Gedenken an Helmut Engler (14.04.1926 — 25.10.2015)
Rektorat und rechtswissenschaftliche Fakultät der Uni- versität Freiburg haben am 25. Oktober 2016 in einer Fei- er ihres ein Jahr zuvor verstorbenen Mitglieds Helmut Engler, ordentlicher Professor für Bürgerliches Recht und Zivilprozessrecht an der Universität Freiburg und von 1978 bis 1991 Minister für Wissenschaft und Kunst des Landes Baden-Württemberg gedacht. Sie haben sein wissenschaftliches Werk, vor allem seine Zeit als Wis- senschaftsminister gewürdigt, in die etwa die Gründung der Berufsakademien (heute duale Hochschulen) fällt.
Helmut Engler war auch Minister für Kunst und so zuständig auch für Literatur. Deren Förderung war ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit. Sinnbild dafür ist sein En- gagement für die alten Sprachen im Rahmen der von ihm fast zwei Jahrzehnte geleiteten „Stiftung Humanis- mus heute“. Mit Klaus Bartels, dem Autor des nachfol- genden Beitrags, verband ihn in der Stiftung eine der Sprache gewidmete Freundschaft. Engler pflegte in sei- ner täglichen Arbeit sorgsam die Sprache und ging der Bedeutung von ihm (und anderen) gebrauchten Wörter nach. Interesse für deren Leben war ihm eigen. Indem OdW den Beitrag von Klaus Bartels wiedergibt, möchte sie solches Interesse auch bei anderen in der Wissen- schaft Tätigen neu wecken.
Manfred Löwisch
Wörter, einfach Wörter: Das ist die schlichteste Ware, die ein Philologe bringen kann: Die Wörter sind der Stoff, aus dem die Texte sind, von den lyrischen Gedichten bis zu den Gesetzestexten. Und sie leben darin ihr ureigenes verborgenes Leben. Nehmen wir nur gleich dies Wört- chen „Text“ beim Wort: Da erscheint hinter unserem „Text“ ein lateinisches texere, „weben“; da verwandelt sich der schwarzweisse „Text“ in ein aus den Kettfäden und Schussfäden der Wörter gewobenes farbiges „Gewe- be“. Soweit wir sehen, hat Cicero als erster das Weben von den Textilien auf die Texte übertragen. Er schreibt an einen Freund: „In einer Privatklage gebrauchen wir eine eher fachliche, in einem politischen Prozess eine eher kunstvolle Sprache; einen Freundesbrief dagegen pflegen wir aus ganz alltäglichen Wörtern zu weben – lateinisch: texere solemus – oder wieder deutsch: zu tex- ten“ (Briefe an Freunde 9, 21, 1).
Wortgeschichte: Zum einen Teil geht es da um Sprach- geschichte: um Sprachverwandtschaften und Lautgesetze, um den grossen Baukasten aus Präfixen vorneweg, Wort- stämmen und Suffixen hinterdrein. Zum anderen Teil geht es da um Kulturgeschichte: um die so vollkommen mensch- lichen Lebenswege der Wörter durch die Zeiten und die Sprachen, ihre Bedeutungssprünge und Beziehungskisten, ihr Aufsteigen und ihr Wiederabsinken, ihr abenteuerliches Hakenschlagen querfeldein. Da gilt allemal, frei nach der lustigen Person im „Faust“: „Greift nur hinein ins volle Wörterleben! … und wo ihr’s packt, da ist’s interessant.“
Und oft genug auch irritierend. Schlagen wir auf der Fährtensuche nach einer „Kanzlei“ oder einem „Kanz- ler“ im guten alten „Georges“ nach, so finden wir da un- ter dem Stichwort cancellarius zunächst ein Substantiv mit der Bedeutung „Türsteher“ oder „Kanzleidirektor“ und dann ein Adjektiv mit der Bedeutung „hinter Git- tern gemästet“. Was in aller Welt hat das mit einem „Kanzler“ oder gar mit einer „Kanzlerin“ zu tun? Die „Gitter“ bringen uns auf die rechte Fährte. Ein „Latten- zaun mit Zwischenraum, hindurchzuschaun“, die Latten über Kreuz schräggestellt, hieß im Lateinischen cancelli, im Plural: „die Latten, die Schranken“. Daher kommt die Bezeichnung cancellarius, „der an den Schranken“, für den Gerichtsdiener, der zwischen dem Gericht und den Parteien vermittelte, Schriftsätze entgegennahm und Ur- kunden aushändigte, und daher rührt dann, nebenbei, das Qualitätsprädikat cancellarii für die hinter Gittern – in Käfighaltung – gemästeten Wacholderdrosseln.
