Ausbildung von Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftlern in Bezug auf ihre Führungs- und Vorgesetztenrollen.
Inge Bell, Journalistin und Gründerin von Bell Con- sulting, adressierte in ihrem Vortag „Alles Zicken oder was?! Warum es Fairness für Frauen und mutige Männer braucht“ insbesondere den Aspekt der konstruktiven Zusammenarbeit der Geschlechter in der Wissenschaft. Diese sei eine traditionsreiche „Branche“ mit jahrhun- dertelanger Geschichte, die stark von Hierarchie, Autori- tät und Macht gekennzeichnet und über die meiste Zeit ausschließlich von Männern ähnlichen Hintergrundes gestaltet worden sei. Dies vertrüge sich schlecht mit den Anforderungen einer modernen Wissenschaft, die von der konstruktiven Zusammenarbeit unterschiedlichster Personen lebe. Oftmals verließen daher Menschen mit hohem Potential das System, da erwartete Gleichheit bei erlebter Ungleichheit für Enttäuschung sorge. Um das Vertrauen der Mitglieder in die Organisation zu erhal- ten, sei das Empowerment sowohl von Männern als auch von Frauen auf allen Ebenen und eine „Leadership“ er- forderlich, die eine bedingungslose klare Haltung in Be- zug auf jegliche Art von Fehlverhalten vertrete. Weiter- hin sei auf allen Ebenen eine gelebte Zivilcourage von „Verbündeten“ erforderlich, die als nicht betroffene Zeu- gen von Fehlverhalten die Betroffenen unterstützten und ihre Beobachtungen öffentlich machten.
Auch Dr. Norbert Sack, promovierter Physiker und auf Hochschulen und Forschungseinrichtungen speziali- sierter Personalberater, fokussierte aus seiner langjähri- gen Beratungspraxis auf „Gender-Aspekte in Hochschul- Leadership & Governance“ und stellte die Frage, welche Aspekte in der deutschen Hochschul-Governance es weiblichen Führungspersonen erschwerten, erfolgreich zu werden und zu bleiben. Seiner Beobachtung nach sei die Führung in Wissenschaftsorganisationen deutlich anspruchsvoller als in vergleichbar großen Unterneh- men, da es sich um „hochneurotische Gebilde mit einer teildysfunktionalen Schönwetter-Governance“ handele, die durch eine hohe institutionelle Komplexität, das Prinzip der Freiheit der Wissenschaft, die öffentlich- rechtlichen Rahmenbedingungen sowie ein fehlendes bzw. schwaches mittleres Management charakterisiert seien. In den Strukturen der akademischen Selbstver- waltung seien bestimmte sinnvolle, weiblich konnotierte
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Führungsverhaltensweisen (etwa eine stärkere Inhalts- und Gemeinwohlorientierung und eine sachlichere, we- niger über Beziehungsnetzwerke laufende Führung) häufig weniger erfolgreich. Dies sei darauf zurückzufüh- ren, dass die Aufsicht sich weniger an klaren Zielen und Zielvorgaben orientiere und in den basisdemokratischen Entscheidungsprozessen starke Partikularinteressen wirksam seien. Entscheidungen würden oft weniger durch sachliche Argumente bestimmt, sondern durch strategische Allianzen und Versprechungen an Schlüs- selpersonen. Lösungsansätze seien hier vor allem eine weitere Professionalisierung der Aufsicht, eine Stärkung der Managementstrukturen sowie eine stärkere Ausrich- tung von Entscheidungen an der Zukunftsfähigkeit der Organisation.
In ihrem Schlusswort stellte Professor Dr. Birgitta Wolff fest, dass auf der Konferenz zum einen gezeigt wor- den sei, dass die Wissenschaft als System und Organisa- tion eine große Herausforderung für faire, transparente und justiziable Governancestrukturen und ‑verfahren darstelle, und es aufgrund der Selbsterhaltungstenden- zen des Systems nicht zu erwarten sei, dass sich Struktu- ren und Verfahren von selbst ändern und verbessern würden. Zum anderen seien zahlreiche vielversprechen- de Überlegungen und Ansätze für eine Optimierung
und zukunftsfähige Gestaltung ausgesprochen engagiert und konstruktiv diskutiert worden. Hier sei eine hervor- ragende Basis für weitere Entwicklungen und Optimie- rungen des Systems zu erkennen, die hoffentlich weitere Früchte tragen werde. Besonders wichtig sei in der Zu- kunft, klare Problemanalysen anzustellen und darauf ab- gestimmte, evidenzbasierte Lösungsstrategien zu entwi- ckeln. Dabei sei es erforderlich, bei einzelnen, für Ände- rungen motivierten Akteuren zu beginnen und andere über nachgewiesene erzielte Erfolge zu motivieren. Sie wünsche sich einen „Werkzeugkasten“ von Governance- und Führungsinstrumenten, deren Wirksamkeit für wis- senschaftliche Organisationen empirisch geprüft sei. Hierzu könne die Governanceforschung bereits viel bei- tragen, es seien aber noch zahlreiche Forschungsfragen offen. Besonders vielversprechend sei der Ansatz, probe- weise in Reallaboren eingeführte Maßnahmen rigoros zu evaluieren und ggf. auch wieder zu beenden, wenn diese die angestrebten Ziele nicht erreichten.
