Die Absicht einer möglichst guten Ausbildung der Jugend ist vornehmlich auf zwei Dinge zu richten: (1) auf die noch in den Schulen sich befindende Jugend, (2) auf die bereits zu Chargen und Bedienungen2 tüchtigen Per- sonen.
Beim ersten Punkt ist bekannt, was für ein großer Missbrauch bei dem Studieren vorgeht. Ein Jeder, der nur etwas Mittel hat, will seine Kinder studieren lassen; der Sohn ist gewidmet, künftig einen Geistlichen, einen Advokaten oder einen Mediziner abzugeben, obgleich derselbe den Qualitäten nach besser zu einem Hand- werk, zum Ackerbau oder zum Pferdeknecht geschickt ist. Daher geschieht es, dass viele in ihren Studien keinen Fortschritt machen, zu keinen Bedienungen zu gebrau- chen, also dem Vaterland zur Last sind, in Armut geraten und den Eltern vergebliche Kosten verursachen. Man kann zwar diese Freiheit niemandem versagen, es wäre aber sehr dienlich, den Rektoren und den Lehrern der großen und kleinen Schulen überall scharf zu befehlen, dass sie unter dem großen Haufen der studierenden Ju- gend diejenigen, die sich vor Anderen hervorheben, sich durch ihr Gedächtnis und ihren Verstand unterscheiden … der Obrigkeit jeglichen Ortes zu melden. Dabei sollen sie allen Fleiß auf Informationen verwenden, wozu die-
selben am ehesten hinstreben und sie nicht zu solchen Wissenschaften führen, zu denen sie keine Lust haben. Denn in den Schulen ist es ein großer Fehler, dass man Alle auf gleiche Art traktiert, und zuweilen einen jungen Menschen, der einen natürlichen Trieb zur Mathematik oder zu anderen Wissenschaften hat, mit Gewalt … mit der griechischen Sprache oder ihm konträren Dingen plagt.
Die vortrefflichen Ingenia3 könnten den örtlichen Behörden oder gewissen hiermit beauftragten Personen gemeldet werden, damit man Sorge tragen kann, denen (falls sie selbst keine Mittel haben) zu Hilfe zu kommen, sie zu ermuntern und in allem förderlich zu sein. Von diesen sollten auch billig die Stiftungen, Stipendien4 und anderen Wohltaten festgelegt und keinesfalls den Un- würdigen, aus Gunst oder auf besondere Weisung,5 zu- gewendet werden. Und wenn die Stiftungen nicht ausrei- chen, müsste eine proportionierte Beihilfe ex cassa pub- lica6 gereicht werden, damit ein guter Baum die ge- wünschten Früchte tragen kann. Diese würden nicht viel kosten, weil sich außerordentliche Ingenia so häufig sich nicht finden. Die Unfähigen, zum Studieren nicht Tüch- tigen könnten abgewiesen und ihren Eltern … zurückge- schickt werden.
1 Aus Johann Heinrich Gottlob Justi, Deutsche Memoires, oder Sammlung verschiedener Anmerkungen, die Staatsklugheit,
das Kriegswesen, die Justiz, Morale, Oeconomie, Commerci- um, Cammer- und Polizey- auch andere merkwürdige Sachen betreffend, welche im menschlichen Leben vorkommen, Leipzig 1741, S. 543 f. Der Text aus dem Erstlingswerk des seiner Zeit ein- flussreichen Staatswissenschaftlers und Kameralisten ist zwecks
besserer Lesbarkeit sprachlich überarbeitet.
2 Altertümlich für berufliche Arbeit.
3 Altertümlich für Begabungen.
4 Zu Stipendien siehe Heft 1/2023 unter Ausgegraben. 5 Justi verwendet hier den Begriff der „Intercession“. 6 Aus dem öffentlichen Haushalt.
Johann Heinrich Gottlob Justi
Über die studierende Jugend1
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
128 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 127–128