Ein solcher cancellarius „an den Schranken“ zwi- schen Gericht und Parteien, Behörde und Publikum hat- te im Sinne des Wortes eine Schlüsselfunktion inne. Von dem spätantiken cancellarius, „Bürochef, Kanzleichef“, im Dienst eines hohen Magistraten ist der Titel auf den mittelalterlichen kaiserlichen kanzelaere oder auch schon kurz kanzler übergegangen; auch der vermittelte ja sozusagen „an den Schranken“ zwischen Kaiser und Volk.
Die gleichen cancelli haben dann auch der „Kanzel“ in der Kirche den Namen gegeben: An der Schranke zwi- schen Chor und Schiff hatte das erhöhte Lesepult seinen Platz, von dem herab der Priester seine Predigt hielt. Die Kanzel ist sozusagen das Predigtpult „an den Schran- ken“. Und von der hohen Warte dieser Kirchenkanzel ist das Wort dann weiter auf die Aussichtskanzel hoch über Berg und Tal übergesprungen und schliesslich noch auf den Hochsitz der Pilotenkanzel hoch über der Startpiste.
Klaus Bartels
Vom Leben der Wörter
Ordnung der Wissenschaft 2017, ISSN 2197–9197
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Damit sind wir, scheint es, nun weit jenseits aller Latten- zäune und überhaupt aller Gitterwerke. Und doch nur solange, bis der Pilot da oben in seiner Pilotenkanzel eine kabelknabbernde Maus entdeckt und dann auf der großen Tafel in der Abflughalle plötzlich die anglolatei- nische Anzeige Cancelled, neudeutsch „gekänzelt“, er- scheint: Das lateinische cancellare, eigentlich „kreuzwei- se vergittern“, bedeutete ja schon unter römischen Juris- ten soviel wie „streichen, tilgen“, entsprechend unserem „Ausixen“ auf der alten Schreibmaschine.
Familienverhältnisse, Verwandtschaftsverhältnisse: Da gibt es wie unter den Menschen, so unter den Wör- tern nahe Bluts- und Stammverwandte, die sich so weit auseinandergelebt haben, dass sie nichts mehr voneinan- der wissen wollen. Wer denkt denn, aller augen- und oh- renfälligen Familienähnlichkeit zum Trotz, bei einem Bau-„Kran“ gleich an einen „Kranich“, griechisch géra- nos, dessen lautmalender Name schon in klassischer Zeit an die gleich langhalsigen und gleich laut krächzenden Bau- und Theaterkräne übergegangen ist? Wer denkt denn bei einem Bund knackiger Radieschen, wörtlich: „Würzelchen“, gleich an einen Links- oder Rechts-Radi- kalen, diese blindwütigen „Wurzelburschen“, die alles, was ihnen nicht passt, immer gleich mit der Wurzel aus- reißen wollen?
Wo die Bedeutungsbezüge die Verwandtschaft nicht mehr erkennen lassen, werden die augen- und ohrenfäl- ligsten Familienähnlichkeiten – wie bei jenen „Texten“ und den „Textilien“ – nicht mehr wahrgenommen. Wer denkt denn bei einem „Konjunktur“-Aufschwung noch an die glückverheißende Planeten-Konjunktion, die Pla- neten-„Verbindung“ am Himmel, die ihn im Voraus an- gekündigt hat, oder bei einem „Konjunktur“-Rückgang an die grammatischen Konjunktionen vom Schlage eines „Wenn“ und „Aber“ oder an die irrealen Konjunktive vom Schlage eines „Wäre da doch“ oder „Hätte ich doch“, die dann im Nachhinein zu hören sind? Wenn ein neues Fußball-Stadion aus der Projektierung in sein Planungs- Stadium eintritt, wechseln die Wörter auf der Schwelle ein fröhliches Augenzwinkern.