Maike Reimer ist als wissenschaftliche Referentin am Bayerischen Staatsinstitut für Hochschulforschung und Hochschulplanung in München. Sie nahm an der Konferenz als Vortragende und Mit-Organisatorin teil.
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In der Sitzung der Zweiten Kammer der Badischen Landstände1 vom 10. Mai 1819 beantragte der Freiburger Abgeordnete Johann Joseph Adrians2, die Finanzierung der Freiburger Universität solle in vergleichbarer Weise, wie die der Heidelberger Universität erfolgen:
„Ich habe angeregt, dass die Dotationen der Lan- desuniversität Freiburg nicht hinreichen, ihr jene Ein- richtung zu geben, die dem Bedürfnis der Zeit angemes- sen ist … und darauf den Antrag gemacht, die hochan- sehnliche Kammer wolle Se. Königl. Hoheit den Groß- herzog um den Vorschlag eines Gesetzes bitten, wodurch der Landesuniversität Freiburg aus der allgemeinen Staatskasse ein hinreichender Zuschuss zuteil wird.
Dass die Universität Freiburg so wie jene in Heidel- berg als constitutionelle Landesanstalt zu betrachten und in ihrem Fortbestand gesichert sei, spricht der § 21 der Verfassungsurkunde aus.3 Auch ist dieses die Vor- aussetzung, .…dass sie eine gemeinnützige Anstalt sei, die dem Land den meisten und edelsten – dem Staats- zweck vorzugsweise entsprechenden – Gewinn bringe, nämlich Bildung des Geistes und Herzens, Religion und Sittlichkeit, Kunst und Wissenschaft, Überflus an tüchti- gen Männern für alle Staatsdienste und Wirkungskreise geistiger Tätigkeit.
Ich komme auf die Angelegenheit der Universität Freiburg: Die jährliche Einnahme derselben beläuft sich auf 36.000 fl. … Dass diese Einnahme nicht hinreicht, um die zum fruchtbringenden Dasein der Universität not- wendigen Ausgaben zu decken, ist wohl ohne Erörte- rung klar. Ich bemerke nur, dass gemäß des mir vorlie- genden Etats … ein jährliches Defizit von 2 bis 3.000 fl. sich ergibt.
Dagegen hat die Heidelberger Universität eine jährli- che Einnahme aus der Staatskasse von 70.000 fl., beina- he das Doppelte von den Einkünften der Freiburger. Welcher Baden’scher Bürger und welcher Freund der Wissenschaften sollte sich nicht freuen über Heidelbergs Wohlstand, der so herrliche Früchte fortwährend er- zeugt. … Auch heischt es die Ehre des Staates, dass eine Anstalt, die seinen Namen trägt, an den Mitteln zur Er-
- 1 Verhandlungen der Zweiten Kammer der Ständeversammlung des Großherzogstums Baden, 3. Heft, 1819, S. 109 ff. – Der Text ist sprachlich etwas geglättet.
- 2 Oberbürgermeister der Stadt Freiburg; vgl. den Artikel in Wikipe- dia.
- 3 Nach § 21 der Badischen Verfassung von 1818 sollen „die Do-
reichung ihres Zweckes keinen Mangel leide. … Es sei er- laubt, diese Betrachtungen auf die Universität Freiburg anzuwenden. Dieses einst blühende literarische Gemein- wesen hat durch unselige Unbilde der Zeit die härtesten Schläge erfahren. Es hat, wie Heidelberg, seine Besitzun- gen auf dem linken Rheinufer verloren, aber es ist nicht, wie seine Schwesterschule, so glücklich gewesen, dafür den reichen Ersatz in der Großmut eines neuen Stifters zu finden. … (Kurzum) es ist kein freudiger Fortbestand des Gedeihens und des Glanzes, sondern ein kümmerli- cher der Beschränkung und der durch ökonomische Sorgen gehemmten Wirksamkeit: Lehrstellen sind unbe- setzt, berühmte Männer können nicht berufen werden, die Bibliothek leidet an Dürftigkeit der Zuflüsse usw.