Und zugleich gibt es da, neben diesen verleugneten Bluts- und Stammverwandten, immer wieder bloße Doppelgänger, die einander täuschend ähnlich sehen, auch aufeinander Bezügliches bedeuten – und doch ver- wandtschaftlich nichts miteinander zu tun haben. So ist es, aller Sachbezüglichkeit zum Trotz, mit dem „Ball“, den der Stürmer in hohem Bogen ins Tor schießt, und der „Ballistik“, die derlei Geschossbahnen berechnen könnte: Da ist auf der einen Seite der prall aufgeblasene „Ball“ gleichen Stammes mit dem prall geschnürten Stoff-„Ballen“ und dem muskelgestaltigen, „mäuschen“- gestaltigen Hand-„Ballen“; und da ist auf der anderen
Seite die von dem griechischen Verb bállein, „werfen“, abgeleitete „Ballistik“ gleichen Stammes mit dem festli- chen anderen „Ball“, auf dem die Tänzer ihre Arme und Beine herumwirbeln – als ob es da um die Flugbahnen außer Kontrolle geratener, quer durch den Ballsaal ge- wirbelter Tanz-Partnerinnen ginge.
Aus der „Atmosphäre“, einem neuzeitlichen, aus griechischen Elementen destillierten Retortenwort, weht uns nicht etwa ein germanischstämmiger „Atem“, son- dern eine griechische atmé entgegen. Bei ihrem ersten Auftritt bei Hesiod (Theogonie 862) bezeichnet diese atmé einen sengenden, dörrenden „Gluthauch“ über der vom Blitz des Zeus getroffenen „brennenden, schmel- zenden Erde“. Und später bei Aischylos (Agamemnon 1311) spricht die Seherin Kassandra von dem atmós, dem „Modergeruch“, der ihr aus dem Palasttor von Mykene „gleichwie aus einem Grab“ entgegenschlägt. Gluthauch und Moder: Was uns aus dieser zwei, drei Jahrtausende tiefen Lexikonspalte glutheiß und feuchtkalt in die Nase steigt, kann einem heute angesichts der aktuellen Kli- maszenarien und Kassandrarufe ja schier den Atem verschlagen.
Vollends verwirrend wird das Vexierspiel dieser Doppelgänger, wenn das Kassationsgericht eine Geld- strafe kassiert und die Gerichtskasse dann nichts mehr zu kassieren hat. Bei einem Doping-„Test“ – eigentlich einer alchemistischen „Schmelztiegelei“ –, der einem Radrennfahrer allzu männliche Testosteronwerte attes- tiert, haben wir es sogar mit einem wortgeschichtlichen Dreifachgänger zu tun, und bei dem super-männlichen Raser, dessen rasante, das heißt ja: alle Tempolimit-Ta- feln wegrasierende Fahrt zu übler Letzt unterm grünen Rasen endet, haben wir noch einmal einen solchen veri- tablen Dreifachgänger vor uns.
Manchmal hilft das ungelehrte „Volk“ mit seinen wortdeutenden, sinnstiftenden „Volksetymologien“ ei- ner solchen Beinahe-Begegnung noch ein wenig nach. Die Murmeltiere in den Bündner Bergen murmeln ja nicht mit dem Bergbach um die Wette. Darin stecken la- teinische mures montani, „Bergmäuse“ von der kolossa- len Art, die im Rätoromanischen einen tausendjährigen Winterschlaf gehalten haben, dann im Mittelhochdeut- schen als kauderwelsche mürmendin erscheinen und sich schließlich zu ordentlichen „Murmeltieren“ gemau- sert haben – da konnte man sich bei dem Wort doch wie- der etwas denken. Aber mit diesem „Sich-Mausern“ ha- ben wir die Mäusewelt schon wieder verlassen – dahin- ter steckt ein lateinisches mutare; die „Mauser“ der Vögel ist eine mutatio vestis, ein „Wechsel“ des Federkleids.
Nicht alles ist Griechisch oder Latein, was auf den ersten Blick antikisch aussieht. Es passte ja gut, wenn wir in dem klopfenden, stampfenden „Rap“-Sänger einen
homerischen Rhapsoden ausmachen dürften oder wenn wir diesen „Rap“ an dem von Cicero getadelten „rasen- den, in seinem tollen Tempo unverständlichen Wort- schwall“, dieser „rapida et celeritate caecata oratio“ (Bru- tus 264) festmachen könnten. Aber das sind Holzwege: Der „Rap“ ist germanischen Ursprungs, nichts als Laut- malerei für ein lautes Klopfen und Pochen.
Aber manches ist tatsächlich Griechisch oder Latein, was gar nicht mehr antikisch aussieht. Da ist zum Bei- spiel die „Brezel“, die ihre Herkunft von den erst griechi- schen, dann lateinischen bracchia, den „Armen“, mit ih- ren butterbestrichenen Schultern und ihren kreuzweise übereinander geschlagenen Armen ja noch ganz an- schaulich vor Augen stellt. Der Weg von den lateinischen bracchia zu unserer „Brezel“ ist mit einem spätlateini- schen bracciatellum, einer althochdeutschen brezzitella und einer mittelhochdeutschen brezel bestens ausgeschildert.
Oder da ist der scheinbar so urdeutsche Dorf- „Weiher“: Darin steckt ein lateinisches vivarium, wört- lich: ein „Lebend-Becken“. In der Antike bezeichnete dieses vivarium die am Meeresstrand künstlich angeleg- ten Salzwasserbecken, in denen Lucullus die auf Vorrat gefangenen Salzwasserfische bis auf Weiteres sich tum- meln ließ; im Mittelalter bezeichnete dieses vivarium – oder dann, im Munde der nicht lateinkundigen Laien- brüder, der „Weiher“ – den klösterlichen Fischteich, in dem die Ordensbrüder die fetten Karpfen für die nächs- ten Fastenzeiten heranzüchteten.
In unserem „Grill“ verbirgt sich eine lateinische crati- cula, ein hölzernes „Flechtwerk“ oder ein eiserner „Grill- rost“. Auf dem Grillrost der Wortgeschichte, auf dem Weg aus der alten in die neuen Sprachen, hat sich diese Neun-Buchstaben-craticula wie eine wirkliche Grillade zu unserem Fünf-Buchstaben-„Grill“ zusammengezo- gen, aber das Pünktchen auf dem „i“ genau in der Mitte dieses à point gebratenen „Grills“ ist noch ein Pünktchen blutige Antike.
Wer diesen weitverzweigten Familiengeschichten, diesen verschlungenen Wörterlebensläufen nachspürt, findet leicht Hundertschaften derart merkwürdiger sol- cher Wörterlebensläufe mit ihrem kunterbunten, bezie- hungsreichen Auf und Ab und Hin und Her durch die Zeiten und die Sprachen. Unsere Sprache ist ja unser ur- menschliches Menschenwerk; da hat jedes einzelne Wort wie jeder einzelne Mensch sein eigenes Leben; da ist kein Wörterleben wie das andere, so wenig wie ein Men- schenleben wie das andere.