Gleichwohl hat Freiburg die nämlichen Ansprüche auf die Sorgfalt des Staates wie Heidelberg: beide sind Landesuniversitäten, beider Ruhm und Gedeihen gerei- chen gleichmäßig dem Staat zur Ehre und zum Nutzen. Die eine ist für die oberen Provinzen so wichtig und viel- leicht wichtiger, als die andere für die untere; die eine wird von den Katholiken, die andere von den Protestan- ten als ein kostbares Besitztum geachtet. Und wenn dar- in ein Unterschied liege, dass Heidelberg unmittelbar aus der Staatskasse und Freiburg aus eigenen Stiftungsgütern seine Einnahmen zieht, so möchte gerade dieser Um- stand zur Rechtfertigung des Anspruchs wenigstens auf einige Unterstützung aus derselben Staatskasse dienen. Wird doch diese Staatskasse aus Beiträgen aller Bürger gebildet, die Bürger Freiburgs und des Oberlandes tra- gen also mit an der Unterhaltung der Universität Heidel- berg bei; sollten nicht auch die Unterländer geneigt sein und es billig finden, wenigstens ein Sechsteil von dem, was zu ihren Gunsten vom Oberlande bezahlt wird, auch zu Gunsten dieses Oberlandes zurückzuzahlen? .….
Ich will bemerken, dass mit einem Zuschuss von jährlichen 15 bis 18.000 fl. die Universität Freiburg nach den besonderen Vorteilen ihrer Lage und Verhältnisse ganz gewiss in einen blühenden, dem Interesse, wie der Ehre des Baden’schen und des Deutschen Vaterlandes entsprechenden Zustand würde versetzt werden. Glei-
tationen der beyden Landesuniversitäten und anderer höherer Lehranstalten, sie mögen in eigenthümlichen Gütern und Gefällen oder in Zuschüssen aus der allgemeinen Staatscasse bestehen, … ungeschmälert bleiben“, ein Wortlaut, dem Adrians eine Bestands- garantie der beiden Landesuniversitäten entnimmt.
Landständische Forderungen einer ausreichenden Finanzierung der Universität Freiburg
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
252 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 1 (2023), 251–252
ches Interesse am Wohlstand aller Badener und eines je- den – ist die Frucht der vollkommenen Verbindung sei- ner Teile durch die Constitution, die wir hier ja so in Ein- tracht pflegen, und mich hoffen lässt, dass meine Motion nicht umsonst war“.
Die Berufung auf die Universitätsgarantie der Badi- sche Verfassung, auf die gleiche Finanzausstattung der badischen katholischen und protestantischen Universi- tät, auf die universitäte Finanzierung aus dem unterlän- dischen und oberländischen Steueraufkommen und auf hieraus hergeleitet die finanzielle Gleichbehandlung der beiden Landesuniversitäten brachte die in der Sitzung der Zweiten Kammer anwesenden Vertreter der Landes- regierung in Zugzwang. Ihr dilatorischer Vorschlag bot die Einsetzung einer Kommission an, die in erster Linie
prüfen solle, ob die Administration der Freiburger Uni- versität so verbessert werden könne, dass sie keines Lan- deszuschusses bedürfe.4
Die Abgeordneten Duttlinger5 und Kern6 stimmten in ihren Redebeiträgen der Einsetzung einer Kommissi- on zu, aber nicht der Begrenzung ihres Prüfauftrages. Kern verlangte sehr deutlich: „Die Ehre der Regierung und der Stände fordert, die Freiburger Universität so zu stellen, dass sie wie ihre Schwester allen Forderungen entsprechen könne, welche die Zeit an ein solches wis- senschaftliches Institut mache“.7
Beschlossen wurde: „Bei jetzt erfogter Abstimmung wurde mit Stimmeneinhelligkeit die Beratung des An- trags und die Verweisung auf die Abteilungen beschlossen“.8
4 Verhandlungen aaO, S. 105
5 Duttlinger war Professor an der Universität Freiburg und reprä-
sentierte den Wahlkreis von Waldshut, St. Blasien, Tiengen; zu ihm von Weech, Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 5, 1877, S. 498 f.
6 Kern war Regierungsrat in Freiburg und repräsentierte in der Zweiten Kammer die Stadt Freiburg.
7 Verhandlungen aaO, S. 107 8 Verhandlungen aaO, S. 107.