Wenn die Schweizer Pfadfinder ihrem Stammführer mit einem kräftigen „B‑R-A-V‑O!“ für das Herbstlager danken, mögen diese Rufe allenfalls noch italienisch tö-
nen; aber was steckt alles hinter einem solchen „Bravo!“: Erst bei Homer die „barbarophonen“, lautmalend „bla- bla-bla-tönenden“ kleinasiatischen Fremden, bei denen die Griechen immer nur „Bahnhof“ verstanden; dann bei Herodot die im abschätzigen Sinne „barbarischen“ Perser mit ihrer aus griechischer Sicht unwürdig-herri- schen, menschenverachtenden Königsherrschaft; dann in der frühen Neuzeit der italienische „Bravo“ im Sinne des kaltblütigen Killers und im Deutschen der tapfer für seinen Kriegsherrn dreinschlagende „brave“ Lands- knecht; dann, mit dem alles umkehrenden Sprung von den kriegerischen Söldnertugenden zu den friedlichen Bürgertugenden, der eben gerade nicht dreinschlagende biedermännisch „brave“ Bürger, und dann zuletzt die begeisterten „Bravo!“-Rufe des Opernfans für den Hel- dentenor und seine Bravourarie – welch ein Wörterleben über die Jahrtausende hinweg!
Ich erinnere mich noch, wie ich mir als junger Schü- ler einen „Erz“-Engel mit stahlblau schimmernden, me- tallisch klingenden Flügeln vorstellte. Beim Griechisch- lernen kam ich dann dahinter, dass dieser herrliche Erz- engel, griechisch archángelos, wörtlich verdolmetscht einfach ein „Erster Engel“ ist; das griechische Verb ár- chein, das sich im „Architekten“, dem „Ersten Baumeis- ter“, und in der „Archäologie“ noch prägefrisch erhalten hat, bedeutet „anfangen, der Erste sein, herrschen“.
Und ich erinnere mich noch an das Aha-Erlebnis, mit dem ich in unserem Hausarzt einen Chefarzt ent- deckte. Der griechische Ehrentitel archiatrós, „Erster Arzt“, war den Leibärzten der hellenistischen Könige und den Stadtärzten der großen Metropolen vorbehal- ten, bis die Titelinflation in der Spätantike die Ärzte alle- samt zu solchen archiatroí, lateinisch archiatri, aufstei- gen ließ. Aber dann schnurrte im lateinischen Westen, wo derlei griechische Titel keine sprechenden Titel mehr waren, der viersilbige archiater zu einem althochdeut- schen arzat, einem mittelhochdeutschen arzet und schliesslich zu einem einsilbigen „Arzt“ zusammen. Seit- her hat ein zweiter Beförderungsschub die Titelinflation wenigstens teilweise wieder ausgeglichen und neue „Chefärzte“, eigentlich ja schon „Chef-Chefärzte“ her- vorgebracht. Das ist, wie wenn nächstens alle Ärzte in ei- nem weiteren Inflationsschub zu Chef-Ärzten avancier- ten, alle diese „Chef-Ärzte“ allmählich zu „Schärzten“ zusammenschnurrten und ein dritter Beförderungs- schub nochmals neue Chef-Schärzte, eigentlich dann schon „Chef-Chef-Chefärzte“ generierte.
Sie haben sich jetzt vielleicht an ähnliche wortge- schichtliche Aha-Erlebnisse erinnert. Ja wirklich? fragen wir uns da auf den ersten Blick, und Ja natürlich! sagen wir uns auf den zweiten Blick, und damit sind wir unver-
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sehens an zwei echt Aristotelische Antiquitäten geraten. Dieses „wirklich“ und dieses „natürlich“: das sind, recht betrachtet,dochrechtmerkwürdigeWörter.Wenneiner mich ungläubig fragt, ob der „Skandal“ denn „wirklich“ nach dem fein justierten Stellholz in der Mausefalle hei- ße – was ist da eigentlich am „Wirken“? Und wenn ich ihm dann erkläre: Ja, „natürlich“, dieses fein justierte Stellholz heiße im Griechischen eben skándalon, und da lasse man besser die Finger davon – was hat das eigent- lich mit der „Natur“ zu schaffen? Sehen wir uns hier nur jenes „wirklich“ etwas näher an – und dazu schalten wir jetzt 99 Sekunden Zoologie ein:
„Wirklich“ und „Wirklichkeit“: das sind Lehnüberset- zungen aus dem griechischen Begriffspaar dynamis und enérgeia, lateinisch „Potenzialität“ und „Aktualität“, deutsch „Möglichkeit“ und „Wirklichkeit“, mit dem Aristoteles das alte Problem von Ei und Huhn wenigs- tens begrifflich hatte lösen wollen. Das Ei, erklärt Aristo- teles, sei dynámei, „dem Entwicklungspotenzial nach“, lateinisch potentialiter, zu deutsch „möglicherweise“, ein Huhn, insofern als vielleicht einmal eines daraus werden könne; das ausgewachsene Huhn sei energeíai, „dem Am-Werke-Sein nach“, lateinisch actualiter, zu deutsch „wirklich, in Wirklichkeit“, ein Huhn, insofern als es nunmehr so recht hühnermässig werke und wirke – wo- bei dieses Werken und Wirken hier im Körnerpicken und Scharren, Eierlegen und Gackern besteht. Vom Misthaufen herab hören wir einen stolzen Hahn die schuldige Political Correctness anmahnen, und natür- lich – hier wirklich „natürlich“ – zu Recht: Auch er ist mit seinem Krähen ja wirklich „am Werk“ und damit „wirklich“ ein Hahn.
Menschenkarrieren, Wörterkarrieren: Da gibt es ne- ben derlei unwahrscheinlichen Abstürzen von der ho- hen Philosophie in die alltägliche Umgangssprache gera- desounwahrscheinlicheAufstiege,wiezumBeispielden des griechischen Allerweltswörtchens autós, entspre- chend unserem deutschen „selbst“, das im letzten Jahr- hundert über das „Automobil“ und den „Automaten“ zu einem sprachlichen Leitfossil unseres technischen Zeit- alters geworden ist. Wer im Deutschen sagt „mein Auto“, sagt griechisch ja buchstäblich „mein Selbst“ – und meint doch nicht sein eigenstes, innerstes Selbst, an dem sein Selbstverständnis und sein Selbstbewusstsein hängt, sondern nur sein „Automobil“, sein ohne Pferde von Fleisch und Blut kraft eigener Pferdestärken selbstanfah- rendes „Selbstbewegliches“.
Dieses „Auto-mobil“, vorne Griechisch, hinten La- tein, ist ein zweisprachiges Zwitterwesen, wie im griechi- schen Mythos die Chimäre: „Vorne Löwe“, sagt Homer, „hinten Drache …“ Kein Wunder, dass dieses zweispra- chige „Auto-mobil“ seinen lateinischen Echsenschwanz,
das „-mobil“, bald einmal abgeworfen hat; die Zoologen sprechen bei derlei Echsen von einer „Autotomie“, einer „Selbstverstümmelung“. Im nah verwandten Fall des „Omnibus“, dieses Automobils „für alle“, eines simplen Dativs Plural, hat umgekehrt der Schwanz den Rumpf, das „Omni-“, abgeworfen und ist seither als „Bus“ allein durch die Welt kutschiert. Aber nach dieser doppelten Autotomie ist es zu guter Letzt doch noch zu einem Hap- py End gekommen, als der griechische „Auto“-Rumpf und der lateinische „Bus“-Schwanz sich glücklich zu ei- nem neuen griechisch-lateinischen Zwitterwesen, zum „Auto-bus“, vereinigten: Das ist eine echt automobile Beziehungskiste.
Andere Wörter springen fröhlich sozusagen als Quer- einsteiger von einem Lebenskreis zum anderen, von ei- ner Bildlichkeit zur anderen:
So ist das griechische kéntron, eigentlich der „Sta- chel“ der Bienen und Wespen und der „Sporn“ der Häh- ne und der Reiter, in der Platonischen Akademie über die Spitze des Zirkels zum Fachwort für den Mittelpunkt, sozusagen den „Stachelpunkt“ des Kreises geworden und hat in der Folge über das lateinische centrum allen möglichen gar nicht mehr stachligen, gar nicht mehr spitzigen Zentren, Centers und Zentralen den Namen gegeben;
so ist die ägyptische Königin Berenike II. über die ihr zu Ehren benannte ostlibysche Hafenstadt Berenike alias heute Bengási und einen wieder nach diesem Herkunfts- ort benannten Lack, lateinisch veronice, italienisch ver- nice, französisch vernis, englisch varnish, bei uns „Fir- nis“, unfehlbar Ehrengast bei allen festlichen Vernissa- gen geworden. Bei den Gemälde-Vernissagen des 19. Jahrhunderts legte der Künstler ja tatsächlich noch letzte Hand und schließlich letzten Lack an seine Bilder.
Lassen Sie sich anstecken von diesem philologischen, wortgeschichtlichen Spleen! Hinter dem englischen „Spleen“ steckt ja auch schon wieder Griechisches: ein pathologischer splen, in diesem Fall eine von fortge- schrittener Philologitis befallene „Milz“. In diesen Wort- geschichten zeigt sich die Sprache in ihrem ureigenen urmenschlichen Leben. Wie auf dem Ausgrabungsfeld die alten Steine und Scherben, so beginnen auf dem ge- schichtsträchtigen Boden der Sprache die alten und neu- en Wörter zu sprechen und mit ihrer eigenen Geschich- te überhaupt Geschichte zu erzählen.
Wenn wir die „Rakete“ nach ihrer Wortgeschichte fragen, so erinnert sie uns an die ferne Zeit, in der ein häuslicher Spinn-„Rocken“ um der bloßen äußeren Ähnlichkeit willen zuerst den chinesischen Feuerwerks- körpern und dann den amerikanischen „Apollo“-Mond- Raketen und den europäischen „Ariane‑V“-Raketen sei- nen Namen leihen konnte. Und zu diesen „Ariane“-Ra-
keten kann ich Ihnen jetzt nach all dem Alten vielleicht noch etwas Neues sagen – und etwas, an dem Helmut Engler seine besondere Freude hatte.
Ariane, Ariadne – das ist doch die mit dem Faden, den Theseus beim Hineingehen in das Labyrinth abwi- ckeln und dann zum Hinausfinden wieder aufwickeln sollte, dem „Ariadnefaden“, der seither zum alles und je- des vernetzenden „Leitfaden“ geworden ist. Mittlerweile gibt es hunderterlei nun nicht mehr gesponnene, son- dern getextete, „gewobene“, solche „Leitfäden“ durch hunderterlei Labyrinthe. Aber welcher Leitfaden leitet uns jetzt von der alten Ariadne auf Kreta zu der neuen „Ariane V“ auf Kourou? In einem Schweizer Fernseh- Magazin kam ich einmal mit einem leitenden Raketen- techniker auf Kourou zusammen, und der gab mir die folgende Erklärung: Zuerst sei mit dem europäischen Raumfahrtprogramm alles, aber auch alles schiefgelau- fen; doch dann habe ein neuer Projektleiter nochmals ganz von vorne angefangen und die Sache vom Kopf auf
die Füße gestellt. Angesichts dieses Neubeginns habe die Europäische Raumfahrtagentur die Rakete dann nach der mythischen Ariadne benannt: „Die hat damals doch auch“, sagte er, „aber das wissen Sie ja viel besser als ich – die hat damals doch auch ihren hoffnungslos verknote- ten Faden einfach mitten durchgehauen!“
Prof. Dr. phil. Klaus Bartels, geb. 1936, Philologe, lebt in Kilchberg bei Zürich.
Buchpublikationen: „Veni vidi vici. Geflügelte Worte …“ (15. Auflage 2016) und ein „Lesebuch“ dazu: „Geflügelte Worte aus der Antike – woher sie kommen und was sie bedeuten“; die Wortgeschichtensammlungen „Wie Berenike auf die Vernissage kam“, „ Wie die Murmeltie- re murmeln lernten“, „Trüffelschweine im Kartoffel- acker“, „Die Sau im Porzellanladen“; die Zitatensamm- lung „Jahrtausendworte – in die Gegenwart gespro- chen“; die Inschriftensammlung „Roms sprechende Steine“ (4. Auflage 2012, sämtlich im Verlag Philipp von Zabern, Mainz/Darmstadt).
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